Wir Menschen brauchen Resonanz: in unseren Beziehungen untereinander und in unserer Beziehung zur natürlichen Umwelt. – Foto: Gerd Altmann/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Den Beschleunigungszwang überwinden“

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Immer schneller, immer weiter, immer höher – so lautet ein Kernprinzip unserer Gesellschaft. Es prägt quasi alle Lebensbereiche. Ein deutscher Sozialwissenschaftler beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Phänomen und versucht, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Sein neues Buch trägt den etwas seltsam anmutenden Titel „Die Resonanzstrategie“.

Interview mit Prof. Dr. Fritz Reheis

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Reheis, was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben?

Prof. Dr. Fritz Reheis: Entschleunigung klingt sympathisch – aber wie soll das gehen, wenn fast alles schneller werden muss? Diese Frage wurde mir seit Mitte der 1990er-Jahre immer wieder gestellt. Zwar hat sich alles, was ich damals über unseren zerstörerischen Umgang mit Zeit prognostiziert habe, inzwischen bewahrheitet. Vieles ist sogar noch schlimmer geworden – siehe Klimawandel, Artensterben und Zwangsmigration. Aber mit der damals geforderten Entschleunigung habe ich nur die grobe Richtung markiert. Jetzt wurde es Zeit, die Alternative zum ziellosen „Schneller, Höher, Weiter“ zu konkretisieren.

Wie sieht die Alternative aus?

Die generelle „Entschleunigung“ kann uns nicht retten. Die Energie- und Verkehrswende, die Überwindung der Armut und die Abrüstung müssen beschleunigt werden. Es geht um angemessene Geschwindigkeiten. Wer nach ihnen sucht, muss sich zeitliche Passungsverhältnisse genauer ansehen: die Synchronisation von Prozessen und Veränderungen. Und dann ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur Resonanz. Resonanz ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das gilt auch für unser Verhalten als Menschen – gegenüber der natürlichen Umwelt, der sozialen Mitwelt und uns selbst.

Der Untertitel Ihres Buchs heißt „Warum wir die Nachhaltigkeit neu denken müssen“. Wie ist das gemeint?

Das Wort „nachhaltig“ ist inzwischen zur Worthülse verkommen. Meist wird es für die Werbung instrumentalisiert, zum Zweck des Green-Washing. Aber auch in Politik und Wissenschaft wird ständig von Nachhaltigkeit gesprochen. Typischerweise werden dann die jeweils thematisierten Probleme zwischen Ökonomie, Ökologie und Sozialem hin und her geschoben. Die herrschende Drei-Säulen-Theorie der Nachhaltigkeit ist aber zutiefst ideologisch. Sie rechtfertigt den herrschenden Verschiebebahnhof der Verantwortung, ohne eine überzeugende theoretische Grundlage zu haben. Eine solche Grundlage erhält man erst, wenn man die im Nachhaltigkeitsbegriff implizierte Zeitdimension ernst nimmt. Wir müssen fragen, unter welchen zeitlichen Bedingungen unser Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, die Organisation unserer Wirtschaft und das soziale Miteinander auf Dauer durchhaltbar sind.

Was meinen Sie mit Resonanz?

Resonanz heißt wortwörtlich übersetzt „Mitschwingen“. Wir sind als Menschen durch und durch auf Resonanz angewiesen: Wenn wir uns anderen Menschen mitteilen, erwarten wir Verständnis. Wenn wir uns anstrengen Anerkennung, wenn wir lieben Gegenliebe. Resonanz ist auch für unsere Beziehungen zur natürlichen Umwelt unverzichtbar. Auch hier erwarten wir, dass sie uns, wenn wir sie pfleglich behandeln, einen sicheren Raum zum Leben und Früchte als Nahrung bietet. Und auch beim Umgang mit uns selbst erhoffen wir Resonanz. Wenn wir eine Entscheidung getroffen und entsprechend gehandelt haben, wollen wir uns hinterher besser fühlen, unser Leben soll „stimmig“ sein. Kurz: Immer soll etwas zurückkommen, wenn wir aktiv geworden sind, wir wollen uns als selbstwirksam erleben. Aber – und das ist beim Resonanzbegriff entscheidend: Wir können uns in aller Regel nicht wirklich sicher sein, ob wir unser Ziel erreichen. Während man einzelne isolierte Prozesse und Veränderungen relativ gut synchronisieren kann, ist es in der Realität angesichts der Vielzahl der Einflussfaktoren sehr oft nicht sicher, ob am Ende das geschieht, was man sich erhofft. Resonanz ist letztlich unverfügbar.

Was ist eine Resonanz-Strategie?

Eine Strategie ist ein Konzept für planvolles praktisches Handeln. Während der Soziologe Hartmut Rosa das Resonanzphänomen analysiert, ohne daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, entwickle ich in meinem Buch ein Konzept, wie wir das herrschende Fortschrittsmantra aufheben und damit Nachhaltigkeit ernst nehmen können. In diesem Konzept wird zugleich beim individuellen Verhalten und bei den strukturellen Verhältnissen angesetzt. Ich entwickle eine Matrix, die die Ebenen der natürlichen Umwelt, der sozialen Mitwelt und der personalen Innenwelt mit den Instrumenten Lebensstil, Politik und Wirtschaftsordnung verknüpft. Diese Matrix sorgt dafür, dass erwünschte Resonanzen auf allen Ebenen zumindest wahrscheinlicher werden. Garantien gibt es nicht.

Wo und wie sollte man damit anfangen?

Mit dem zeitbewussten Lebensstil kann jeder sofort beginnen. Für die zeitbewusste Politik brauchen wir etwas länger, weil sie in einer Demokratie Mehrheiten erfordert. Und der Umbau unserer Wirtschaftsordnung in eine zeitbewusste Wirtschaft, die ohne den Zwang der Politik von sich aus die zeitlichen Bedürfnisse der Menschen und die zeitlichen Erfordernisse der Natur berücksichtigt, kann nur als langfristiges und globales Projekt erfolgen.

Wie kann das Wirkung entfalten?

Die Resonanzstrategie hat meines Erachtens aus zwei Gründen ein großes Potenzial: Erstens ist sie emotional attraktiv, weil sie nicht mit Verzichtsappellen arbeitet, sondern unser tiefes Bedürfnis nach Resonanz anspricht und uns die Möglichkeit eines neuen Wohlstandsverständnisses eröffnet. An die Stelle des endlichen Güterwohlstands könnte der unendliche Zeitwohlstand treten. Zweitens ist die Resonanzstrategie auch in politischer Hinsicht gut anschlussfähig. Sie ist nämlich konservativ und revolutionär zugleich. Konservativ, weil sie auf das Bewahren dessen zielt, was uns lieb und teuer ist. Und revolutionär, weil mit ihrer Hilfe die Herrschaft des Geldes über die Welt beendet werden kann. An die Stelle der Formel „Zeit ist Geld“ tritt dann die Formel „Zeit ist Leben“. Oder als Metapher formuliert: Hinter dem Lärm des Geldes wird die Symphonie des Lebens hörbar.

Herr Prof. Reheis, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Buchtipp

Fritz Reheis
Die Resonanzstrategie
Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen
oekom, März 2019
416 Seiten, 26.00 Euro
978-3-96238-052-6