Werbematerial der AfD: Bierdeckel mit Schlagwort „Heimat“ – Screenshot: www.wir-lieben-deutschland.de

Gesellschaft & Kultur

„Wir sind gewissermaßen AfD-krank“

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Die politische Rechte versucht seit jeher, Heimat für sich zu vereinnahmen und zu instrumentalisieren. Warum macht sie das? Inwieweit gelingt ihr das? Und ist das für ihren Aufstieg überhaupt wichtig oder hat der eher andere Ursachen? Ein Journalist beschäftigt sich seit Langem mit diesen Fragen.

Interview mit Christian Schüle

 

ÖkologiePolitik: Herr Schüle, hat der Aufstieg der AfD mit einem Verlust an Heimat zu tun?

Christian Schüle: Die AfD triggert durchaus geschickt ein diffuses Gefühl von Kontrollverlust und Verlustangst. Niedergangssorgen der Bürger werden ja seit Jahren nicht wirklich ernst genommen oder in die weinerlich-rechte Ecke verfrachtet. Und jetzt plötzlich sehen wir permanent Demonstrationen, hören wir von Entlassungen, lesen wir vom Ruin mittelständischer Betriebe, verstehen wir die Konsequenzen des gigantischen Strukturwandels in der Transformation und nehmen die teils eminenten Folgen der Migration wahr. Manche Bürger überfordert das, manch andere macht das Gefühl von Ohnmacht wütend. Wer mit ungesteuerter Zuwanderung, dem vermutlichen Wohlstandsverlust, der gefühlten Einschränkung seiner Lebenschancen und den Veränderungen im eigenen Nahraum nicht einverstanden ist, findet in Zeiten, in denen die innere Heimat verloren zu gehen droht und die äußere bedroht scheint, außer der AfD offenbar nirgends sonst eine politisch-gesellschaftliche Beheimatung.

Warum gelingt es der politischen Rechten so einfach, den Begriff „Heimat“ zu vereinnahmen und für sich zu instrumentalisieren?

Mit dem Begriff „Heimat“ lässt sich durch ein Fingerschnippen all das aufrufen, was unser bisheriges Leben so lange berechenbar gemacht hat und nun sehr plötzlich und in großer Beschleunigung abhanden zu kommen scheint: Tradition, Familie, christlicher Glaube, die überschaubare Ordnung, die Struktur des gewohnten Alltags. Die technologische Revolution durch Social Media, künstliche Intelligenz und Robotik ist atemberaubend und nimmt keinerlei Rücksicht auf irgendwen. Heimat ist ja immer schon das Versprechen auf Geborgenheit und einen Geborgenheitsraum, der auch eine spirituelle Komponente hat: Vertrauen durch Vertrautheit. Heimat verstand sich von selbst und stand im ständigen Wandel als Einziges nicht zur Disposition. Jetzt erleben wir die permanente sozial-ökologische Transformation und eine Veränderungs-Verordnung vonseiten der Politik sowie eine Veränderungs-Erschöpfung aufseiten der Menschen. Das geht einher mit der politisch und kulturell vorangetriebenen Auflösung der berechenbaren Ordnung bezüglich Geschlecht, Sprache und dem Gefühl nationaler Verbundenheit. Diese Entkernung, diese Dekonstruktion von Identität treibt viele Menschen in eine ideelle Heimatlosigkeit. Man kann es blöd finden, aber: Der Mensch will stolz sein. Die politische Rechte appelliert genau an dieses Gefühl der inneren Leerstelle und bietet einerseits eine Art Notwehr und Widerstand gegen einen Teil der Veränderungen an, andererseits das Versprechen auf Rückkehr zur Überschaubarkeit, was natürlich Spiegelfechterei ist. Und reaktionär dazu.

Neben dem rechtsidentitären Denken boomt auch das linksidentitäre. Hängt das ebenfalls mit einem Verlust an Heimat zusammen?

Identität und die Suche nach Zugehörigkeit sind die Kernsehnsüchte offenbar sehr vieler reichlich verunsicherter Menschen. In rechter wie linker Identitätspolitik geht es um Konstruktionen und Konzepte einer eigenen Realität und partikularen Identität durch Zugehörigkeit zu einer spezifisch ideologischen Gruppe, die alles andere jeweils ausschließt. Das alte klassische Linke war ja ursprünglich der ökonomische Klassenkampf, Aufstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Als es in diesem Sinne keine Arbeiter mehr gab und Facharbeiter wohlhabender als Mittelständler waren, wurde linkes Denken erweitert auf die Emanzipation aller unterdrückten Minderheiten, die keine Stimme hatten: Trans, Queer, Migranten. Genau das bedroht wiederum die Identität der Rechten. Im Grunde ersehnen extrem rechts wie extrem links Gesinnte eine Leitkultur: Für die Rechten ist sie nationalistisch-homogen, bisweilen völkisch, für die Linken egalitär und globalistisch.

Hat das 2018 von Horst Seehofer gegründete Heimatministerium bislang völlig versagt?

Gemessen an seinen selbsterklärten Zielen sicherlich ja, denn von den hehren Ideen ist nichts übrig. Die aktuelle Innenministerin Nancy Faeser hat ja nun auch völlig andere Ziele, Prioritäten und ideologische Überzeugungen. Als Horst Seehofer im Bund anfing, ging es – wie auch schon im Bayerischen Heimatministerium weit früher – um die Aufwertung der Randzonen der Republik, um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Das fand ich gut und finde es immer noch wichtig. Aus Studien wissen wir, dass Menschen, die ihre Arbeit, Biografie und Region als entwertet empfinden, zu Radikalisierung und Rückzug neigen.

Wie können wir aus dem Dilemma herauskommen?

Wenn ich das wüsste! Anzubieten hätte ich ein paar Vorschläge: Wir sind gewissermaßen AfD-krank. Jeden Tag wird auf diese Partei Bezug genommen. Bange sitzen alle wie das Kaninchen vor der Schlange und warten, was dieser oder jener AfDler wieder Empörenswertes sagt. Nun ist Empörung keine kluge Grundlage des Politischen. Und mittlerweile hassen offenbar alle nur noch – sehen Sie sich die Kommentare im Netz an! Und dann rufen diejenigen, die gegen Hass und Ausgrenzung auf die Straße gehen, wiederum zum Hass gegen jene auf, die sie ausgrenzen wollen. Ist das ernsthaft glaubwürdig? Will man die Demokratie stärken, muss man sie erweitern: durch Bürgerräte oder „Citizens‘-Assemblies“ etwa. Durch Mitsprache möglichst aller über die Mitgestaltung des heimatlichen Nahraums. Durch Einübung demokratischer Erlebnisse in Projekten von Schülern zur Gestaltung ihres Kiezes. Und natürlich durch Investitionen in frühkindliche Bildung. Es geht doch darum, Kinder von frühauf zu stärken und sie gegen extremistische Rattenfänger resilient zu machen. All das kostet Geld, ja, aber wo ein Wille, da ein Weg.

Herr Schüle, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Christian Schüle
In der Kampfzone
Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung
Penguin, März 2019
304 Seiten, 22.00 Euro
978-3-328-60080-0

Christian Schüle
Heimat
Ein Phantomschmerz
Droemer, Mai 2017
256 Seiten, 22.99 Euro
978-3-426-27712-6


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Christian Schüle
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www.t1p.de/ad0sy

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