Können virtuellen Realitäten Heimat sein? – Foto: Tumisu/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Die Heimat des Homo digitalis ist die Blase“

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Die Digitalisierung schreitet seit Jahrzehnten voran. Sie verändert unsere Wahrnehmung und unser Selbstverständnis. Positiv oder negativ? Welche Gefahren drohen für unsere Psyche, unser Verhalten und unsere Kultur? Kann die virtuelle Welt eine neue Heimat werden? Ein Journalist ging diesen Fragen nach.

Interview mit Ralf Hanselle

 

ÖkologiePolitik: Herr Hanselle, der Untertitel Ihres Buchs lautet „Obdachlos im Cyberspace“. Was meinen Sie damit?

Ralf Hanselle: Das Buch ist aus der Beobachtung entstanden, dass wir uns als Individuen zunehmend „entorten“. Die Digitalisierung mit all ihren unbezweifelbaren Vorzügen und ihren sofaweichen Appellen an die menschliche Bequemlichkeit hat ihre dunklen Seiten. Vor gut einem Jahrhundert hat der Philosoph Georg Lukács den Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ geprägt. Ihm ging es dabei noch um die Frage, wo sich der Mensch in Anbetracht der Entfremdungserfahrungen der Moderne verortet. Die aber hatte noch ein stahlhartes Gehäuse. Im Zeitalter der real existierenden Postmoderne muss man diese Frage also neu stellen. Denn längst scheint sich der Mensch von all seinen räumlich-zeitlichen Zusammenhängen gelöst zu haben. Wir können heute via Zoom- oder Teams-Meeting nicht nur zu jeder Zeit an jedem x-beliebigen Ort der Welt sein, wir bewegen uns in virtuellen Metaversen. Das führt zu einer paradoxen Situation: Während uns die realen Lebensbedingungen durch ökologische oder geopolitische Katastrophen wortwörtlich unter den Füßen wegbrechen, stecken wir mit dem Kopf hinter VR-Brillen und Smart-Glases und tun so, als gäbe es dort tatsächlich eine zweite Welt jenseits der Grundbedingungen unserer Existenz. Das führt zu dissoziativen Bewusstseinszuständen.

Wird der Homo digitalis auch heimatlos?

Die Heimat des Homo digitalis ist ja, so wird es zumindest gerne behauptet, die Blase. Eigentlich ein interessanter Begriff. Denn seit unseren frühesten pränatalen Erfahrungen sind uns Blasen als heimatliche Sphären vertraut. Der Uterus, das hat schon Peter Sloterdijk vor Jahren so beschrieben, ist in gewisser Weise die Ur-Blase und natürlich, wenn man den Regressionstheorien der Psychoanalyse glauben will, auch immer so etwas wie die ursprünglichste Heimat des Menschen. Im Gegensatz hierzu aber sind die neuen digitalen Blasen ohne Haut und Hülle. Weder sind es somit Schutzräume, die uns vor den Anfeindungen einer zunehmend feindlich erscheinenden Welt behüten, noch sind es Erinnerungs- oder Gedächtnisräume. Im Gegenteil: Schnell kann man heute sein digitales Interieur zusammenpacken und ummöblieren. Man muss nur einmal über einen Flatscreen wischen, schon ist man ganz woanders – an einem Ort, der einem so wenig Heimat sein dürfte wie der Ort zuvor. Wahre Heimat nämlich ist letztlich eine mit allen Sinnen wahrnehmbare Rückbindung der eigenen Existenz. Heimat ist Geruch, Lichteinfall, basale Berührung. Jeder, der schon einmal an einen Ort zurückgekehrt ist, den er Heimat nennen würde, wird dieses Gefühl kennen. Letztlich ist Heimat vielleicht das bis in jede Körperzelle zurückreichende Gefühl von Umhüllung und Behütung. Derlei kann die Digitalisierung natürlich nicht bieten. Für die digitale Heimatlosigkeit gibt es einen ganz einfachen und letztlich sehr banalen Grund: Die Digitalisierung hat keinen Körper. Glaubt man den äußerst fragwürdigen Ideologien des Transhumanismus, dann ist diese Überwindung der Körperlichkeit sogar das eigentliche Ziel des digitalen Fortschritts.

Warum braucht der Mensch überhaupt eine Heimat?

Zunächst natürlich, weil er als soziales Wesen Zugehörigkeit sucht. Zudem sucht er Erinnerungen – gerade in einer Wirklichkeit, die uns immer fluider und flüchtiger erscheint. Die Erinnerungen halten uns zusammen. Nur wer weiß, dass er rückverbunden ist, kann auch getrost und angstfrei vorwärtsschreiten. Vielleicht steckt in dieser Paradoxie ein existenzielles Grunddilemma: Der Mensch pendelt zwischen Aufbruch und Rückzug. Schon bei seinen ersten Krabbel- und Gehübungen ist er hin- und hergerissen: ein Schritt vor in die Welteroberung; ein Schritt zurück in Richtung Mutter- oder Vaterbindung. Übrigens ist auch diese Grundkonstellation bereits ein Raumerlebnis. Man kann es nicht digital simulieren; man muss es mit allen Sinnen erfahren – und zuweilen sogar erleiden.

Aber kann der Cyberspace nicht eine zusätzliche Heimat sein?

Das ist er ja längst. Und ich will da auch gar nicht zu viel Wasser in den Wein kippen. Doch bei aller verständlichen Begeisterung für den Fortschritt: Die Frage, wo wir uns im kybernetischen Weltraum mit seinen 33.000 Exabyte Daten als Mensch zukünftig verorten, wird nicht durch eine Google-Anfrage geklärt werden. Wir müssen uns nach wie vor selber aufmachen, um in einer digital erweiterten Welt weiterhin noch Heimat für uns selbst sowie für unsere grundlegenden Fragen, Sehnsüchte und Zweifel zu finden.

Herr Hanselle, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipp

Ralf Hanselle
Homo digitalis
Obdachlos im Cyberspace
zu Klampen, September 2023
128 Seiten, 16.00 Euro
978-3-98737-006-9


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