Foto: ÖDP Bundesverband

Bundesverband

An alle Mitglieder

Diesen Beitrag teilen

Liebe ÖDP-Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde,

wissen Sie etwas mit der Metapher „Heißer Herbst“ anzufangen? Falls nicht, hilft wie so oft der Blick in die Weiten des World Wide Web: Der Begriff „Heißer Herbst“ war das „Wort des Jahres 1983“, damals in Bezug auf die Massenproteste der Friedensbewegung gegen die Aufrüstung im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses. Es gab allerdings vorher bereits heiße Herbste, so vor genau 50 Jahren, als Massenstreiks und Studentenproteste in Italien von sich reden machten, und ebenso 1977, als der „Deutsche Herbst“, die Terrorwelle der RAF, mitunter als Heißer Herbst bezeichnet wurde. Schließlich machte letztmalig ein Heißer Herbst im Jahre 2009 von sich reden: Damals gingen europaweit Studenten auf die Straße, um gegen das Bildungssystem an den Hochschulen zu demonstrieren.

Nun, im Jahre 2019, steht uns möglicherweise der nächste Heiße Herbst bevor. Während ich diese Zeilen schreibe, protestieren in Berlin Anhänger der „Extinction Rebellion“. Sie blockieren Straßen und Plätze und fordern Sofortmaßnahmen gegen den Klimawandel. Die Reaktionen aus der Politik und aus der Bevölkerung sind geteilt, so wie bei allen vorhergegangenen Heißen Herbsten auch. Manche äußern Verständnis und Sympathie dafür, dass die Jugend nun in einer Art und Weise aufbegehrt, die auch an oder über die Grenzen unserer Rechtsordnung geht. Andere wiederum werfen den Aktivisten undemokratisches und schlimmstenfalls kriminelles Verhalten vor.

In meiner Brust schlagen in Bezug auf die „XR“-Bewegung zwei Herzen. Einerseits kann ich sehr gut nachvollziehen, dass bei einem Teil der besonders engagierten Umwelt- und Klimaschützer die Geduld mit der europäischen Politik am Ende ist. Sonntagsreden auf der einen Seite, minimale Klimaschutz-„Pakete“, die bei der Deutschen Post allenfalls den Status eines Maxibriefes erreichen würden, auf der anderen Seite. Das dabei aufkommende Gefühl hat der Liedermacher Ludwig Hirsch eindrucksvoll schon in den 1980er-Jahren beschrieben:
„Und da hab ich’s wissen woll’n und habe / Meine Gitarre gestimmt / Bin raus auf die Straße vor die Betonmauernwand / Und ich hab g’sungen so ehrlich und so schön/ Wie ich kann / Und so gehofft / Dass die Mauer dazu tanzt./ Und auf einmal / Da is mir ins Hirn eineg‘fahren / Es ist zu wenig / eine Gitarre in der Hand!“

Andererseits könnte die zu beobachtende Radikalisierung unserer gemeinsamen, weil existenziellen, Sache auch großen Schaden zufügen. Viele Menschen sind bereits jetzt verunsichert, was im Rahmen immer neuer Klimaschutzmaßnahmen denn noch auf sie zukommen könnte. Es ist viel von Verzicht die Rede, vom Abgeben, von Einschränkung. Und wenn jetzt Jugendliche sich auf Kreuzungen setzen, dann schränkt dies die Mobilität derer ein, die überwiegend nur an ihren Arbeitsplatz kommen wollen. Solche Zukunftsaussichten verursachen Stress und Ängste. Und wer Angst hat, verteidigt oft blindlings den Status quo. Genau dies darf uns aber nicht passieren. Der Wandel hin zu einer wahren „Postwachstumsgesellschaft“ führt nicht zwingend über Beschränkung, Askese und materielle Armut. Im Gegenteil, wir haben NOCH die Chance, dass dieser Umbau uns nur von vielem Unnützen und Schädlichen befreit, was sich angesammelt hat, ohne dass wir das in Wirklichkeit wollten. Und auf das wir folglich sehr gut verzichten können, da es uns Perspektiven eines viel besseren Lebens eröffnet, und damit der Verzicht mit hohem persönlichen Gewinn verbunden sein kann.

Mit solchen Aussichten könnte es gelingen, alle Menschen mitzunehmen, auch die radikalen Weltverbesserer. Die ÖDP wird sich in den kommenden Herbst- und Wintermonaten mit entsprechenden Konzepten namhafter Wissenschaftler befassen, um mit allen im Dialog zu bleiben. Am Ende singen wir vielleicht gemeinsam Lieder vor Betonmauern und bringen diese damit nicht nur zum Tanzen, sondern zum Einsturz.

Es grüßt Sie herzlich

Christoph Raabs
Bundesvorsitzender