„Eine Meinung zu haben, ist keine Kunst“
14. Dezember 2017
Das im Juli 2017 erschienene Buch „Tierversuche verbieten?“ stellt auf 200 Seiten ausführlich die Pro- und Contra-Argumente zum Thema dar. Es handelt sich dabei nicht um ein Einzelwerk, sondern um den ersten Band einer geplanten Buchreihe mit dem Titel „Gute Argumente“. Der Autor erläutert die Hintergründe, seine Motivation und seine Pläne.
Interview mit Matthias Dietrich
ÖkologiePolitik: Herr Dietrich, welche Idee steckt hinter Ihrem Projekt?
Matthias Dietrich: Es geht bei der Buchreihe darum, in jedem Band eine aktuelle politische Streitfrage unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten, sodass sich die Leserinnen und Leser eine eigene Meinung bilden können.
Warum ist Ihnen das so wichtig, dass Sie gleich eine ganze Buchreihe herausgeben wollen?
Wir werden heutzutage von der Vielzahl an Informationen aus den verschiedensten Quellen geradezu erschlagen. Man sollte meinen, dass sich die Informationsflut positiv auf die politische Bildung auswirkt, doch das ist gewöhnlich nicht der Fall. Erstens handelt es sich bei den meisten Informationen, wie sie gerade von den Zeitungen verbreitet werden, nicht um sorgfältige Analysen, sondern um schnell und oberflächlich zusammengeschriebene und häufig auch von Presseagenturen übernommene Meldungen zum aktuellen Tagesgeschehen. Der ständige Konsum von Wissenshäppchen oder Halbwissen führt aber nicht zu Bildung, sondern zu Einbildung – zur Einbildung, sich über alles Mögliche eine Meinung bilden zu können. Tatsächlich gehört zur Meinungsbildung aber viel mehr: Man muss nicht nur die Fakten zu einer Streitfrage oder zu einem Thema kennen, sondern auch die Zusammenhänge. Die meisten Medien bieten einem aber gefilterte Informationen: Bestimmte Gesichtspunkte werden breitgetreten, andere ganz unter den Tisch fallen gelassen. Nur selten werden die verschiedenen Argumente, die für eine fundierte Meinungsbildung unerlässlich sind, unvoreingenommen dargestellt und beleuchtet.
Was ist denn der Unterschied zwischen einer Meinung und einem Argument?
Eine Meinung zu haben, ist keine Kunst, überzeugend zu argumentieren dagegen schon. Eine Meinung ist im Prinzip das, was jemand zu einem Sachverhalt oder zu einer Streitfrage denkt. Das Gedankengut kann gut begründet sein, muss es aber nicht. Häufig wird die eigene Meinung ohne ausreichende Kenntnis der Fakten und Zusammenhänge einfach rausposaunt. Und die Presse stürzt sich auf alles, was knackig formuliert ist, weil sich damit Schlagzeilen und spannende Artikel produzieren lassen. Denn Schlagzeilen und spannende Artikel bringen Quote und eine höhere Auflage und damit mehr Werbeeinnahmen. Darum geht es meist, nicht um fundierte Wissensbildung. Ein Argument muss im Gegensatz zur Meinung auf Fakten gründen. Und die Fakten müssen nachprüfbar sein, was bedeutet, dass eine Quelle angegeben werden muss. Nicht jede Quelle ist zuverlässig. Wer sich eine fundierte Meinung bilden will, bedarf möglichst vieler guter – d. h. gut belegter – Argumente. Gerade bei den heißen Streitfragen können sich diese aber durchaus sehr widersprechen. Nimmt man sie alle ernst und wägt sie ab, dann ergibt sich oft ein differenziertes Bild. Dementsprechend gestaltet sich dann auch die eigene Meinung differenziert.
Erhält man denn nicht auch durch das Lesen politisch verschieden ausgerichteter Zeitungen oder Zeitschriften ein differenziertes Bild?
Das ist sehr schwierig. Selbst wenn ich verschiedene Meinungen zu lesen bekomme, weiß ich ja noch nicht, welche der Meinungen richtig ist. Nehmen wir das Beispiel der Tierversuche: Lese ich einen Artikel von Tierschützerinnen und Tierschützern, dann ist gewöhnlich der Tenor, dass sich Tierversuche nicht auf Menschen übertragen lassen und tierversuchsfreie Ersatzmethoden die Tierversuche überflüssig machen. Lese ich einen Artikel aus dem Bereich der Forschung, dann heißt es, dass die Tierversuche unerlässlich sind, weil die tierversuchsfreien Ersatzmethoden nicht aussagekräftig genug sind. Und dann lese ich vielleicht noch einen Artikel über Arzneimitteltests an Menschen mit dem Tenor, dass ohne Tierversuche diese Tests noch gefährlicher werden. Wie soll ich mir nach dem Lesen der drei Texte eine fundierte Meinung bilden? Soll ich sagen, dass die Wahrheit in der Mitte liegt? Dann bliebe offen, was denn genau die Mitte sein soll. Außerdem wäre von vornherein ausgeschlossen, dass eine der beiden Seiten recht und die andere unrecht hat. Oder soll ich der Mehrheitsmeinung folgen? Weil zwei Artikel die Notwendigkeit von Tierversuchen betonen und einer die Tierversuche für überflüssig hält, würde es 2:1 für die Tierversuche stehen. Das Lesen einer Vielzahl von Meinungen ist zwar interessant, jedoch ist es zeitaufwendig und führt häufig zu Achselzucken nach dem Motto: Man kann es so oder so sehen.
Wie sollte man sich denn eine eigene Meinung bilden?
Es ist nicht effizient, sich verschiedene Meinungen durchzulesen. Wie gesagt: Entscheidend ist, ob die Argumente stichhaltig sind. Meinungen sind zweitrangig. Meine Aufgabe als Autor ist es, die Streitpunkte genau zu erfassen und herauszuarbeiten, welche Argumente zu den verschiedenen Sichtweisen führen. Das muss in möglichst allgemeinverständlicher Sprache erfolgen. Als Theologe und Historiker bin ich in dem Bereich Tierversuche zwar sachfremd und kann daher nicht jedes Detail verstehen und jede Aussage daraufhin überprüfen, ob sie stichhaltig ist. Allerdings habe ich wissenschaftliches Arbeiten gelernt und kann schon abschätzen, ob eine Begründung wirklich durchdacht ist. Entscheidend ist, dass ich mit Praktikerinnen und Praktikern spreche. Im Falle der Tierversuche waren es also diejenigen Personen, die mit einem ganz bestimmten Ziel die Tierversuche durchführen, und diejenigen, die tierversuchsfreie Alternativmethoden entwickeln. In diesen Gesprächen merkt man dann schnell, wo genau die Schwierigkeiten liegen und was wir von den tierversuchsfreien Ersatzmethoden derzeit erwarten können.
Welche Rolle hat das Internet bei Ihren Recherchen gespielt? Lässt sich dort alles Notwendige finden?
Im Hinblick auf die Beantwortung von politischen Streitfragen wie „Tierversuche verbieten?“ ist das Internet eine wertvolle Informationsquelle – und nutzlos zugleich. Um dieses Paradox zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, worin die Unterschiede zwischen alltäglicher Internetrecherche und der Recherche zu einer politischen Streitfrage liegen. Gewöhnlich wird im Alltag nach ganz konkreten Informationen gesucht. Auch stößt man beim Surfen immer wieder auf etwas, was einem weiterhilft. Wenn ich also beispielsweise wissen will, wie viele Tierversuche im Jahr 2016 durchgeführt wurden, dann werde ich im Internet gewöhnlich fündig. Eine Recherche für eine politische Streitfrage wie „Tierversuche verbieten?“ ist jedoch völlig anders beschaffen. Will ich diese beantworten, muss ich nämlich zunächst Antworten auf eine Vielzahl von Einzelfragen finden: Was ist ein Tierversuch? In welchen Bereichen werden Tierversuche durchgeführt? Wann sind Tierversuche erlaubt? Und so weiter. Zu vielen Fragen finde ich im Internet Antworten. Je tiefer ich jedoch in die Materie eindringe und je komplexer die Sachverhalte werden, desto stärker lässt mich das Internet im Stich. So stelle ich fest, dass eine Quelle unzuverlässig ist, Sachverhalte verkürzt, unklar oder sogar falsch dargestellt werden oder ich gar nichts finde. Überhaupt muss ich schon einiges wissen, um die richtigen Fragen stellen und die richtigen Suchbegriffe eingeben zu können. Man kann es im Falle meiner Recherche so ausdrücken: Das Grundgerüst an Informationen habe ich mir über das Internet, aber auch über Bücher und Zeitschriftenartikel besorgt. Die Klärung von Detailfragen und Zusammenhängen erfolgte durch persönliche Gespräche. Eine solche Vorgehensweise ist etwas völlig anderes, als wenn ich einfach nur im Suchfenster die Begriffe „Tierversuche“ und „verbieten“ eingebe und mir dann die obersten Treffer anschaue.
Was würde dann passieren?
Dann würde ich ein paar unsortierte allgemeine Informationen bekommen, außerdem einige Meinungen mit im Normalfall oberflächlichen und einseitigen Begründungen. Ich würde sie mir durchlesen und am stärksten das beachten und gewichten, was meinem eigenen Weltbild am meisten entspricht. Das nennt sich „selektive Wahrnehmung“. Diejenige Meinung oder Information, die mir am meisten zusagt, würde ich dann in den sozialen Netzwerken verbreiten. So würde ich dann Stimmung machen; mit sorgfältiger Argumentation und Meinungsbildung hätte das aber nichts zu tun.
War die Arbeit an Ihrem ersten Buch so, wie Sie sich das erwartet haben? Oder gab es Überraschungen?
Ich bin zunächst davon ausgegangen, dass es zwei Fronten gibt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen: auf der einen Seite diejenigen, die Tierversuche für ihre Arbeit oder Forschungszwecke durchführen; auf der anderen Seite diejenigen, die tierversuchsfreie Ersatzmethoden entwickeln. Erstere würden – so meine Annahme – Tierversuche für unverzichtbar halten, letztere nicht. Insbesondere bei von Tierschutzverbänden preisgekrönten Forscherinnen und Forschern erwartete ich ein besonders deutliches Plädoyer gegen Tierversuche. Umso verblüffter war ich, als die Gespräche ein sehr differenziertes Bild zutage förderten. Diejenigen, die tierversuchsfreie Ersatzmethoden entwickeln, äußerten sich meist nur ganz konkret zu ihrem Arbeitsbereich und meinten auf die Frage, ob man Tierversuche verbieten solle, keine pauschale Antwort geben zu können. Will sagen: Wer tierversuchsfreie Ersatzmethoden für die Prüfung der Giftigkeit von Chemikalien entwickelt, ist mit der eigenen Meinung im Hinblick auf die Krebsforschung sehr vorsichtig. Es wurde also von den Forscherinnen und Forschern stark differenziert und es wurden auch recht präzise die Chancen, aber auch Grenzen der bisher entwickelten tierversuchsfreien Ersatzmethoden beschrieben. Dass die Grenzen zwischen denjenigen, die Tierversuche für notwendig erachten, und denjenigen, die sie für überflüssig halten, so verschwommen sind, war für mich die größte Überraschung.
Was haben Sie aus dem ersten Buch für die weiteren Bücher gelernt?
Insbesondere zwei Dinge: Zum einen lassen sich Streitfragen nicht allein unter theoretischen Gesichtspunkten beantworten. Das Gespräch mit Personen, die praktisch mit der Materie zu tun haben, ist unerlässlich. Dabei müssen in den Gesprächen aber auch immer wieder Gegenargumente auf den Tisch. Zu beobachten, wie jemand auf die Gegenargumente eingeht, ist sehr erhellend. Kanzelt jemand diese nur einfach oberflächlich als Unsinn ab, dann schrillen bei mir die Alarmglocken. Wer mit seinen Argumenten und seiner darauf gründenden Meinung überzeugen will, muss in der Lage sein, Gegenargumente präzise und kompetent zu entkräften. Ich selbst muss – und das ist der zweite Punkt, den ich gelernt habe – in diesen Gesprächen ganz unvoreingenommen sein. Die Unvoreingenommenheit ist ein entscheidender Grundsatz, will ich die verschiedenen Argumente wirklich verstehen und einordnen. Nur unvoreingenommen kann ich das Vertrauen der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gewinnen und hinsichtlich der jeweiligen Streitfrage zu einer fundierten Antwort kommen.
Warum das Thema „Tierschutz“ am Anfang? Welche Themen wollen Sie als nächstes angehen?
Die Voraussetzung für eine Publikation ist, dass sie sich finanziell trägt. Das bedeutet, dass Themen bzw. Streitfragen gewählt werden, die wirklich aktuell und umstritten sind. Über 200.000 Menschen haben den Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ bei Facebook mit „Gefällt mir“ markiert. Das bedeutet, dass die Tierversuche vielen Menschen am Herzen liegen. Auch gibt es emotionale Debatten darum, auch innerparteiliche. Insofern erfüllt die Streitfrage „Tierversuche verbieten?“ die Voraussetzungen. Ursprünglich war das Buch als Start einer auch optisch ansprechenden Zeitschrift geplant. Die Erstellung einer solchen ist jedoch sehr kostenintensiv. Wer über Jahre hinweg eine solche Zeitschrift herausbringen will, muss schon einiges an Geldmitteln zusammenbringen. Diese Hürde war leider zu hoch. Und eine Veröffentlichung im Internet kam nicht infrage, weil keine dem Aufwand angemessenen Einnahmen zu erwarten waren. Daher ist es letztendlich ein Buch geworden. Aber auch die Buchreihe „Gute Argumente“ wird nur dann fortgesetzt werden können, wenn sie über Käufe, gute Rezensionen, Mund-zu-Mund-Propaganda usw. ausreichend Unterstützung erfährt. Auch die Erstellung eines inhaltlich aufwendig recherchierten Buches ist nämlich sehr zeit- und kostenintensiv. Sollte es wirklich zu Folgebänden kommen, was großartig wäre, dann kämen viele weitere spannende politische Streitfragen infrage. Mich selbst würde besonders die Streitfrage „Ständiges Wirtschaftswachstum – alternativlos?“ reizen. Sehr aktuell und reizvoll finde ich auch die Streitfragen „Aus der NATO austreten?“ oder „Wolf und Bär – Gefahr oder Bereicherung?“. Letztendlich ist aber nahezu jede Streitfrage spannend, wenn man sich intensiv mit ihr befasst.
Herr Dietrich, herzlichen Dank für das interessante Gespräch und viel Erfolg!
Buch
Matthias Dietrich
Tierversuche verbieten?
Gute Argumente
Eryn, Juli 2017
200 Seiten, 12.00 Euro
978-3-946962-06-9