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Erhellendes über Fußball

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Fußball gilt als „die schönste Nebensache der Welt“. Und die sollten wir auch genießen. Was wir nicht sollten: die Logik des Fußballs verinnerlichen und auf andere oder gar alle Lebensbereiche übertragen. Warum? Darüber hat Ansgar Mohnkern, Literaturwissenschaftler und bekennender Fan des 1. FC Kaiserlautern, ein interessantes Buch geschrieben.

von Günther Hartmann

 

Fußball ist bekannt, aber noch nicht richtig erkannt. Und bei genauem Hinschauen gibt es tatsächlich viel zu entdecken. Denn zum einen ist unsere Fußballkultur ein Abbild unserer Gesellschaft, zum anderen beeinflusst sie unser Denken und prägt damit wiederum unsere Gesellschaft. Unsere Fußballkultur lebt von Gewohnheiten und Ritualen – und erfüllt damit in hohem Maß die Kriterien eines Mythos: „Geschichtliches“ wird in „Natur“ verwandelt, erhält den Anschein von etwas „Ewigem“.

Ansgar Mohnkern geht dem auf den Grund. Er liest Fußball auch als „ideologische Praxis“. Was ihm missfällt: Der Fußball produziert unerbittlich Sieger und Verlierer – zwar nicht in jedem Spiel, aber in jedem Wettbewerb. Das führt dann leicht dazu, dass dies als ein universelles Grundprinzip aufgefasst wird. „Doch der Zwang, Sieger und Verlierer zu produzieren, stellt bloß eine geschichtliche Konvention dar“, betont Mohnkern. Das sollten wir nie vergessen. Deshalb dieses Buch.

 

Leistungsprinzip ersetzt Zufallsprinzip

Noch 1965 wurde das Viertelfinale des Europacups der Landesmeister zwischen dem 1. FC Köln und dem FC Liverpool nach zwei 0:0 und einem 2:2 durch Münzwurf entschieden. Das Zufallsprinzip wurde anschließend als völlig ungerecht und unzeitgemäß kritisiert. Es widersprach dem Leistungsprinzip. „Es kollidiert mit den ideologischen Grundvoraussetzungen eines Zeitalters, in dem die Individuen, Gruppen und sportlichen Mannschaften jeweils selbst als ‚ihres Glückes Schmied‘ zu gelten haben“, deutet Mohnkern dies.

Um den Zufall durch Leistung zu ersetzen, wurde 1970 das Elfmeterschießen eingeführt. Das erste große Turnier, das dadurch entschieden wurde, war die Europameisterschaft 1976. Uli Hoeneß wurde zum „tragischen Helden“, als er den entscheidenden Ball in den Belgrader Nachthimmel schoss. Für Mohnkern ist das ein symbolisches Bild für den aufkommenden Neoliberalismus: Dem Individuum wird nun plötzlich sehr viel mehr Verantwortung abverlangt. Die Angst vor dem Versagen breitet sich aus und führt zum Versagen. Im entscheidenden Moment scheitert nicht die Mannschaft, sondern der Einzelne.

 

Gewöhnung an Klassen und an Wettbewerb

Jedes Spiel ist für Mohnkern auch „eine Art wiederholter Urszene, in der nichts anderes zur Aufführung kommt als die Geburtsstunde dessen, was sich in nüchterner Sprache wohl am einfachsten als die Entstehung von Ungleichheit benennen ließe“. Jedes Spiel ist „eine mentale Einübung in ein System, das zunehmend als natürliche Ordnung erscheint“. Die inflationäre Vielzahl an Spielen raubt dabei den Menschen auch noch etwas Wertvolles, über das sie aber nur in begrenztem Ausmaß verfügen: Zeit.

Vor allem aber gewöhnt der Fußball an einen Wettbewerb in Form von Ligen. Nicht die kleinen Clubs kämpfen gegen die großen, sondern die kleinen Clubs kämpfen gegeneinander. So werden zwei „Gewissheiten“ erzeugt und in jeder Saison aufs Neue eingeübt: dass unsere Welt in Klassen eingeteilt ist. Und dass sie ein ewiger Wettbewerb ist. Durch die Möglichkeit von Auf- und Abstieg wird die Illusion einer Durchlässigkeit erzeugt, einer offenen Gesellschaft. In Wirklichkeit aber hat sich eine Fußballoligarchie entwickelt. Und durch die absurd hohen Fernseh- und Sponsorengelder wird der Abstand zwischen oben und unten immer größer.

 

Sentimentale Romantik statt Veränderung

In den Betrachtungen zu seinem Lieblingsclub, dem 1. FC Kaiserlautern, kritisiert Mohnkern dessen Rückwärtsorientiertheit. Die Vereinsikone Fritz Walter steht für den Fußball der 1950er-Jahre. Dass es von ihm so gut wie keine Filmaufnahmen gibt, nicht einmal vom WM-Endspiel 1954 gegen Ungarn, stärkt den Kult um ihn sogar noch. Statt von konkreten Spielen und Aktionen lebt seine Aura von Charaktereigenschaften, die er vorlebte: Bescheidenheit, Heimatverbundenheit, Freundschaft, Kameradschaft und Gemeinschaft.

„An der Verklärung Fritz Walters nähren sich die Sehnsüchte jener, die einem um sich greifenden Regime des Neuen hilflos gegenüberstehen“, diagnostiziert Mohnkern. Im Kult um Fritz Walter lebt für ihn die vage Vorstellung von einer alten und irgendwie „echteren“ Bundesrepublik fort.

„Die Fußballfeste, die die Traditionalisten in Kaiserlautern feiern, arbeiten auf der Ebene diffuser Impulse gegen das Falsche und Ungerechte der Gegenwart an“, erklärt Mohnkern. Und kritisiert: „Aber sie drängen darin nicht auf konkrete gesellschaftliche Veränderung. Vielmehr berauschen sie sich an einer sentimentalen Romantik, wonach alle in den Dienst einer diffusen Rebellion treten, in der an dem mythischen Schauplatz Fritz-Walter-Stadion die ‚Großen‘ durch aufopferungsvollen Kampf den Freibeutern in die Hände fallen.“ Dieser immer wieder beschworene Mythos braucht die Ungerechtigkeit – und akzeptiert sie deshalb insgeheim.

Fazit des Buchs, auch wenn Mohnkern das nicht so schreibt: Wer gesellschaftliche Missstände nicht akzeptieren und etwas gegen sie tun möchte, der muss sich politisch engagieren.

 

Ansgar Mohnkern
Einer verliert immer
Betrachtungen zu Fußball und Ideologie
Turia + Kant, November 2023
154 Seiten, 20.00 Euro
978-3-98514-089-3


Onlinetipp

Interview mit Ansgar Mohnkern
„Vereine wie Kaiserslautern zehren von einer Welt, die es nicht mehr gibt“
RBB, 30.01.2024
www.t1p.de/mk1cu