Cancel Culture untergräbt Demokratie
3. Juni 2024
„Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen“, sagte einst Voltaire. Heute jedoch wird zunehmend versucht, andere Meinungen zu unterdrücken. Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin sieht darin eine Gefahr für Aufklärung und Demokratie – und beleuchtet das Phänomen in seinem neuen Buch gründlich.
von Günther Hartmann
Der Begriff „Cancel Culture“ bezeichnet die Praxis, unliebsame Meinungen zum Schweigen zu bringen, um deren Argumente aus dem öffentlichen Diskurs herauszuhalten. Am Ende des Buchs werden dafür 48 Fallbeispiele aufgeführt. Die Methoden der „Cancel Culture“ reichen von Diffamierung und Denunziation über den Internet-Shitstorm bis hin zu aggressiven Demos und tätlichen Angriffen. Für viele politische Akteure – vor allem Linksidentitäre – gehört das heute zum selbstverständlichen Repertoire. Nicht jedoch für Julian Nida-Rümelin. Er betont: „Eine wesentliche Voraussetzung der Demokratie ist, dass wir unterschiedliche Meinungen nicht nur aushalten, sondern bereit sind, im öffentlichen Vernunftgebrauch Gründe für und gegen bestimmte Auffassungen abzuwägen.“
Wettstreit der Argumente
Unsere rechtsstaatliche Demokratie hält Nida-Rümelin nicht für etwas Selbstverständliches, sondern für etwas mühsam Errungenes, Zerbrechliches und inzwischen auch Gefährdetes: „Wir haben jahrzehntelang den Fehler gemacht, darauf zu vertrauen, dass alles gut wird, solange die Institutionen funktionieren und die Wirtschaft läuft. Wie schnell demokratische Grundwerte erodieren können, sieht man in den USA. Dort ist die Zivilkultur inzwischen schwer beschädigt.“
Abseits der überhitzen Debatten analysiert Nida-Rümelin das Phänomen aus erkenntnis- und demokratietheoretischer Perspektive sehr nüchtern und sachlich, bezieht dann aber auch immer wieder klar Stellung: „Demokratie, die lediglich gelenkte und formatierte Informationen zulässt, verletzt das Recht auf Selbstbestimmung und gefährdet die epistemischen Grundlagen demokratischer Praxis.“ Es gehört zum Wesen der Demokratie, in den öffentlichen Debatten Argumente für unterschiedliche Positionen auszutauschen. Andere Meinungen sind dabei zu ertragen, Widersprüche auszuhalten, Konflikte auszutragen. Kritiker der eigenen Position sind als wichtige und ernstzunehmende Gesprächspartner zu betrachten, nicht als zu bekämpfende Feinde.
Vertrauen in die Vernunft
Nida-Rümelin erweist sich als ein Kenner der politischen Philosophie und der Grundsätze moderner Verfassungen. Er ist ein Anhänger unseres parlamentarischen Systems, plädiert aber auch für eine stärkere Einbindung der Bürger in die politischen Entscheidungen von der kommunalen bis zur staatlichen Ebene. Entscheidend ist dabei immer selbstständiges Denken, das Vertrauen auf die menschliche Vernunftfähigkeit und entschlossenes Verteidigen der demokratischen Prinzipien „gegen Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung“. Sonst droht ein Rückfall in Irrationalität und Inhumanität.
„Demokratie ist diejenige Staats- und Lebensform, die auf der kollektiven Selbstbestimmung der Freien und Gleichen beruht und politische Urteilskraft voraussetzt“, schreibt Nida-Rümelin am Ende seines Buchs. „Urteilskraft kann sich jedoch nur entfalten, wenn Gründe und Gegengründe angstfrei vorgebracht und abgewogen werden können. Wer glaubt, die besseren Argumente zu haben, sollte ihrer Wirkung vertrauen und nicht zu nicht-diskursiven Mitteln greifen. Nur wer sich seiner Sache nicht hinreichend sicher ist oder wem es lediglich um Machtausübung und nicht um die Klärung von Sachverhalten – empirischen wie normativen – geht, übt physische oder kulturelle Gewalt aus und gefährdet damit die Demokratie.“
Julian Nida-Rümelin
„Cancel Culture“ – Ende der Aufklärung?
Ein Plädoyer für eigenständiges Denken
Piper, Juli 2023
192 Seiten, 24.00 Euro
978-3-492-07179-6
Onlinetipps
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Focus, 30.07.2023
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