Postwachstum bedeutet eine grundsätzliche Umstellung unserer Wirtschaft und unseres Konsumverhaltens: weniger Überflüssiges, mehr zum guten Leben Notwendiges. – Foto: silviarita/pixabay.com

Wirtschaft & Soziales

„Das Lebensnotwendige ins Zentrum des Wirtschaftens stellen“

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Dass Wirtschaftswachstum zwar soziale Konflikte befriedet, dies aber auf Kosten anderer Staaten und künftiger Generation, betont diese Aktivistin der Postwachstumsbewegung. – Interview Nr. 8 in einer Reihe von 8 Interviews mit jeweils identischen Fragen.

Interview mit Andrea Vetter

 

ÖkologiePolitik: Frau Vetter, warum gilt in der Wirtschaftspolitik Wachstum als primäres Ziel?

Andrea Vetter: Wachstum befriedet soziale Kämpfe. Und diese Funktion hatte es in Europa seit der Nachkriegszeit ganz klar, gerade auch im Rahmen der Systemkonkurrenz durch den Kalten Krieg und darüber hinaus. Das Prinzip hinter der politischen Förderung von Wirtschaftswachstum ist es, dass die Reichen ungestört reicher werden können, wenn gleichzeitig auch die Ärmeren ein paar Brosamen abbekommen. Wirtschaftswachstum ist der einzige Weg zu mehr materiellem Wohlstand für alle, ohne dass die Reichen dabei etwas abgeben müssen.

Welche sozialen Folgen hat es, wenn die Wirtschaft nicht wächst oder gar schrumpft?

So, wie unser Wirtschaftssystem derzeit ausgestaltet ist, hat eine Rezession katastrophale Folgen, vor allem für ärmere Menschen, für rassistisch Diskriminierte und für Frauen. Daher ist ein Hauptslogan der Degrowth-Bewegung auch: „Eure Rezession ist nicht unser Postwachstum!“ Denn Postwachstum bedeutet eine grundsätzliche Umgestaltung unserer Wirtschaftsweise und aller Institutionen dieser Gesellschaft – weg von der Profitorientierung, hin zum Lebensnotwendigen. Zentrales Ziel von Postwachstum ist soziale Gerechtigkeit – über Regionen und Erdteile hinweg, und über Generationen hinweg. Und soziale Gerechtigkeit lässt sich unter den Bedingungen der derzeitigen ökologischen Krisen nur über einen Umbau unserer gesamten Lebens- und Wirtschaftsweise erreichen.

Bedeutet Wirtschaftswachstum zwangsläufig auch ein Wachsen des Rohstoff- und Energieverbrauchs und damit der Umweltzerstörung?

Empirisch gesehen müssen wir sagen: bislang ja. Möglicherweise ist es theoretisch nicht völlig ausgeschlossen, dass eine absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Rohstoff- und Energieverbrauch denkbar ist. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entkopplung dieser Kurven schnell genug und weit genug vonstattengeht, um z. B. das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, ist derart unwahrscheinlich, dass die Position einer wahrscheinlichen Entkopplung ernsthaft öffentlich zu vertreten, eine völlige Verantwortungslosigkeit ist.

Wie müsste eine Wirtschaftsordnung aussehen, die das Ziel „Nachhaltigkeit“ ernsthaft verfolgt und erreichen kann?

Das wäre vermutlich eine postkapitalistische Wirtschaftsordnung, in der Profit und Gewinnstreben nicht im Zentrum des Wirtschaftens stehen, sondern stattdessen Gemeinwohlorientierung und eine Ausrichtung an Sorge für Menschen und Natur. Inspirierende Ideen, wie eine solche Ordnung aussehen könnte, finden sich im gerade beim oekom-Verlag erschienenen Büchlein „Zukunft für alle. Eine Vision für 2048“.

Wie sinnvoll sind die aufgrund der Corona-Pandemie initiierten Rettungsfonds und Konjunkturprogramme?

Nicht sinnvoll. Denn sie stützen fossile Branchen, die die Umwelt zerstören, mit Steuergeldern von allen Menschen – damit werden weiter wie bisher die Lebensgrundlagen jetzt junger und kommender Generationen zerstört. Die Rettungsfonds wären eine Chance gewesen, einen wirklichen sozial-ökologischen Wandel einzuleiten, indem die Vergabe öffentlicher Gelder an starke soziale und ökologische Kriterien hätten geknüpft werden können und damit der längst fällig technologische Umbau unserer Gesellschaft unterstützt und beschleunigt worden wäre. Stattdessen wird er behindert. Diese Politik ist unverantwortlich und gefährlich. Wir sehen hier ein Muster, dass wir aus der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 kennen: Gewinne werden privatisiert, Schulden hingegen sozialisiert.

Birgt die damit einhergehende Staatsverschuldung Gefahren?

Welche Gefahren Staatsverschuldung birgt, hängt immer von den politischen Kräfteverhältnissen ab. Eine hohe Verschuldung, die aber mit einem gezielten Umbau der Gesellschaft hin zu mehr sozialer und ökologischer Gerechtigkeit und null fossilen Brennstoffen einhergeht, kann wichtig sein, um notwendige Transformationen zu unterstützen und anzustoßen. Die nun aufgelegten Konjunkturprogramme verhindern vermutlich auf Jahre hinaus die dringend notwendigen massiven Investitionen in einen Umbau der Wirtschaft. Zudem ist zu erwarten, dass die Schulden, wie oft geschehen, als Vorwand genutzt werden, um soziale und kulturelle Staatsausgaben massiv zu kürzen, was zu Leid und Elend führen wird und zu einer Verarmung gesellschaftlichen Lebens.

Frau Vetter, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hrsg.)
Zukunft für alle – Eine Vision für 2048
gerecht. ökologisch. machbar.
oekom, Oktober 2020
104 Seiten, 9.00 Euro
978-3-96238-257-5


Matthias Schmelzer, Andrea Vetter
Degrowth/Postwachstum
zur Einführung
Junius, Oktober 2019
256 Seiten, 15.90 Euro
978-3-96060-307-8

 


Onlinetipps

Konzeptwerk Neue Ökonomie
www.konzeptwerk-neue-oekonomie.org

Degrowth
www.degrowth.info/de

Blog Postwachstum
www.postwachstum.de

I.L.A. Werkstatt
www.ilawerkstatt.org

Oya
www.oya-online.de