Entscheidend ist, welche Bereiche der Wirtschaft wachsen und welche schrumpfen. Nicht-nachhaltige Sektoren müssen deutlich schrumpfen oder sich neu ausrichten, nachhaltige Sektoren müssen wachsen. – Foto: sonnydelrosario/pixabay.com

Wirtschaft & Soziales

„Die Transformation muss über einen stetigen Wandel stattfinden“

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Mit der Frage, ob und wie sich unser Wirtschaftssystem ökologisch transformieren lässt, beschäftigt sich seit mehr als 26 Jahren das „Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft“ (FÖS). – Interview Nr. 7 in einer Reihe von 8 Interviews mit jeweils identischen Fragen.

Interview mit Kai Schlegelmilch

 

ÖkologiePolitik: Herr Schlegelmilch, warum gilt in der Wirtschaftspolitik Wachstum als primäres Ziel?

Kai Schlegelmilch: Laut Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 ist ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum anzustreben. Aber auch außenwirtschaftliches Gleichgewicht, niedrige Arbeitslosigkeit und stabiles Preisniveau – zusammen das sogenannte „magische Viereck“. Die Politik hat viele Herausforderungen kurzfristig mit Wachstum scheinbar lösen oder zumindest verlagern können. So konnten meist mehr Arbeitsplätze bei uns geschaffen werden – was es für die Politik attraktiv macht. Aber letztlich ist es das Ziel, allen Menschen ein möglichst gut Leben zu ermöglichen – und dieses besteht sowohl aus materiellen als auch immateriellen Werten wie Gesundheit, Bildung, Nächstenliebe, Zufriedenheit und Glück. Daher ist die Fokussierung auf Wachstum unangemessen. Umso enttäuschender ist, dass sich selbst eine Enquetekommission des Bundestags nicht auf eine Alternative hat einigen können. In Bhutan dagegen wird die Politik offiziell am Bruttonationalglück ausgerichtet. Aber wie kommt Wachstum zustande? Es ist – vereinfacht gesprochen – letztlich nichts anderes als die Multiplikation von Menge mal Preis. So kann rechnerisch das gleiche Wachstum über zwei Wege erreicht werden: (1) Die Preise bleiben gleich und die Menge steigt an – was mit höheren Ressourcenverbräuchen und Umweltbelastungen einhergehen kann. (2) Die Menge bleibt gleich und die Preise bzw. Einkommen steigen – was einem qualitativen Wachstum entspricht. Beide Male entsteht in der Statistik zwar ein gleich hohes Wachstum, aber nur im zweiten Fall ist es weitgehend umweltverträglich. Daher wäre es unangemessen, Wachstum pauschal zu verurteilen, denn wir brauchen Wachstum, z. B. bei Erneuerbaren Energien. Es kommt entscheidend darauf an, ob es primär ein qualitatives oder ein quantitatives Wachstum ist, um die Auswirkungen auf die Umwelt beurteilen zu können. Auch mit mehr Investitionen in Humankapital – vor allem in Bildung, aber auch in Gesundheit und in soziale Kontakte – kann Wachstum ausgelöst werden, das umweltverträglich ist. Wir brauchen aber auch Schrumpfungsprozesse wie z. B. bei der Atomenergie und Kohle.

Welche sozialen Folgen hat es, wenn die Wirtschaft nicht wächst oder gar schrumpft?

Dann dürften die meisten Herausforderungen größer werden, weil z. B. auch die sozialen Sicherungssysteme, die Staatseinnahmen und damit die Handlungsfähigkeit des Staates betroffen sind. Natürlich ist das derzeit erzwungene Schrumpfen der Wirtschaft kein Vorbild für die große Transformation, aber immerhin lernen wir, was wirklich wichtig, systemrelevant und unverzichtbar ist. Die Transformation muss über einen stetigen Wandel stattfinden. Es kommt dabei zentral darauf an, welche Bereiche der Wirtschaft wachsen und welche schrumpfen. Nicht-nachhaltige Sektoren müssen deutlich schrumpfen oder eine zukunftsfähige Neuausrichtung vornehmen. Nachhaltige Sektoren müssen wachsen. Ob das unterm Strich wächst oder schrumpft, ist nachrangig. Das sektorale Wachsen und Schrumpfen eröffnet aber die große Chance für dringend benötigte Veränderungen. Ein gewisser Schrumpfungsprozess mit verminderter Umweltbelastung und entsprechend weniger Ausgaben für die Beseitigung von Umwelt- und Gesundheitsschäden kann ein Gewinn für die Gesellschaft sein.

Bedeutet Wirtschaftswachstum zwangsläufig auch ein Wachsen des Rohstoff- und Energieverbrauchs und damit der Umweltzerstörung?

Nein, in der Tat konnten schon wichtige Fortschritte erzielt werden. Mit ersten Gesetzgebungen Ende der 1960er- und 1970er-Jahre begann die Entkopplung von Rohstoff- und Energieverbrauch einerseits und Umweltzerstörung in Form von Luft- und Wasseremissionen andererseits. Bis in die 1970er-Jahre waren Wirtschaftswachstum und Rohstoff- und Energieverbrauch eng aneinander gekoppelt, bis dann die beiden Ölpreisschocks sie voneinander abkoppelten. Seitdem sinkt der Energie- und Rohstoffverbrauch pro Produktionseinheit. Doch das reicht noch nicht, um innerhalb ökologischer Grenzen zu wirtschaften. Dafür braucht es eine absolute Entkopplung und eine massive Niveausenkung des Rohstoff- und Energieverbrauchs. Die von der Bundesregierung beschlossene Klimaneutralität bis 2050 gibt ein zentrales Ziel vor, das jedoch früher erreicht werden kann und muss. Es muss mit einer Wiederherstellung der Ökosysteme und Artenvielfalt einhergehen. Derzeit läuft genau das aber in die komplett andere Richtung und alle Biodiversitätsziele für 2020 werden krachend verfehlt. Eine intakte Natur bildet jedoch unsere Überlebensbasis. Aber es gibt mittlerweile zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen, die ihr Handeln ganz bewusst daran orientieren und so auch ökologisch zunehmend in den erforderlichen Grenzen bleiben und zugleich ökonomisch erfolgreich sind, doch davon bedarf es sehr viel mehr. Technischer Fortschritt gepaart mit Investitionen und gesellschaftlichen Innovationen ist die Basis für eine große Transformation hin zu einer wirklich nachhaltigen Wirtschaftsordnung.

Wie müsste eine Wirtschaftsordnung aussehen, die das Ziel „Nachhaltigkeit“ ernsthaft verfolgt und erreichen kann?

Sie müsste neben der Verfolgung des „magischen Vierecks“ die natürlichen Grenzen zum Rahmen der Politik machen. Wirtschaften wäre nur innerhalb dieser Grenzen zulässig und ein Überschreiten würde finanziell effektiv sanktioniert. Zudem müsste das Gewinnstreben als systemimmanentes Ziel durch eine andere Zielorientierung abgelöst werden. Ein vielversprechender Ansatz wäre die Transformation von Aktiengesellschaften in Stiftungen und Genossenschaften, weil diese per se nicht nach Gewinn streben. Auch verschiedene Ansätze einer solidarischen Gemeinwohl-Ökonomie geben Anlass zur Hoffnung. Diese Veränderungen müssten in kleinen, stetigen Schritten eingeleitet werden und sollten nicht abrupt erfolgen.

Wie sinnvoll sind die aufgrund der Corona-Pandemie initiierten Rettungsfonds und Konjunkturprogramme?

Sie sind grundsätzlich sinnvoll und notwendig. Gäbe es sie nicht, hätte das noch viel gravierendere wirtschaftliche und finanzielle Folgen gehabt. Zwar erhöhen sie die Staatsverschuldung in nie dagewesener Höhe, doch es gab keine realistische Alternative. Der Bundesregierung ist hier ein zumindest umweltpolitisch leicht progressives Programm gelungen, aber es wäre deutlich mehr möglich gewesen. Die Wasserstoffstrategie ist ein Herzstück, die Umstellung der Kfz-Steuer auf CO2 ist auch positiv, hätte allerdings auf den Kfz-Bestand angewandt werden müssen. Es fehlt ein massiver Abbau umweltschädlicher Subventionen. Der muss in Kürze bei der Refinanzierung der ganzen Ausgaben erfolgen. Immerhin wurde eine Neuauflage der ökologisch kontraproduktiven Autoabwrackprämie verhindert. Die allgemeine Senkung der Mehrwertsteuer wirkt nur kurzfristig, hat allerdings keinerlei umweltpolitischen Lenkungseffekt wie Ökosteuern oder Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen in Energieeffizienz. Rückschrittlich war es, der Lufthansa ohne substanzielle Umweltanforderungen einen milliardenschweren Blankoscheck zu geben. Hier zeigte das Ausland bessere Beispiele: Die Air France muss in Frankreich auf Kurzstreckenflüge verzichten. Die Luftverkehrsteuer hätte umstrukturiert, erhöht und eine Kerosinsteuer eingeführt werden können. Auch die Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge gehört abgeschafft, um diese Zug- und Busfahrten gleichzustellen.

Birgt die Staatsverschuldung Gefahren?

Sicherlich, weil damit die Handlungsfähigkeit des Staates über Jahrzehnte hinweg beschränkt wird. Aber es gab keine Alternative dazu und so blieben zumindest die bestehenden Handlungsfreiheiten erhalten. Denn ein stärkerer Niedergang der Wirtschaft hätte höhere Arbeitslosigkeit und weniger Steuereinnahmen bedeutet. Die große Chance, die in der Staatsverschuldung aber auch liegt, ist der nochmals stark wachsende Druck, die über 57 Mrd. Euro umweltschädliche Subventionen abzubauen und Steuerlücken zu schließen. Spätestens nach der nächsten Bundestagswahl sollte dafür ein umfassendes Paket beschlossen werden. Um die Akzeptanz zu erhöhen, könnten die Schritte dann schon ins Gesetz geschrieben werden, die aber erst in mehreren Schritten in Kraft treten. Diese Vorgehensweise hat sich beim Beschluss zur Fortführung der Ökologischen Steuerreform 1999 bis 2003 bewährt.

Herr Schlegelmilch, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Onlinetipps

Greenpeace (Hrsg.)
Holger Bär, Yann Girard, Claudia Kemfert u.a.
Der Neun-Punkte-Plan
Beschäftigungs- und Klimaschutzeffekte eines grünen Konjunkturprogramms
Studie DIW Econ / FÖS, Juni 2020
www.t1p.de/2e7a

Damian Ludewig, Eike Meyer
Postwachstumsgesellschaft konkret
Politische Ansätze zur Überwindung von Wachstumszwängen
FÖS-Diskussionspapier, Juni 2013
www.t1p.de/ea8k

Damian Ludewig, Eike Meyer
Wohlstand oder Wachstum?
Von der wachstums- zu einer wohlfahrtsorientierten Marktwirtschaft
FÖS-Hintergrundpapier, Oktober 2011
www.t1p.de/xe2q