Die Kunst der Balance verfolgt Christian Felber auf verschiedenen Ebenen. – Foto: www.uschioswald.at

Wirtschaft & Soziales

„Die Kunst der Balance“

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Unter den gegenwärtigen Strömungen in der Wirtschaftstheorie verfolgt die Gemeinwohl-Ökonomie am entschiedensten die Orientierung am Gemeinwohl. Doch wie definiert sie das eigentlich? Wie will sie die Gemeinwohl-Idee stärken? Und wie deren Pervertierung zur totalitären Ideologie verhindern?

Interview mit Christian Felber

 

ÖkologiePolitik: Herr Felber, wie haben Sie eigentlich bei der Konzeption Ihrer Gemeinwohl-Ökonomie definiert, was dem Gemeinwohl dient und was nicht?

Christian Felber: Wir haben uns zunächst mit der interkulturellen und historischen Begriffsgeschichte auseinandergesetzt und sind auf zwei Definitionsmöglichkeiten gestoßen: zum einen eine inhaltliche, in der eine unhinterfragbare Instanz – z. B. ein Gott, König oder Diktator – die Bedeutung von Gemeinwohl vorgibt; und zum anderen eine formale, in der der Inhalt zu einem konkreten Zeitpunkt durch einen partizipativ-demokratischen Prozess ermittelt wird – z. B. durch einen Bürgerrat. Wir haben uns eindeutig für die zweite Option entschieden. Und regen an, dass sich eine Gemeinwohl-Definition aus einer Kombination aus Grundbedürfnissen, die alle Menschen kulturunabhängig teilen, sowie aus Grundrechten und Grundwerten, die von Region zu Region unterschiedlich sein können, zusammensetzt. Gerade mit den universellen Menschenrechten haben wir ein global gültiges Wertesystem, was darauf hindeutet, dass eines Tages ein konvergentes Weltethos keine Illusion mehr ist. Für die unternehmerische Gemeinwohl-Bilanz haben wir die häufigen Verfassungswerte Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie als Basis einer Gemeinwohl-Orientierung herangezogen, also nichts Neues erfunden, sondern eine bestehende demokratische Grundsubstanz in die Wirtschaft zurückgetragen, wo wir seit einigen Jahrzehnten eine Kolonisierung durch demokratiefremde Werte erleben.

Warum spielt der Gemeinwohl-Gedanke in unserer heutigen Wirtschaft nur eine sehr untergeordnete Rolle?

Man kann es vordergründig dem Profitstreben der Konzerne anlasten. Doch entfalten kann sich das nur in einem politikgegebenen Rechtsrahmen, weshalb die Wirtschaftspolitik zu hinterfragen ist. Die wird von zwei Seiten in die Zange genommen: Zum einen von den einflussreichsten Lobbys, die erwiesenermaßen stärkeren Einfluss auf die Gesetzgebung haben als die breite Bevölkerung. Zum anderen von der vorherrschenden Strömung der Wirtschaftswissenschaft, der Neoklassik, die sich in den Dienst der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse gestellt hat. An der Spitze dieser Doktrin – die übrigens einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält! – steht der Homo oeconomicus, ein Menschenbild, das zwischen Psychopathologie und Verfassungsfeindlichkeit angesiedelt werden muss.

Wie lässt sich der Gemeinwohl-Gedanken stärken?

Es beginnt mit Artikel 5 des Grundgesetzes, wonach die Freiheit der Wissenschaft nicht von der Treue zur Verfassung entbindet. So wie auf den technischen Hochschulen und Universitäten keine Massenvernichtungswaffen entwickelt werden dürfen, sollten in den Sozialwissenschaften auch keine Werte unterrichtet werden, die den demokratischen Grund- und Verfassungswerten diametral widersprechen. Eigennutzmaximierung und Menschenwürde, Solidarität und Wettbewerb, Wachstum und Nachhaltigkeit gehen schlicht nicht zusammen. Sodann braucht es eine sinnvolle Definition für „Wirtschaft“, die auf ebendiesen Werten beruht. Neben einer solchen Neuausrichtung der ökonomischen Bildung braucht es eine entsprechende Wirtschaftspolitik. Die effektivste Stärkung des Gemeinwohl-Gedankens ist die Ablösung des monetären Bruttoinlandsprodukts durch ein demokratisch komponiertes Gemeinwohl-Produkt. Von diesem könnte eine allgemeinverbindliche betriebliche Gemeinwohl-Bilanz mit neutralem Punkteergebnis abgeleitet werden, das mit positiven und negativen Anreizen verknüpft wird, sodass sich mittelfristig nur noch klimapositives, Zusammenhalt stärkendes und Ungleichheit verringerndes Wirtschaften rentiert. Auch Nichtmarktbereiche wie Gemeingüter, öffentliche Dienstleistungen oder die Arbeit in Haushalten und Nachbarschaften würden im Gemeinwohl-Produkt erfolgreich abgebildet, wodurch diese essenziellen ökonomischen Sektoren volkswirtschaftlich sichtbar würden.

Sehen Sie auch eine Gefahr, dass sich der Gemeinwohl-Gedanke zu einer totalitären Ideologie entwickelt?

Jedes Modell, jede Idee kann aus dem Gleichgewicht geraten und kippen. Deshalb muss sie von Beginn an „ethisch symmetrisch“ konstruiert sein. Das Fundament der Gemeinwohl-Ökonomie in diesem Sinne ist die Kombination aus Menschenwürde als höchstem individuellem Wert und dem Gemeinwohl als höchstem Kollektivwert. Die Kunst der Balance besteht darin, die Kollektivwerte Solidarität, Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit nie so weit zu treiben, dass dadurch die Würde und die Grundrechte der Individuen außer Kraft gesetzt werden. Umgekehrt dürfen die Grundrechte der Menschen weder zur Zerrüttung des sozialen Zusammenhangs noch zur Zerstörung der Lebensgrundlagen führen. Dann bleibt das Ganze im Gleichgewicht. Das ist die etwas andere „Gleichgewichtstheorie“ der Gemeinwohl-Ökonomie. Würden z. B. radikale Klimaschützer vorschlagen, die Verkehrs- und Reisefreiheit einzuschränken, statt nur Urlaubsflüge und SUVs zu regulieren oder CO2-Emissionen zu verteuern oder – meine Lieblingsvariante – begrenzte „ökologische Menschenrechte“ zu proklamieren, dann würde ich das als totalitär zurückweisen. Eine noch schlimmere Form der Gemeinwohl-Diktatur wäre es, besonders vermögenden oder umweltzerstörenden Menschen die persönliche Freiheit zu entziehen. Diese Gefahr muss ernst genommen und ihr vorgebeugt werden. Ich sehe die Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie als Bollwerk dagegen, dass Maßnahmen für den Umweltschutz oder den sozialen Ausgleich auf Kosten der Grundrechte und der Menschenwürde gehen.

Herr Felber, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Christian Felber
This is not Economy
Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft
Deuticke, September 2019
304 Seiten, 22.00 Euro
978-3-552-06402-7

Christian Felber
Gemeinwohl-Ökonomie
Piper, März 2018
256 Seiten, 12.00 Euro
978-3-492-31236-3


Onlinetipps

Vortrag von Christian Felber
Gemeinwohl-Ökonomie
Arbeiterkammer Wien, 27.02.2023
www.t1p.de/ujeoh

Vortrag von Claudine Nierth und Christian Felber
Die Demokratie von morgen

ÖDP München, 23.05.2023
www.t1p.de/ofr4j

Vortrag von Lisa Fiedler und Christoph Fischer
Gemeinwohl-Ökonomie – von der Theorie zur Praxis
ÖDP München, 02.03.2021
www.t1p.de/9qxsu

Vortrag von Gerald Morgner und Thomas Prudlo
Gemeinwohl-Ökonomie – das neue Wirtschaftssystem
ÖDP München, 09.02.2021
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„Das BIP sagt nichts über die Lebensqualität aus“
ÖkologiePolitik, 06.12.2020
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ÖkologiePolitik, 30.10.2019
www.t1p.de/ou8p

Vortrag von Christian Felber u.a. mit Podiumsdiskussion
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ÖDP München, 24.10.2019
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