Es werden viel zu viele Produkte hergestellt, die niemand wirklich braucht, die Geld und Lebenszeit kosten, die wertvolle Ressourcen verbrauchen und die Umwelt belasten. – Foto: djedj/pixabay.com

Wirtschaft & Soziales

„Die Hälfte aller Erwerbsarbeit ist sinnlos oder schädlich“

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Unsere heutige Wirtschaft hängt an veralteten Dogmen und produziert viel zu viel Überflüssiges, kritisiert dieser Wirtschaftsprofessor – und plädiert für eine Neubesinnung und Kurskorrektur. – Interview Nr. 6 in einer Reihe von 8 Interviews mit jeweils identischen Fragen.

Interview mit Prof. Dr. Christian Kreiß

 

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Kreiß, warum gilt in der Wirtschaftspolitik Wachstum als primäres Ziel?

Prof. Dr. Christian Kreiß: Ich glaube, das liegt einfach an unserer Geschichte. Bis ins 19. Jahrhundert waren viele Menschen arm. Dann kamen die Maschinen und die Industrialisierung und es begann eine Art Wohlstand für alle. Vor allem nach 1945 erreichte der Großteil der Menschen einen gewissen Wohlstand – in unserem Land und überhaupt in den Industrieländern: kein Hunger, kein Frieren, Toiletten, Strom, fließendes Wasser, Zentralheizung, Kleidung, Auto, Reisen, Urlaub, 40-Stunden-Woche. Das ist erstmalig in der Geschichte so gewesen, und das hat sich den Menschen tief eingeprägt: Wachstum beseitigt Elend, Not, Hunger, gibt uns einen gewissen Wohlstand und materielle Freiheit. Also ist Wachstum gut, ja ein Segen. Und das stimmte ja auch für viele Jahrzehnte. Auch geistig-seelisch hat Wirtschaftswachstum eine Art Befreiung gebracht. Es hat „einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen“, wie Karl Marx das einmal ausdrückte. Man musste sich nicht mehr den ganzen Tag plagen und um die Zukunft sorgen. Das sitzt tief – und hat eine historische Berechtigung. Aber: Was früher berechtigt und gut war, kann umschlagen ins Gegenteil. Und das ist schon längst geschehen, vermutlich in den 1970er- oder 1980er-Jahren. Was im vernünftigen Maß gut ist, kann ins Schädliche umschlagen, wenn es das vernünftige Maß überschreitet. Wachstum ist gut für junge Organismen oder für eine materiell arme Bevölkerung. Wenn das Wachstum aber immer weitergeht, dann wird es zum Geschwür, Karzinom, Krebs: zum sinnlosen, krankhaften, tötenden Wachstum. Und dort sind wir schon angelangt. Wir sollten ganz dringend umdenken, umfühlen, umlernen, uns von der Geschichte lösen. Wir sollten lernen, dass das, was früher gut war, heute schlecht und schädlich ist. Vor allem sollten das die Ökonomen. Sie sind zum Großteil geistig-seelisch noch den Dogmen der Vergangenheit verhaftet.

Welche sozialen Folgen hat es, wenn die Wirtschaft nicht wächst oder gar schrumpft?

Das kann für praktisch alle ein Segen sein. Natürlich brauchen wir dann andere soziale und ökonomische Umgangsformen und Regeln. Der Kuchen an materiellen Gütern und Dienstleistungen, den wir jährlich in Deutschland backen, reicht bei Weitem, um alle in unserem Land nicht nur ausreichend, sondern im Überfluss zu versorgen. Eigentlich haben die meisten von uns schon viel zu viel. Angabegemäß hat jeder im Durchschnitt über 10.000 Produkte zu Hause. Davon nutzen wir einen Großteil kaum oder gar nicht. Sie sind eigentlich zum guten Teil nur noch Ballast. So viele Güter und Dienstleistungen herzustellen, die wir zum guten Teil überhaupt nicht brauchen, macht uns in Wirklichkeit arm, nimmt uns Lebenszeit, kostet uns Kraft, Energie, Fleiß, Brain, kostet uns viele wertvolle Ressourcen, macht Luft, Erde und Wasser schmutziger als nötig. Mindestens die Hälfte aller Erwerbsarbeit ist entweder sinnlos oder schädlich. Beispiele dafür sind Werbung, Steuerberater, geplanter Verschleiß, Designer für Aschenbecher, ein großer Teil der Kosmetik-, Gesundheits-, Tourismus-, Glücksspiel-, Computerspiel- oder Luxusgüterbranche. Wer ein bisschen die Augen aufmacht und nach Sinn und Zweck vieler Tätigkeiten fragt, wird sehr viel finden. Wir könnten schon längst mit 20 Wochenstunden Erwerbsarbeit auskommen, ohne auf irgendwelche Güter und Dienstleistungen ernsthaft verzichten zu müssen. Dazu kommt: Wenn alle Menschen auf der Erde so viele Ressourcen verbrauchen würden wie wir in den Industrieländern, dann wäre die Welt schon längst geplündert und zum Abfalleimer verkommen. Wir verbrauchen einfach viel zu viel. Also ist meine Devise: Weniger kann mehr sein, Befreiung vom Überfluss. Wenn ein bisschen guter Wille da wäre, vor allem politischer Wille, könnten wir alle sehr viel weniger Erwerbsarbeit nachgehen und dafür sehr viel sinnvollere Sachen im Leben machen. Zum Beispiel hätten wir dann endlich mehr Zeit für unsere Kinder, für Senioren, für Kultur und Natur.

Bedeutet Wirtschaftswachstum zwangsläufig auch ein Wachsen des Rohstoff- und Energieverbrauchs und damit der Umweltzerstörung?

Ich glaube schon. Die Annahme, wir könnten Wirtschaftswachstum von Ressourcenverbrauch entkoppeln, glaube ich nicht recht.

Wie müsste eine Wirtschaftsordnung aussehen, die das Ziel „Nachhaltigkeit“ ernsthaft verfolgt und erreichen kann?

Die Grundmaxime muss lauten: Weniger kann mehr sein! Befreiung vom Überfluss! Weg mit unnötigem Ballast! Bescheidenheit statt Unersättlichkeit! Anständigkeit und Rücksichtnahme! Daraus leiten sich dann konkrete Maßnahmen ab: kein unbegrenzter Zinseszins, sondern eine Obergrenze von Zins auf Zins, zeitlich oder der Höhe nach. Keine unbegrenzte Anhäufung von Privatkapital, sondern entweder eine betragliche Obergrenze oder eine zeitliche Limitierung wie bei Buchrechten, d. h. nach 70 Jahren fällt das Eigentum zurück an die Allgemeinheit. Keine Gewinnmaximierung bei Unternehmen, sondern Stakeholder Value statt Shareholder Value. Aufgabe der Annahme eines Homo oeconomicus, denn sie ist Unsinn und eine Karikatur des Menschen. In den Wirtschaftswissenschaften: Miteinander statt Gegeneinander, Kooperation statt Konkurrenz unterrichten – was nicht heißt, Kartelle und Monopole zuzulassen. Aufgabe des Glaubens an die unsichtbare Hand des Marktes, die allen Egoismus in Altruismus verwandelt – ein Irrglaube, denn immer stärker werdender Egoismus führt uns in einen Krieg aller gegen alle und in den Untergang.

Wie sinnvoll sind die aufgrund der Corona-Pandemie initiierten Rettungsfonds und Konjunkturprogramme?

Kurzfristig finde ich viele davon richtig, sonst wären wir schon längst in einer massiven Depression wie 1932.

Birgt die Staatsverschuldung Gefahren?

Ja, denn momentan sind die Gesamtschulden – private und staatliche – weltweit bereits ungefähr dreieinhalb Mal so hoch wie die Weltwirtschaftskraft. Sie können unmöglich jemals real zurückgezahlt werden. Es wurden und werden massiv Geld- und Schuldscheine gedruckt, denen keine reale Produktion gegenübersteht. Ich sehe drei Möglichkeiten: (1) Entweder gibt es einen offiziellen Schuldenschnitt. Das bedeutet aber gleichzeitig einen Vermögensschnitt bei den Gläubigern, d. h. den Inhabern der Schuldpapiere. Das halte ich für unwahrscheinlich, weil sich die Multimillionäre und Milliardäre, die den allergrößten Teil dieser Forderungen halten, gegen diesen Vermögensschnitt wehren werden. Und ihr Einfluss auf die Politik ist sehr groß – vorsichtig ausgedrückt. (2) Die Notenbanken versuchen, auf mehrere Jahre verteilt, eine Preisverdoppelung oder -verdreifachung herbeizuführen, also einige Jahre lang eine mittelstarke Inflation von vielleicht 5 bis 20 % pro Jahr zu erzeugen. Das entspräche auch einem realen Schuldenschnitt von 50 bis 66 %, weil die Inflation einfach die Geldpapiere real teilentwertet. (3) Wenn beides nicht klappt, kommt vermutlich eine Pleitewelle, eine Finanzkrise, Bankenpleiten, Staatsinsolvenzen, Massenarbeitslosigkeit, Chaos und Unruhen. Unternehmens-, Staats- und Bankenpleiten sind auch ein Schuldenschnitt, aber ein ungeordneter, chaotischer, der einen Abwärtsstrudel auslösen kann mit äußerst negativen, teilweise unkalkulierbaren gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Ich fände einen geordneten Schuldenschnitt das Beste, eine Inflation, auch wenn sie für ein Land miserabel ist, das Zweitbeste bzw. weniger Schlimme. Vor Lösung (3) graut mir. Ich hoffe, dass wir den Schuldenschnitt mit Vernunft lösen werden.

Herr Prof. Kreiß, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipp

Christian Kreiß
Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft
Tredition, November 2019
264 Seiten, 9.95 Euro
978-3-7497-5790-9