Für knapper werdende Ressourcen gibt es eine Verwendungskonkurrenz. Es gilt zu entscheiden, ob wir die Ressourcen für Kreuzfahrten bereitstellen oder für wichtigere Dinge wie z.B. Krankenhäuser. – Foto: Hans-Dieter Buchmann/pixelio.de

Wirtschaft & Soziales

„Eine nachhaltige Wirtschaft kann keine kapitalistische mehr sein“

Diesen Beitrag teilen

Den Glauben, dass unser marktwirtschaftliches System zur notwendigen ökologischen Transformation tatsächlich fähig ist, mag dieser Theologe und Marxismus-Experte nicht teilen. – Interview Nr. 5 in einer Reihe von 8 Interviews mit jeweils identischen Fragen.

Interview mit Dr. Bruno Kern

 

ÖkologiePolitik: Herr Dr. Kern, warum gilt in der Wirtschaftspolitik Wachstum als primäres Ziel?

Dr. Bruno Kern: Wachstum ist kein bewusst gewähltes Ziel. Vielmehr ist der Zwang zum Wachstum zuinnerst ins kapitalistische Wirtschaftssystem eingeschrieben. Eine Ökonomie, deren Basis die Konkurrenz von Einzelkapitalien ist, kann nur stabil bleiben, wenn Wachstum auf Dauer gestellt wird. Wie ein Fahrrad, das sich stets vorwärtsbewegen muss, um im Gleichgewicht zu bleiben, muss eine kapitalistische Ökonomie stets wachsen. Wobei die Richtung des Wachstums völlig egal ist. Ein großer Teil dieses Wachstums hat nichts mit echter Steigerung von Lebensqualität zu tun. Dass eine Kapitalakkumulation auf immer höherer Stufenleiter die notwendige Voraussetzung einer kapitalistischen Ökonomie ist, haben auch die Theoretiker der sogenannten „sozialen Marktwirtschaft“ so beschrieben.

Welche sozialen Folgen hat es, wenn die Wirtschaft nicht wächst oder gar schrumpft?

Der materielle Lebensstandard wird sinken. Viele Konsummuster können nicht mehr aufrechterhalten werden. Um einen Schrumpfungsprozess für die Bevölkerungsmehrheit akzeptabel zu machen, ist entscheidend, dass dieser gerecht gestaltet wird. Das heißt: soziale Umverteilung des vorhandenen privaten Reichtums – der übrigens ökologisch den größten Schaden anrichtet – in großem Stil.

Bedeutet Wirtschaftswachstum zwangsläufig auch ein Wachsen des Rohstoff- und Energieverbrauchs und damit der Umweltzerstörung?

Definitiv ja. Der ökoliberale Mainstream – dazu zählen heute die meisten Umweltorganisationen, Bündnis 90/Die Grünen und etliche renommierte Forschungsinstitute – verbreitet immer noch die Illusion, dass sich das BIP-Wachstum in genügendem Maß vom Energie- und Rohstoffverbrauch abkoppeln ließe. Das hält aber keiner näheren Überprüfung stand. Wir konnten einige Jahrzehnte lang zwar durchaus eine relative Entkoppelung verzeichnen: Der Energie- und Ressourcenverbrauch wuchs langsamer als das Bruttoinlandsprodukt. Doch erstens ist das längst nicht mehr der Fall. Und zweitens bräuchten wir, um unsere Klimaziele einzuhalten, eine absolute Entkoppelung. Die Effizienzpotenziale unterliegen aber dem Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses: Je mehr Effizienzpotenzial wir erschlossen haben, umso schwieriger wird es, diesen Prozess fortzuschreiben. Seit Anfang 2000 gibt es kaum mehr Effizienzgewinne. Bei einem Wirtschaftswachstum von 2 % bräuchten wir, um die ökologisch notwendigen Reduktionen des Energie- und Rohstoffverbrauchs zu erreichen, eine Effizienzsteigerung um den Faktor 27. Unseren Energieverbrauch müssen wir in Zukunft nahezu ausschließlich aus erneuerbaren Quellen bestreiten. Die sind aber nicht unbegrenzt vorhanden. Aufgrund ihrer wesentlich geringeren Energiedichte gegenüber fossilen Energien bedeutet das, dass wir in Zukunft mit wesentlich weniger Nettoenergie auskommen müssen. Deutschland konsumiert im Jahr insgesamt 2.500 Terawattstunden an Endenergie, doch laut einer Studie des Ökoinstituts für den WWF haben wir ein theoretisch auszuschöpfendes Potenzial an erneuerbaren Energien von lediglich 700 Terawattstunden. Es klafft also eine große Lücke, die es unumgänglich macht, den Energieverbrauch drastisch zu reduzieren. Um unsere Wirtschaft zu dekarbonisieren, muss in vielen Produktionsbereichen – etwa in der chemischen Grundstoffindustrie oder bei der Stahlproduktion – Wasserstoff eingesetzt werden, der mittels Elektrolyse mithilfe von erneuerbaren Quellen erzeugt wird. Woher soll dafür die Energie kommen? Wir werden in Zukunft erheblich weniger Stahl, Aluminium und Zement herstellen können. Das stellt unsere Industriegesellschaft insgesamt infrage. Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat recht, wenn er sagt: „Mit Windrädern kann man keine Industriegesellschaft betreiben.“ Statt darauf zu setzen, dass uns alternative Techniken ein „Weiter so!“ garantieren, muss das neue Paradigma „Rückkehr zum menschlichen Maß“ lauten.

Wie müsste eine Wirtschaftordnung aussehen, die das Ziel „Nachhaltigkeit“ ernsthaft verfolgt und erreichen kann?

Eine ökologisch nachhaltige Wirtschaft kann letztlich keine kapitalistische mehr sein. Eine schrumpfende Wirtschaft ist mit dem Wachstumszwang, der dem Kapitalismus eingeschrieben ist, nicht vereinbar. Ein schrumpfendes BIP kommt schulökonomisch gesprochen einer lang anhaltenden Depression gleich. Bei sinkenden Profiten geht die private Investitionsneigung zurück. Bei knapper werdenden essenziellen Ressourcen funktionieren Marktmechanismen nicht mehr, weil die Marktteilnehmer auf Preissignale nicht mehr flexibel reagieren können. Wir haben es dann mit sogenannten „Verkäufermärkten“ zu tun. Es kommt zu schwerwiegenden Fehlallokationen: Die knappen Ressourcen fließen dahin, wo entsprechende Kaufkraft vorhanden ist, fehlen aber an anderer Stelle, wo es vitale Bedürfnisse abzudecken gilt. Es gibt für knapper werdende Ressourcen eine Verwendungskonkurrenz. Wir werden uns als Gesellschaft entscheiden müssen, ob wir die Ressourcen für Kreuzfahrten bereitstellen oder für MRT-Geräte in unseren Krankenhäusern. Wir werden politisch aushandeln müssen, was, wie und wie viel produziert wird. Eine wirtschaftliche Gesamtplanung ist unumgänglich. Allerdings wird sich der Großteil unseres Konsums, unserer Produktion und unseres Lebens im Nahbereich abspielen, in Stadtteilen und Gemeinden, die ein hohes Maß an Autarkie besitzen. Das schafft die Voraussetzung für viel direkte Partizipation. Ein „Ökosozialismus“ in diesem Sinne ist also gar nicht vergleichbar mit den Planungsbürokratien vergangener „sozialistischer“ Gesellschaften, die mit anderen Mitteln denselben zerstörerischen Industrialisierungskurs verfolgt haben wie wir heute. Wir müssen aber bereits jetzt, im Rahmen des bestehenden Systems und mit den Instrumenten, die uns zurzeit zur Verfügung stehen, möglichst rasch erhebliche Reduktionen umsetzen und damit die Transformation einleiten. Ansonsten könnten wir in eine Dynamik hineingeraten, in der wir gar nichts mehr politisch gestalten, sondern nur noch Katastrophen verwalten können. Wichtig sind vor allem ordnungspolitische Maßnahmen, die man bei entsprechendem politischen Willen auch jetzt schon treffen kann – z. B. ein Verbot von Kurzstreckenflügen, Kontingentierung von Fernflügen, keine Zulassung von Pkws für den rein privaten Gebrauch ab 2030, ordnungspolitische Vorgaben für die Landwirtschaft wie etwa Flächenbindung für die Tierhaltung, Futtermittelimportverbot usw. Für solche Maßnahmen muss möglichst viel Druck von unten aufgebaut werden.

Wie sinnvoll sind die aufgrund der Corona-Pandemie initiierten Rettungsfonds und Konjunkturprogramme?

Wir haben eine große Chance vertan. Die durch die Pandemie ausgelöste Rezession hätte uns die Möglichkeit geboten, aus dem „degrowth by desaster“ ein „degrowth by design“ zu machen, d. h. den aus ökologischen Gründen dringend notwendigen Schrumpfungsprozess bewusst einzuleiten und zu gestalten. Selbstverständlich ist es sinnvoll, die materielle Existenz der Menschen in der Krise mit Staatshilfen abzusichern und auch eine Infrastruktur aufrechtzuerhalten, die für uns unverzichtbar ist. Aber man hat auch hohe Summen in Branchen investiert, die ökologisch höchst schädlich sind und die wir ohnehin abbauen müssen, wie z. B. in die Reisekonzerne oder die Automobilindustrie. Die Reduktionen im Verkehrsbereich machen eine Abkehr vom motorisierten Individualverkehr zwingend nötig und die deutsche Automobilindustrie wird auf etwa 10 % schrumpfen müssen. Stattdessen subventioniert man nun aber die private Mobilität in Form von hohen Prämien für E-Autos, obwohl diese eine desaströse Ökobilanz aufweisen: Allein die Produktion der Batterie verursacht CO2-Emissionen von bis zu 17 Tonnen.

Birgt die Staatsverschuldung Gefahren?

Auch öffentliche Schulden sind Wachstumstreiber, weil sie letztlich realwirtschaftlich unterfüttert werden müssen. Deshalb hätte die Verschuldung in Grenzen gehalten werden müssen, indem man auf die Subventionierung von Branchen verzichtet, die ohnehin mit Nachhaltigkeit nicht vereinbar sind. Und man hätte zur Finanzierung der nötigen sinnvollen Staatshilfen Umverteilungsmechanismen finden müssen, die den privaten Reichtum abschöpfen, z. B. eine Vermögensabgabe nach dem Modell des Lastenausgleichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Keynesianistische Ökonomen behaupten, dass die Staatsschulden unproblematisch seien, da sie ohnehin nie zurückgezahlt und nach einigen Jahrzehnten bedeutungslos werden. Man könne sie sozusagen einfach in den Büchern stehen lassen. Das stimmt aber nur unter der Voraussetzung eines weiter forcierten Wachstums, das wir uns aus ökologischen Gründen nicht mehr leisten können.

Herr Dr. Kern, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipp

Bruno Kern
Das Märchen vom grünen Wachstum
Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft
Rotpunkt, August 2019
240 Seiten, 15.00 Euro
978-3-85869-847-6