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Bildung & Erziehung

„Eine treibende Kraft ist die Bertelsmann Stiftung“

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Obwohl die „Digitale Bildung“ bei vielen Pädagogen auf starke Skepsis stößt, setzt die deutsche Politik große Hoffnungen in sie und treibt ihre Einführung mit großer Vehemenz voran. 2016 initiierte sie den „Digitalpakt#D“ und sagte den Bundesländern für die Ausstattung ihrer Schulen mit Computern und WLAN 5 Mrd. Euro Unterstützung zu. Warum?

Interview mit Dr. Matthias Burchardt

ÖkologiePolitik: Herr Dr. Burchardt, in den letzten Jahren schaffte es die „Digitale Bildung“, auf der politischen Agenda weit nach oben zu gelangen. Ist sie tatsächlich so wichtig? Oder was steckt hier dahinter?

Dr. Matthias Burchardt: Dahinter steckt neben den interessierten Branchenvertretern wie Bitkom auch wieder einmal die Bertelsmann Stiftung. Die ist bekanntlich in vielen gesellschaftlichen Bereichen aktiv und gibt die Richtung vor, im Bildungsbereich aber ist sie natürlich besonders ehrgeizig.

Warum gerade im Bildungsbereich?

Die Bertelsmann Stiftung und die Bertelsmann AG sind eng verflochten. Die Stiftung formt unsere Gesellschaft nach dem neoliberalen Modell um – und die AG profitiert davon. Als Medienkonzern hat die AG gleich ein doppeltes Interesse an der Durchsetzung „Digitaler Bildung“: Zum einen investierte sie große Summen in die Entwicklung diverser Lernsoftware, die sie natürlich nun den Schulen verkaufen will. Zum anderen hat sie – wie wohl alle IT- und Medien-Konzerne – einen großen Datenhunger. Stichwort: „Daten sind das neue Öl!“ Wer es schafft, seine Lernsoftware an den Schulen zu implementieren, erhält dadurch von allen Schülern praktisch ein umfassendes Persönlichkeitsprofil: eine Totalanalyse aller Stärken und Schwächen, aller Talente, Neigungen, Interessen, Vorlieben, Gewohnheiten und Stimmungen. Und „von allen Schülern“ bedeutet: in einigen Jahrzehnten quasi von allen Bürgern. Der Wert dieser Daten ist gewaltig. Die kann man dann für die eigenen Konzerninteressen nutzen, aber auch gewinnbringend verkaufen.

Zu welchem Zweck kauft jemand solche Daten?

Personalentwickler bei Unternehmen beispielsweise. Statt sich bei Stellenbewerbern auf die beschränkte Aussagekraft von Schul- und Hochschulzeugnissen verlassen zu müssen, erhalten sie ein exaktes psychologisches Profil. Das werten dann wieder spezielle Softwareprodukte aus, die vielleicht auch von Bertelsmann entwickelt und vertrieben werden. Ein anderes Beispiel sind Banken bei der Vergabe von Krediten. Die haben ein starkes Interesse, die Kreditausfallwahrscheinlichkeit möglichst exakt vorhersagen zu können. In China wird gewissermaßen „human ranking“ vorangetrieben. Da geht es nicht nur um finanzielle Bonität, sondern auch um politische Konformität als Kriterium bei der Vergabe von Sozialchancen. Wer die falschen Internetseiten aufruft, muss befürchten, dass die eigenen Kinder nicht zum Studium zugelassen werden.

Wie sieht „Digitale Bildung“ aus?

Das Erlernen von nützlichen Programmen zur Textverarbeitung, Präsentation oder Tabellenkalkulation hat ja noch durchaus Sinn. Das sind Kulturtechniken, die wir brauchen. Bildung am Gegenstand des Digitalen wäre auch wichtig: Wie werde ich vom Konsumenten vorgefertigter Produkte zum kreativen Gestalter einer humanen Zukunft? Was ist das kybernetische Modell? Was können künstliche Intelligenz und Big Data wirklich? Welche ethischen und politischen Probleme folgen aus der Massenüberwachung? Es geht leider bei den aktuellen Debatten nur darum, Geräte und Anwendungen in die Einrichtungen zu tragen, um Bildung und Erziehung immer mehr den Computern zu übertragen. Die Schüler lernen dann nicht mit dem Lehrer im Klassenverband, sondern individuell am PC. Lehrer werden dadurch weitgehend überflüssig. „Die Lernsoftware beobachtet und speichert minutiös, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jeder Mausklick, jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst und analysiert. Komplexe Algorithmen konzipieren individuelle Lernwege und schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler. Inhalt und Tempo passen sich fortlaufend an. Wahrscheinlich braucht es dann bald auch gar keine Prüfungen mehr, weil das Persönlichkeitsprofil, das die Software erstellt, viel aussagekräftiger ist.“ So wirbt Bertelsmann für die schöne neue Lernwelt.

Was sagen Sie als Bildungswissenschaftler dazu?

Wer den Stand der wissenschaftlichen Forschung kennt, der weiß, dass Smartphones und Tablets als Lernmittel im Unterricht eher schaden als nützen – von möglichen Gesundheitsschäden durch den vom WLAN erzeugten Elektrosmog ganz abgesehen. Wer die Bildung tatsächlich verbessern will, der investiert nicht in Technik, sondern in die Ausbildung und die Anstellung von Lehrkräften. Denn von zentraler Bedeutung ist auch in Zukunft die Vermittlung der traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie sind die Basis für Bildungsprozesse sowohl mit analogen als auch mit digitalen Medien. Dennoch beschlossen die Kultusminister der Länder im Juni 2017, den „Digitalpakt#D“ der Bundesregierung umzusetzen, um etwas von den 5 Mrd. Euro abzukriegen, die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka für den Ausbau der digitalen Infrastruktur an den Schulen in Aussicht stellte. Trotz fundierter fachlicher Bedenken wird also die Einführung der „Digitalen Bildung“ mit aller Macht vorangetrieben. Und eine treibende Kraft: Das ist eben unter anderem die Bertelsmann Stiftung.

Wieso ist die Bertelsmann Stiftung so einflussreich?

Sie verfügt über ein riesiges Vermögen, ausgefeilte Konzepte, hervorragende Kontakte zur Politik und über mediale Macht: Gruner & Jahr, Random House, RTL-Gruppe, um nur die wichtigsten Medienkonzerne zu nennen. Da die Stiftung als gemeinnützig anerkannt ist, kann sie ihre Aktivitäten praktisch über nicht zu zahlende Steuern finanzieren. Das alles versetzt sie in die Lage, auf vielen gesellschaftlichen Feldern wirkungsvoll zu agieren. Und das tut sie äußerst geschickt. Ihr interner Leitfaden „Die Kunst des Reformierens“ beschreibt sehr präzise, wie strategisch vorzugehen ist. Es sind letztlich immer drei Schritte: Agenda-Setting – Entscheidungsphase – Implementierung. Und für jeden Schritt gibt es konkrete Handlungsanweisungen.

Wie läuft ein Agenda-Setting ab?

Über die Veröffentlichung von Studien oder über inszenierte Ereignisse wie beispielsweise die berühmte Ruck-Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog sorgt man dafür, dass ein bestimmtes Thema Aufmerksamkeit erregt. Und die wird dann dauerhaft am Köcheln gehalten. Durch ständige Wiederholung weniger Kernaussagen, Botschaften und Slogans wird ein Klima erzeugt, das der Politik und Öffentlichkeit akuten Handlungsbedarf suggeriert. Und gleichzeitig dürfen diejenigen, die es wirklich betrifft, kaum oder gar nicht zu Wort kommen. Bertelsmann versteht es hervorragend, die Meinungsführerschaft zu erringen und zu verteidigen.

Was passiert in der Entscheidungsphase?

Das gezielte Erzeugen öffentlicher Aufregung dient dazu, Druck aufzubauen und politische Entscheidungen herbeizuführen. Die „Reform-Gegner“ werden dabei neutralisiert, indem man sie geschickt gegeneinander ausspielt. „Divide et impera“ – ein uraltes Prinzip, das auch heute noch hervorragend funktioniert. So können die „Reform-Gegner“ nichts verhindern, auch wenn sie eigentlich die Mehrheit darstellen.

Was geschieht bei der Implementierung?

Hier geht es nun darum, Menschen, die die „Reformen“ meist gar nicht wollten und bislang ausgeschlossen oder gegeneinander ausgespielt wurden, in den „Reformprozess“ einzubinden. Dafür dienen ein ausgeklügeltes Akzeptanzmanagement und die instrumentelle Nutzung von Gremien. Akzeptanz entsteht durch Identifikationsattrappen, die den Beteiligten suggerieren, ihre wesentlichen Anliegen kämen nun endlich zur Geltung – wenn auch in leicht veränderter Form. Gremien wahren den demokratischen Schein, doch schon durch deren Zusammensetzung wird dafür gesorgt, dass die „richtigen“ Mehrheiten garantiert sind und die „richtigen“ Entscheidungen fallen. Skeptiker, Kritiker und Gegner der „Reform“ werden einbezogen und kommen zu Wort, können aber keine wirkliche Gestaltungsmacht entfalten. Ihr „Input“ ist aber durchaus erwünscht, weil er bei der konkreten Umsetzung des „Reformrahmens“ nützlich sein kann. Grundsätzlich infrage gestellt werden darf die „Reform“ nicht mehr.

Und das funktioniert immer so einfach?

Damit es funktioniert, wird dauerhaft Druck erzeugt: durch gebetsmühlenartiges Wiederholen der Slogans, durch gezieltes Anstoßen und Lenken von Debatten, durch Diskreditieren der Kritiker, durch Etablieren von Standards und Modellen, durch Besetzen zentraler Begriffe. Eine wirksame Maßnahme ist auch das Schaffen strategischer Querschnittszentren – sogenannte „Steuergruppen“ oder „task-forces“ –, die oft ohne nachvollziehbare Legitimation „ von der Seite“ in bestehende Hierarchien intervenieren, Verfahrenssicherheit außer Kraft setzen und Zuständigkeiten wie Hütchenspieler hin und her schieben können. Hilfreich ist auch, eingespielte Strukturen zu zerschlagen und ein Klima von Konkurrenz und gegenseitigem Misstrauen zu schaffen.

Welches Politik- und Demokratieverständnis liegt dem zugrunde?

Die Grundhaltung der Bertelsmann Stiftung beurteilen Kritiker als post- oder prägnanter als antidemokratisch. Ergebnisoffene Diskurse – der Kern demokratischer Politik – sind unerwünscht. Politik besteht für die Bertelsmann Stiftung primär im Vollzug einer Anpassungsleistung. Zentraler Bezugspunkt ist nicht der Volks-, Parlaments- oder Regierungswille, sondern ein angeblich objektiver Reformzwang. Mit dem ökonomischen Kriterium der Effizienz wird eine Zäsur im Politikverständnis etabliert. Zwar bleiben die Kulissen der Demokratie und die politische Folklore wie Wahlen, Parlamentsdebatten und Skandalrücktritte bestehen, doch die Gestaltungsmacht wird dem verfassungsmäßigen Souverän und seinen ermächtigten Repräsentanten immer mehr aus der Hand genommen. Vor diesem Hintergrund wird auch die zunehmende Indifferenz der etablierten Parteien nachvollziehbar. Sie sind in letzter Konsequenz nur noch konkurrierende Organisationen, die bei Wahlen darum wetteifern, wer hinterher die „Reformen“ vornehmen darf. Die „Reformen“ werden als Sachzwänge dargestellt, dienen jedoch vor allem den Interessen einer kleinen Steuerungselite, die sich keiner Wahl stellen muss und niemandem Rechenschaft schuldet. Finanziert werden deren Aktivitäten aus Steuermitteln, denn entfiele die Steuerbegünstigung der Stiftung, könnte der Staat die vermeintlichen Wohltaten der Stiftung selbst vollbringen – vorausgesetzt, er beurteilt sie in einem demokratischen Diskurs überhaupt als sinnvoll.

Die Bertelsmann Stiftung fiel aber auch immer wieder durch Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung auf.

Ja, aber schon der Begriff „Beteiligung“ verschleiert die verfassungsmäßige Rolle des Volkes: Es ist der eigentliche Souverän, darf nun aber am „Katzentisch der Macht“ Platz nehmen und „großzügigerweise“ ab und zu mitreden. Oder nehmen wir die sogenannten „Bürgerhaushalte“, die in manchen Kommunen eingerichtet wurden: Die verschleiern die Tatsache, dass doch eigentlich der gesamte Kommunalhaushalt ein Bürgerhaushalt ist. Seltsam ist auch der von der Bertelsmann Stiftung kreierte Begriff der „Demokratiepolitik“: Er drückt aus, dass die Demokratie nur ein begrenzter Bereich oder ein Mittel des Politischen ist. Demokratische Prozesse und die Beteiligung der Bürger sind für die Bertelsmann Stiftung nur ein Mittel zum Zweck, nur dann sinnvoll, wenn sich durch deren Sachkenntnisse und Ideen die vorgegebenen Ziele besser erreichen lassen. Eine offensive Gestaltung oder Veränderung der Verhältnisse, aus denen die vermeintlichen Sachzwänge erwachsen, das ist überhaupt nicht vorgesehen.

Trotzdem hat die Bertelsmann Stiftung ein recht positives Image.

Ja, durchaus. Liz Mohn, Witwe des Bertelsmann-Patriarchen Reinhard Mohn und Aufsichtsratsmitglied der Bertelsmann Stiftung, pflegt eine freundschaftliche Nähe zu deutschen Spitzenpolitikern. Und 2001 veröffentlichte sie ein kleines Büchlein mit dem Titel „Liebe öffnet Herzen“. Sie versteht es hervorragend, sich und ihre Stiftung als selbstlosen Wohltäter zu inszenieren, der überall dort zur Stelle ist, wo Gesellschaft und Politik mit der „Zeitenwende“ überfordert sind. Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber würdigte den 2009 verstorbenen Reinhard Mohn als „ehrbaren Kaufmann“, der sich von „christlichen Werten“ leiten ließ und deshalb eine Stiftung ins Leben rief, die Erträge des Unternehmens in „gemeinwohlorientierte Projekte“ investiert.

Und um was geht es der Bertelsmann Stiftung wirklich?

Es geht ihr um eine ökonomistische Modellierung aller Lebensbereiche und sicher auch um das Florieren der Geschäftsfelder der Bertelsmann AG.

Herr Dr. Burchardt, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Buchtipps

Matthias Burchardt, Rita Molzberger (Hrsg.)
Bildung im Widerstand
Festschrift für Ursula Frost
Königshausen u. Neumann, Oktober 2017
206 Seiten, 39.00 Euro
978-3-8260-6067-0

Ullrich Mies, Jens Wernicke (Hrsg.)
Fassadendemokratie und Tiefer Staat
Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter
Promedia, August 2017
272 Seiten, 19.90 Euro
978-3-85371-425-6

Matthias Burchardt
Wider die neoliberale Zurichtung des Menschen
Pad, März 2017
76 Seiten, 5.00 Euro
www.labournet.de/?p=117084

Klaus Zierer, Joachim Kahlert, Matthias Burchardt (Hrsg.)
Die pädagogische Mitte
Plädoyers für Vernunft und Augenmaß in der Bildung
Klinkhardt, Juni 2016
250 Seiten, 18.90 Euro
978-3-7815-2101-8
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Links

Bundesministerium für Bildung und Forschung
DigitalPakt#D
http://t1p.de/y6m7

Stiftung Bildungspakt Bayern
Digitale Schule 2020
http://t1p.de/xtm3

Bertelsmann Stiftung
Digitalisierung der Bildung
www.digitalisierung-bildung.de

Bündnis für humane Bildung
aufwach(s)en mit digitalen Medien
www.aufwach-s-en.de

LobbyControl
Bertelsmann Stiftung
https://lobbypedia.de/wiki/Bertelsmann_Stiftung