Szene aus dem deutschen Dokumentarfilm „Pre-Crime“ - www.precrime-film.de

Demokratie & Recht

„Mit welchem Recht gestalten Konzerne unsere Gesellschaft?“

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Eine Gruppe engagierter Bürgerinnen und Bürger erarbeitete eine „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ und übergab diese am 5. Dezember 2016 in Brüssel den Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Eine der Initiatorinnen erläutert die Hintergründe und die Ziele dieser Aktion – und wie es nun weitergeht.

Interview mit Yvonne Hofstetter

ÖkologiePolitik: Frau Hofstetter, wozu braucht es eine „Charta der Digitalen Grundrechte“?

Yvonne Hofstetter: Wir haben zwar in Europa die bürgerlichen Grundrechte definiert, aber die müssen heute in unserer zunehmend digitalisierten Gesellschaft ausgelegt und konkreter formuliert werden. Und natürlich wollen wir mit der Charta auch eine breite öffentliche Debatte über die Zukunft der digitalen Gesellschaft auslösen. Und über die Frage, wie man sie politisch gestalten kann. Der Text, den wir den Abgeordneten des Europäischen Parlaments übergaben, versteht sich deshalb auch nicht als Endfassung, sondern als ein erster Entwurf. Als ein Entwurf, dessen inhaltliche Qualität durch eine rege Diskussion und durch neue Anregungen reifen soll. Da kann es dann durchaus um jedes einzelne Wort gehen.

Wie haben die Abgeordneten auf die Charta reagiert?

Deutschland ist nicht das einzige Land in der EU, das bestrebt ist, die Grundrechte in der digitalen Gesellschaft zu stärken. Italien und Frankreich denken auch darüber nach, außerhalb der EU hat Brasilien einen Entwurf vorgelegt. Die Reaktionen auf den deutschen Diskussionsentwurf waren sehr geteilt. Es gab Äußerungen von „Das brauchen wir nicht!“ bis „Das ist Stasi 2.0!“. Ich stelle immer wieder zweierlei fest: Erstens, dass der Gesetzgeber nur ungern regulieren will, weil er glaubt, dies behindere das Wirtschaftswachstum. Und zweitens, dass unsere Gesellschaft mit einem Verlust an Wahrheit zu kämpfen hat. Wieso ist jemand, der die Grundrechte der Bürger stärken will, „Stasi 2.0“? Gerade das Gegenteil ist doch der Fall! Der größte Aufreger war aber wohl die Überschrift des Entwurfs.

Warum wählten Sie die Europäische Ebene?

Zum einen, weil wir Initiatorinnen und Initiatoren hier leben. Zum anderen aber, weil Europa hier ein Vorreiter sein kann und auch sein sollte, ein Vorbild für den Rest der Welt. Das gilt etwa für die EU-Datenschutzgrundverordnung. Nirgendwo auf dem Globus gibt es ein vergleichbares Gesetz zum Schutz der Privatsphäre der Bürger im Internet. In den USA dominieren quasi monopolistische Konzerne. Sie verfolgen ihre eigenen Interessen, streben danach, ihren Profit zu vergrößern und ihre Machtposition auszubauen. China dagegen ist auf dem Weg in eine Technokratie. Die Digitalisierung dient der Regierung zur Sicherung und zum Ausbau ihrer Macht sowie zur Stärkung ihres autoritären Zentralstaates. In Europa dagegen sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch stark ausgeprägt und in der Gesellschaft verwurzelt. Wenn auf dieser Welt digitale Grundrechte durchgesetzt werden können, dann wohl zuerst bei uns in Europa.

Wie sieht die Digitalisierung in China genau aus?

Dort werden von den Bürger rund um die Uhr sämtliche Daten gesammelt und ausgewertet. Sämtliche Online-Daten, die der Staat erfassen kann: über Smartphones, Fitnessarmbänder und andere Geräte. Aus diesen Daten wird ein Ranking erstellt. Das hat dann eine konkrete Rückkopplung auf den Alltag: Gutes Verhalten wird belohnt, bringt Vorteile, schlechtes Verhalten wird bestraft, bringt Nachteile. Ein „guter“ Bürger darf eine Auslandsreise machen, bekommt den Staatsjob oder die Erlaubnis für ein zweites Kind. Und was passiert mit dem „schlechten“ Bürger? Jeder Selektionsmechanismus, der zwischen berechtigten und unberechtigten Menschen, zwischen wertvollen und wertlosen Menschen unterscheidet, führt in ein Zeitalter der Barbarei – wir kennen das aus unserer eigenen Vergangenheit. Ein ähnliches Ranking-System etabliert sich allerdings aktuell auch in den USA. Die Chicagoer Polizei beispielsweise wertet die Daten ihrer Bürger aus: die Musik, die sie hören, die Stadtteile, in die sie gehen, und andere Indikatoren. Ein Algorithmus errechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der jede Person eine Straftat begeht. Und nur aufgrund dieser errechneten Wahrscheinlichkeit übt die Polizei dann starken Druck auf diese Personen aus. Wie gesagt: nur aufgrund einer von einem Algorithmus errechneten Wahrscheinlichkeit, nicht aufgrund einer tatsächlich begangenen oder zumindest geplanten Straftat. Das widerspricht völlig unserem eigenen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Sehr gut zeigt diese Polizeipraxis übrigens der 2017 veröffentlichte Dokumentarfilm „Pre-Crime“. Den sollte sich jeder unbedingt anschauen!

Dominierend sind in den USA aber die großen IT-Konzerne. Die preisen ihr Tun oft auch mit Visionen einer besseren Gesellschaft.

Die Visionen, die da vor allem von den Silicon-Valley-Konzernen verbreitet werden, muss man sich schon genauer anschauen. Der Mensch wird meist als sehr unvollkommenes Wesen angesehen, das es mittels digitaler Technik zu verbessern gilt. Mit klassischem Humanismus hat das nichts mehr zu tun. Es geht hier um eine Perfektionierung im Sinne der Konzerne: Der Mensch soll leistungsfähiger und angepasster werden, nicht freier und vernünftiger. Mit welchem Recht gestalten Konzerne unsere Gesellschaft? Die Gestaltung der Gesellschaft ist Auftrag an den Gesetzgeber und muss dem Gemeinwohl dienen und nicht den Profitinteressen von Konzernen. Die Einzigen, die unsere Gesellschaft aktiv gestalten dürfen, sind die Bürger selbst. Und die von ihnen gewählten Politiker. Es kann nicht hingenommen werden, dass global operierende Technologie-Konzerne ins Uhrwerk der Gesellschaft eingreifen, ohne zu wissen, was sie tun, und dabei die Grundrechte der Bürger massiv verletzen. Unsere demokratischen Verfassungen sind darauf nicht richtig vorbereitet. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, dies zu berichtigen. Das Gesetz muss für die neuen Herausforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, konkretisiert werden. Er darf hier keine rechtsfreien Räume dulden, sondern muss klare Grenzen setzen.

Manche erhoffen sich von der durch die Digitalisierung ermöglichten Transparenz positive Effekte.

Ich nicht! Damit wende ich mich ganz entschieden gegen einen starken Trend. Wir haben inzwischen ja schon eine ganze Transparenz-Industrie errichtet. Aber wie Hildegard von Bingen so schön sagte: „Der Mensch soll nicht alles wissen.“ Ohne Geheimnisse kann sich unsere Persönlichkeit nicht positiv entwickeln. Und wenn ich nicht alles über meinen Mitmenschen weiß, dann kann ich besser mit ihm in Frieden leben. Diskretion ist eine Voraussetzung für den Frieden unter den Menschen.

Frau Hofstetter, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Buchtipps

Yvonne Hofstetter
Das Ende der Demokratie
Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt
und uns entmündigt
Bertelsmann, September 2016
512 Seiten, 22.99 Euro
978-3-570-10306-7

Yvonne Hofstetter
Sie wissen alles
Wie Big Data in unser Leben eindringt und warum wir
um unsere Freiheit kämpfen müssen
Penguin, August 2016
352 Seiten, 10.00 Euro
978-3-328-10032-4
.


Links

Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern
Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union
www.digitalcharta.eu

Forschungsnetzwerk zu Überwachung, Technologie und Kontrolle
Surveillance Studies
www.surveillance-studies.org

Monika Hielscher, Matthias Heeder
Pre-Crime
Dokumentarfilm, 2017, 88 Minuten
www.precrime-film.de

Michael Lohmann
Der Traum von schrankenloser Videoüberwachung
Telepolis, 30.01.2018
https://heise.de/-3952482

Heribert Prantl
Die digitale Inquisition hat begonnen
Süddeutsche, 27.01.2018
http://t1p.de/nyku

Jörg Diehl, Boris Kartheuser
Ich weiß, was du heute tun wirst
Spiegel, 27.01.2018
http://t1p.de/ss3i

Harald Schumann, Elisa Simantke
Grenzenlose Überwachung
Tagesspiegel, 11.12.2016
http://t1p.de/gmat

Svea Eckert, Jasmin Klofta
Nackt im Netz
NDR, Panorama 3, 01.11.2016, 9 Minuten
http://t1p.de/7dhn