Franz Kafka, 1883-1924, beschrieb bedrohlich-absurde Situationen. – Foto: Anonym 1923/wikipedia.org

Kompass Orange

Überall Kafka

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„Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst Du den Weg erfahren?‘ ‚Ja‘ sagte ich ‚da ich ihn selbst nicht finden kann‘ ‚Gibs auf, gibs auf‘ sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“

Dieser kleine nachgelassene Prosatext von Franz Kafka mit dem Titel „Gibs auf“ wird gerne im Deutschunterricht verwendet. Die Interpretation ist wie immer bei Kafka auf den ersten Blick leicht und wird dann immer schwerer, je länger man nachdenkt: Eine Aufgabe, die Suche nach dem Bahnhof und das Erreichen eines Zuges, droht zu scheitern. Statt möglicher Hilfe erhält der ratlose Mensch nur Entmutigung. Ausgerechnet von einer Autoritätsperson, die eigentlich bei der Problemlösung zur Seite stehen könnte, kommt nur Hohn und Spott.

Ich möchte (wie ein braver Schüler) die Lehre aus der Parabel ins Positive wenden: Was Kafka hier ausdrückt – die Unsicherheit über Ziele und Wege sowie die Verweigerung von Hilfe und Rat –, mag eine bittere Erfahrung vieler Menschen sein. Sie darf uns aber nicht von Aktivität und Leidenschaft für Problemlösungen abhalten. Aufgeben ist keine demokratische Tugend. Es ist auch falsch, die Lösung immer von anderen zu erwarten. Die eigene Suche nach dem Bahnhof muss fortgesetzt werden. Wahrscheinlich fährt auch später noch ein Zug. Der Hohn einer mächtigen Autorität schmerzt, darf aber die eigenen Kräfte nicht lähmen.