Das Links-Rechts-Schema prägt auch die Sitzordnung im Bundestag. – Foto: simonschmid614/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Mitte ist die Tugend des Maßes“

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In der Politik wird alles, was zwischen Links- und Rechtsextremismus liegt, als „Mitte“ bezeichnet – und bezeichnet sich selbst auch gerne so. Doch welche Positionen sind damit eigentlich gemeint, sind für sie charakteristisch? Bedeutet der Begriff nur „unideologisch“ und „pragmatisch“? Für einen ehemaligen Bundestagsabgeordneten hat die „Mitte“ auch etwas mit bestimmten Werten zu tun.

Interview mit Prof. Dr. Matthias Zimmer

 

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Zimmer, würden Sie sich als ein Vertreter der „Mitte“ bezeichnen?

Dr. Matthias Zimmer: Ja. Ich neige nicht zu Extremen, ordne mich selbst weder als „links“ noch als „rechts“ auf der politischen Skala ein, komme aus der christlich-sozialen Tradition und katholischen Soziallehre. Freilich ist „Mitte“ ein weiter Begriff, der unterschiedlichste inhaltliche Ausfüllungen zulässt: von Liberalen über Christdemokraten und Grünen bis hin zu Sozialdemokraten und manchen Linken. Mitte ist eher eine Selbstbeschreibung, eine Selbsteinordnung – und nicht immer ganz konsistent.

Was bedeutet der Begriff „Mitte“?

Das Schema „rechts – links“ stammt aus der Paulskirche und ist auch im Bundestag noch präsent. Es prägt dadurch auch unsere politischen Anschauungen und Einordnungen. Nicht immer überzeugend, denn „links“ und „rechts“ sind keine Pole, sondern haben bisweilen Berührungspunkte. Wenn ich den Begriff „Mitte“ dagegen im Gegensatz zu „rechts“ und „links“ inhaltlich füllen wollte, würde ich zunächst sagen: „Mitte“ ist die Tugend des Maßes, die Ablehnung des Radikalen, ein Bekenntnis zur Gewaltfreiheit sowie zu Regeln und Normen des demokratischen Rechtsstaates. Dabei unterliegt das, was als „Mitte“ verstanden wird, durchaus Veränderungen. Es ist also kein starres Modell, sondern fluid – wie ja auch „rechts“ und „links“. Freilich: Die Einordnungen sind mittlerweile schwierig geworden. Die Lebensstile werden damit nur unzureichend abgedeckt, sind aber für die politische Verortung heute vermutlich entscheidender.

Ihr neues Buch heißt „Alte Werte in neuer Zeit“. Welche „alten Werten“ meinen Sie?

Die Werte, die unser Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft bestimmen: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Sie sind nicht neu, müssen immer nur neu interpretiert und gelebt werden, weil sich unsere Gesellschaft ändert. Für mich sind auch Grundprinzipien wichtig: Personalität als Ausdruck eines Menschenbilds, das den Menschen als Träger unveräußerlicher Würde denkt, aus der die Menschenrechte entspringen. Solidarität und Subsidiarität als horizontale und vertikale Gestaltungsprinzipien einer Gesellschaft, die dem Prinzip der Personalität Geltung verschaffen. Das Gemeinwohl als regulative Idee einer Gesellschaft, als jene Form der Gerechtigkeit, die die bestmögliche Entfaltung aller zulässt. Diese Werte sind nicht neu und gehen weit hinter den modernen Staat zurück, sind aber nach wie vor aktuell. Die Idee des Gemeinwohls ziehe ich der Idee des Klassenkampfs ebenso vor wie der Idee des freien Marktes. Das sind beides Kampfideologien. Wettbewerb ohne Regeln ist ebenso brutal wie Klassenkampf. Solidarität bezieht sich auf alle Menschen, nicht nur auf diejenigen, die zur richtigen Klasse gehören.

Was meinen Sie mit „neuer Zeit“?

Das fängt schon mit den Möglichkeiten des Digitalen an: von der Kommunikation bis hin zur Unterhaltung. Das ändert natürlich auch Gesellschaft und die Art, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir unsere Freizeit gestalten, wie wir arbeiten. Aber sehr viel dramatischer finde ich die Gefahr, die vom Klimawandel ausgeht. Heute können wir Gemeinwohl nicht mehr nur nationalstaatlich denken, sondern müssen es global interpretieren. Wir brauchen, wie es Hans Jonas einmal ausgedrückt hat, eine „Ethik der Fernverantwortung“, die unser politisches Handeln durchtränkt. Personalität und Menschenrechte enden nicht an den Grenzen des Nationalstaates.

Der Untertitel Ihres Buchs heißt „Christliche Verantwortung und praktische Politik“. Was bedeutet das?

Zunächst einmal: „Christlich“ bedeutet, dass der Wert eines Menschen keine Funktion von Marktmechanismen, von Leistungsideen oder Nützlichkeitserwägungen ist. Das ist das zugrunde liegende Prinzip. Daraus kann ich wunderbar eine theoretische, eine ideale Welt entwerfen. Aber das kann und darf nicht der Anspruch der Politik sein. Hier muss es darum gehen, aus einem solchen christlichen Grundverständnis heraus ganz praktische Lösungen einzufordern – ausgehend von dem, was ist. Das habe ich versucht: nämlich Antworten zu geben, was wir machen können, was wir machen sollten, etwa bei der Frage der Bodenpolitik, der Pflege, dem Klima, dem Umgang mit Arbeitslosen. Der Mensch ist Ausgangspunkt und Ziel allen wirtschaftlichen Handelns. Das ist, wenn man es ernst nimmt, eine Botschaft mit gesellschaftsverändernder Kraft.

Derzeit droht sich unsere Gesellschaft zu spalten. Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen?

Das Grundgesetz betont die Würde des Menschen. Sie zu achten und zu schützen, ist die Aufgabe aller staatlichen Gewalt. Nicht nur die Würde des Deutschen, nicht nur die des Menschen weißer Hautfarbe, nicht nur die der Männer, sondern die Würde aller Menschen. Das ist eine starke normative Bindung von Politik ganz jenseits identitärer Gedanken und Konzepte. So wichtig der achtsame Umgang miteinander ist, er darf nicht in neuen Frontstellungen eines normativen Rigorismus erstarren, der Gefahr läuft, sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben. Wir sollten Menschen nicht über ihre Gruppenzugehörigkeit definieren und einzelne Gruppen dann als besonders schützenswert deklarieren, sondern zur Mitte hin integrieren. Eine Gesellschaft, die in voneinander abgegrenzte Gruppen zerfällt, in der jeder gewissermaßen seine eigene Identitätsinsel bewohnt, kann keine gemeinsame Solidarität und keine Gemeinschaft erfahren. Ich halte das für völlig eindimensional. Insofern waren die Verfassungsgeber klug, die Würde des Menschen so stark zu betonen. Das schützt vor der Ansteckung durch Ideologien, die den Menschen über die Leiste von Klasse, Rasse oder Markt bürsten wollen, aber auch vor identitären Verkürzungen. Einen bestimmten Prozentsatz an Populisten, Extremisten und Demokratieverächtern wird es immer geben. Gegenüber diesen müssen wir Demokraten deutliche Grenzen setzen. Und klar benennen, wenn der Boden unserer Verfassung verlassen wird. Wer sich bei der AfD anbiedert, verrät die Mitte.

Herr Prof. Zimmer, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Matthias Zimmer
Alte Werte in neuer Zeit
Christliche Verantwortung und praktische Politik
Nomen, März 2021
192 Seiten, 15.00 Euro
978-3-939816-76-8

Matthias Zimmer
Person und Ordnung
Einführung in die Soziale Marktwirtschaft
Herder, Februar 2020
352 Seiten, 35.00 Euro
978-3-451-39984-8