
Abschied von Vernunft, Demokratie, Europa?
15. September 2025
Nicht „Zeitenwende“, sondern „ZeitenWenden“ heißt das neue Buch der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Es widmet sich den vielschichtigen Verwerfungen und Fehlentwicklungen unserer Zeit. Die Betrachtungen beginnen bei kleinen Dingen des deutschen Alltags und enden beim geopolitischen Schachspiel um Macht und Rohstoffe.
von Günther Hartmann
Die Ursachen und die Verursacher für das heutige Unbehagen sind zahlreich. Ulrike Guérot schont in ihrer Analyse niemanden: „Es sind die Intellektuellen, die jene Diskurse von Identität, Gender und Diversity erfunden haben, um über Class und Chancengerechtigkeit nicht mehr reden zu müssen. Es sind die Kulturschaffenden, die mit Trigger-Warnungen die Infantilisierung der Gesellschaft mitbetreiben und dabei Grundprinzipien des Humanismus verraten. Die Shitbürger, wie Ulf Poschardt schreibt, sind es, die Anstand, Fleiß und Ehrlichkeit verraten haben, aus denen aber der Kitt gemacht ist, der eine Republik zusammenhält.“ So sind wir „in einer quasi kindischen Gesellschaft, die nur noch Schutz und Prävention sucht“, gelandet.
Kampf gegen einen Feind als Ablenkungsmanöver
So eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft verliert zunehmend die Orientierung, sehnt sich nach simplen Antworten, lässt sich gut steuern. Richtung Krieg. Doch hinter dem unablässig verbreiteten Bedrohungsszenario vermutet Guérot etwas anderes: „Das soll wohl von den ganz grundsätzlichen Veränderungen ablenken, die gerade gleichsam ‚unter Deck‘ passieren. Krieg ist ein fundamentaler Reset für eine Gesellschaft, eine Art Ablenkungsmanöver. Wenn eine Gesellschaft in ihren Gewohnheiten umgepflügt werden soll, wenn Dinge durchgesetzt werden sollen, auf die sich freie, denkende und mündige Bürger niemals einlassen würden, dann wird eben Krieg gemacht oder sonst ein Notstand ausgerufen.“
Guérot verweist dabei auf den Politikwissenschaftlicher Johannes Agnoli, der in seinem 1968 erschienenen Klassiker „Die Transformation der Demokratie“ konstatierte, dass immer dann, wenn ein gewünschter Wandel nicht schnell genug durchgesetzt werden kann, ein Notstand erzeugt wird. „Dann rufen alle nach Sicherheit, Autorität und starker Führung“, stellt Guérot fest. „Und am Ende nach Krieg, der das freigesetzte gesellschaftliche Ressentiment binden und Einheit genau da vorgaukeln soll, wo man sich auf sonst nichts mehr einigen kann: im Kampf gegen einen Feind.“
Feinde gibt es aktuell gleich mehrere: Putin, Trump – und die AfD. Die wird wegen ihres undemokratischen Denkens mit Mitteln bekämpft, die unsere Demokratie abbauen. „‚Delegitimierung des Staates‘ war ein Kampfbegriff von Ex-Innenministerin Nancy Faeser, bei der man sich oft fragen konnte, ob sie eigentlich das Grundgesetz kennt“, bemerkt Guérot. „Wie Kafkas Käfer hat sich Deutschland gleichsam über Nacht zu etwas gewandelt, das man nicht mehr wiedererkennt.“ Schuld an der wachsenden Skepsis und Ablehnung unserer Demokratie ist aber nicht Rechts, sondern Oben.
Wissen braucht Weisheit, Demokratie braucht Gemeinsinn
Guérot zitiert die berühmte Warnung des italienischen Schriftstellers Ignazio Silone: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus.‘ Er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus.‘“ Und sie beklagt, „dass sich Wahrheit und Faktizität verschoben haben, dass die Vernunft aus den Angeln gehoben wurde, dass das Denken an sich, die utopische Idee und mit ihr jeder Hauch von Zukunft verlustig gegangen sind. Die eigentliche Zeitenwende ist, dass die in Europa erzählte Welt nicht mehr real ist und die reale Welt in Europa nicht mehr erzählt wird“.
Wie die Welt in Wirklichkeit aussieht und warum sie so ist, wie sie ist, das beschreibt Guérot ausführlich in den drei Kapiteln „Adieu, Vernunft“, „Adieu, Demokratie“ und „Adieu, Europa“. Mit beeindruckendem Scharfsinn zeigt sie komplexe Zusammenhänge auf und eröffnet neue Perspektiven. Sie schließt mit der Hoffnung, Europa möge aufwachen und begreifen, dass man „Demokratie nicht auf Dauer mit Narzissmus, Hochmut, Lügen und Bequemlichkeit gestalten kann. Sondern mit sozialer Hingabe, Demut, Wahrheit und Mühe. Dass Wissen ohne Weisheit irrelevant ist. Und dass Demokratien Gemeinsinn brauchen, nicht atomisierte Individuen“. Pflichtlektüre!
Ulrike Guérot
ZeitenWenden
Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart
Westend, Mai 2025
224 Seiten, 24.00 Euro
978-3-86489-485-5
Onlinetipps
Albert Klütsch
Keine Zeitenwende – ein Epochenbruch
Overton, 04.08.2025
www.t1p.de/azoh9
Irmtraud Gutschke
Ulrike Guérot: Der Wahnsinn hat Methode
NachDenkSeiten, 25.06.2025
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Interview mit Ulrike Guérot
„Es geht nicht um Logik, es geht um Propaganda“
NachDenkSeiten, 03.06.2025
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„Ist der Frieden für Europa ‚zu langweilig‘ geworden?“
NachDenkSeiten, 18.02.2025
www.nachdenkseiten.de/?p=128848
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„Europa braucht ein klares Ziel“
ÖkologiePolitik, 07.03.2019
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