Leserbriefe

Leserbrief zu Günther Hartmanns „Mehr Bürgerlichkeit!“

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Peter Hiltner aus 95145 Autengrün schreibt:

In dem besprochenen Buch „Erwachsenensprache“ von Robert Pfaller hat mich die zentrale Verwendung des Worts „Infantilisierung“ aufgeschreckt. Tatsächlich ist der Artikel weithin sehr bedenkenswert, aber es ist unverständlich, warum dafür die Kinder als Geiseln genommen werden. Hier gibt es m.E. dringend etwas zurechtzurücken, und das möchte ich in diesem Beitrag versuchen.

Das Wort „infantil“ und die Warnung vor einer „Infantilisierung der Gesellschaft“ beinhalten eine abgrundtief abwertende Sicht auf Kinder und gleichzeitig eine Glorifizierung der „reifen“ Erwachsenen, die ich als höchst anmaßend empfinde und wo ich mich frage, mit was in aller Welt man diese begründen oder rechtfertigen möchte. Scheinbar muss man die aber gar nicht begründen, denn sie steht in einer jahrtausendealten Tradition: Egal ob man Kinder nur als unfertige Schreihälse begreift, die ab einem gewissen Alter rüde ins Erwachsenenleben hineinzuziehen sind, oder ob man sie als Gegenstand irgendwelcher pädagogischen Konzepte behandelt – es ist immer die besserwisserische Erwachsenenattitüde den Kindern gegenüber.

Und so unterstellt das Buch von Pfaller, Kinder seien nur zur quengeligen Wahrnehmung ihrer kleinen Befindlichkeiten fähig und warnt vor einer entsprechenden „Infantilisierung der Gesellschaft“. Die Warnung vor diesem Phänomen z.B. im Zusammenhang mit der „identitären Bewegung“ ist zweifellos berechtigt, aber das als „Infantilisierung“ zu bezeichnen und die Kinder dafür als schlechtes Beispiel zu brandmarken ist eine Unverschämtheit.

Wichtiger als sich darüber aufzuregen ist es freilich, das als Blindheit gegenüber den positiven Qualifikationen zu erkennen, die Kinder im frühen Alter noch haben und die die Gesellschaft dringend bräuchte. Ich würde mir wünschen, dass Pfaller hier etwas mehr von der objektiven kritischen Reflexion einbrächte, die er selbst fordert. Es ist gar nicht so schwierig, eine Liste von solchen Qualifikationen aufzustellen, und einige möchte ich jetzt nennen:

  • Kinder vergeben immer, sie tragen nichts nach. Und wie bei Gott ist danach vergessen, dass es jemals etwas zu vergeben gab. Die Psychologin Alice Miller schreibt „Die Toleranz der Kinder für ihre Eltern kennt keine Grenzen“, in einer Erzählung über das Leben von Straßenkindern habe ich von „eyes so forgiving“ gelesen, usw.. Vielleicht ist bereits das das Wesentliche an Jesu Wort ,,Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr das Königreich Gottes nicht sehen“. Vorsorglich sei angemerkt, dass man dieses Wort aus der engen religiösen Sphäre herausholen muss: Jesu Worte über die Kinder stehen außerhalb der Vorstellungen von Theologen und Moralpredigern, und das „Königreich Gottes” ist von Jesus nicht jenseitig gemeint, sondern es ist der konkrete und polemische Gegenentwurf zu den Königreichen der Erwachsenen, zu den Imperien, die „ihre Macht über die Menschen missbrauchen”.
  • Es gibt bei Kindern keine „Innerlichkeit“ in Abgrenzung von einer äußeren Existenz. Kinder bis zum Alter von 6 oder 7 Jahren, manche vielleicht auch noch länger, sind immer ganz (deshalb wäre eine rein innerliche, psychologisierende Deutung der Aussagen Jesu über die Kinder falsch und eine von Jesus nicht gemeinte Idealisierung). Wir können weiterhin die Seminarindustrie zum „Einklang mit sich selbst“ oder zur „Work-Life-Balance“ etc. füttern, oder wir können einfach von den Kindern lernen. Und weil hier vor einigen Jahren ein ausführlicher Artikel von mir über das Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept der Tora (die sogenannte „Sabbat-Ökonomie“) zu lesen war, füge ich hinzu: Zum Ganzsein der Kinder gehört sicher auch, dass sie nicht analysieren und berechnen. Kinder haben zwar ein elementares Verständnis für Gerechtigkeit im Sinn des ,,Genug, aber nicht zuviel, für alle“, aber sie kennen noch kein Verdienst- und Leistungskonzept, von dem sie das abhängig machen – das könnte vielmehr das erste Erwachsenenkonzept sein, das sie lernen, wenn wir ihnen Belohnungen (möglicherweise noch abgestufte, um ,,gerecht“ zu sein!) für Wohlverhalten und Leistung im Erwachsenensinn zukommen lassen!
  • Kinder verstehen, sorgenfrei zu leben. Das ist exakt das Kriterium, nach dem Jesus in der Bergpredigt den Unterschied zwischen Glaubenden und Heiden definiert. Die Erwachsenen verstehen das nicht mehr, und dementsprechend konstruieren sie, mit allen von Gott nicht gewollten Konsequenzen, ihre Welt: nicht als Ort eines Spiels, sondern als abgegrenzte Jagdgebiete. Das freilich lernen die Kinder in der entsprechenden Umgebung nur zu bald. William Goldings Roman „Herr der Fliegen“ zeigt das sehr genau, missversteht es aber leider als grundlegende Eigenschaft bereits der Kinder. Und nochmals mit Verweis auf meinen Sabbatökonomie-Artikel möchte ich erwähnen, wie schon im Sabbat-Psalm 81 Gott darüber klagt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus der Fronarbeit Ägyptens. Tu deinen Mund auf! Ich will ihn füllen. Doch Israel hat mich nicht gewollt. Da überließ ich sie ihrem verstockten Herzen, und sie handelten nach ihren eigenen Plänen. Ach dass doch mein Volk auf mich hörte, dass Israel gehen wollte auf meinen Wegen!“
  • Weil Kinder immer ganz sind und ganz offenbar noch ihre „Ehre vom Vater statt von Menschen nehmen“ (auch dieses Jesuswort müsste aus der engen religiösen Sphäre herausgeholt werden), haben sie auch keine Scheu davor, nackt zu sein. Von sich aus könnten sie das – wenn wir sie ließen – problem- und bedenkenlos weit über das Alter hinaus, in dem wir meinen, die Entwicklung eines „natürlichen Schamgefühls“ feststellen zu können. Wir lassen sie aber nicht, und das „natürliche Schamgefühl’“ ist nichts als ihr Reflex auf unsere implizite Lektion, dass man sich voreinander schützen und voneinander abgrenzen muss – eine Lektion in „zivilisatorischem Schamgefühl“, die sie durch das kindliche Nachahmungslernen bald und gründlich lernen. Das Reden vom „natürlichen Schamgefühl“ dient dann nur dazu, unsere eigenen Fehlleistungen zu verschleiern und den Blick in den Spiegel zu verweigern. Gewiss haben Kinder ein natürliches Schamgefühl, aber das bezieht sich auf Dinge, wo unsere Gesellschaft schon lange keines mehr hat, z.B. die kapitalistische Massentierhaltung. Was die Kinder in Wirklichkeit durch das Nachahmungslernen entwickeln, ist nicht ein Schamgefühl, sondern ein Bedürfnis sich zu hüten, zu kalkulieren und vor den anderen etwas aus sich machen zu wollen, und letztlich das Spiel „Wer ist der Größte unter uns?“ zu spielen. Man lese dazu etwa den Wikipedia-Artikel zur „Leistungsgesellschaft“: „… eine Gesellschaft, in welcher die Verteilung angestrebter Güter wie Macht, Einkommen, Prestige und Vermögen …“. Das sollen Güter sein? Ich höre die kleinen Kinder im Hintergrund lachen.

Es gibt Anlass, in Hinblick auf das hier erfolgte Zitieren von einigen Jesus-Worten festzuhalten, dass niemand Angst zu haben braucht, sich damit mit der Kirche oder der christlichen Religion gemein zu machen, weil diese sich nach genau diesen Worten seit 2000 Jahren nicht richten.

Kinder sind uns gegeben, damit wir Erwachsenen die Chance haben, von ihnen zu lernen. Das ist in unserer verfahrenen Welt tatsächlich unsere einzige Chance. Aber solange wir unser Denken mit so etwas wie dem nur abfällig zu verstehenden Wort „infantil“ blockieren und von einer guten Erziehung zu „reifen Erwachsenen“ faseln, wird auch diese Chance Generation für Generation ungenutzt verstreichen.

Dass wir von unserer anthropozentrischen Denk- und Lebensweise loskommen müssen, ist in vielen Kreisen und vor allem in der ÖDP inzwischen angekommen. Für unsere erwachsenenfixierte, adultozentrische Denk- und Lebensweise steht diese Einsicht noch aus, und sie ist zweifellos schwieriger zu gewinnen. Wie können wir uns von den Imperien befreien und zu einem kindlichen Erwachsensein im Sinne Jesu finden? Wenn wir eine Antwort auf diese Frage finden wollen, müssen wir in unserem Denken und Handeln einen Respekt und eine Demut vor Kindern entwickeln, wie es sie wohl noch nie in der Geschichte gegeben hat. Aber dann ginge das Anthropozän zu Ende, und die Erde würde von „Homo sapiens“ genesen.

 


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