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Wirtschaft & Soziales

„Eine geschickte Marketingstrategie der IT-Branche“

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Seit 2011 ist „Industrie 4.0“ ein zentrales Schlagwort in der Wirtschaftspolitik. Seit 2013 gibt es dazu von der Bundesregierung und Wirtschaftsverbänden eine gemeinsame Online-Plattform. Doch was steckt dahinter? Sollen Computer und Roboter uns Menschen die Arbeit erleichtern? Oder uns ersetzen und arbeitslos machen?

Interview mit Matthias Martin Becker

ÖkologiePolitik: Herr Becker, welche Auswirkung hat die Digitalisierung auf die Arbeitswelt?

Matthias Martin Becker: Prinzipiell zielt die Digitalisierung immer darauf ab, die Arbeit zu standardisieren, zu vereinfachen, transparent zu machen und zu verdichten. Je nach Branche wirkt sich das aber recht unterschiedlich aus: in der Industrie anders als in der Landwirtschaft, der Pflegearbeit oder im Bildungsbereich. Die Anwendungen sind dabei äußerst vielfältig. In Logistik-Zentren z. B. werden schon heute Algorithmen eingesetzt, die in Echtzeit die Wege der dort Arbeitenden optimieren. Sie erhalten auf mobilen Endgeräten oder akustisch über Kopfhörer automatisch generierte Anweisungen, mit denen sie durch die Hallen und Regalreihen zum richtigen Fach und Artikel gelenkt werden. Die Arbeitsgeschwindigkeit wird gesteigert, jede noch so kleine Abweichung von den Vorgaben zentral erfasst. Das macht die Arbeit sicher nicht interessanter und befriedigender, sondern anstrengender und öder.

Verstärkt die erhöhte Taktung das Risiko eines Burn-outs oder anderer Krankheiten?

Mit Sicherheit, jedenfalls in Kombination mit prekären, sogenannten „atypischen“ Arbeitsformen. Psychologen wissen um die Schlüsselrolle von Selbstwirksamkeitserfahrungen für die seelische Gesundheit. Wir müssen erleben, dass wir unser Geschick wenigstens zum Teil selbst in der Hand haben und Kontrolle ausüben können. Im digitalen Taylorismus, der die Arbeitstätigkeiten zerstückelt und den Roboter zum Vorarbeiter macht, fehlt diese Erfahrung notwendigerweise. Die Mischung aus Gängelung einerseits sowie Verdichtung und Beschleunigung andererseits macht krank.

Ersetzt die Digitalisierung auch menschliche Arbeitskräfte komplett?

Manchmal. Seit jeher erzeugt der Marktwettbewerb einen Rationalisierungsdruck, der dazu führt, dass Menschen durch Maschinen ersetzt werden, wo immer sich das für ein Unternehmen rechnet. Wo dies tatsächlich der Fall ist, das ist jedoch oft unklar und stellt sich meist erst im Nachhinein heraus. Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ist für Unternehmen nur dann interessant, wenn sich dadurch die Produktivität steigern und die Produktionskosten senken lassen.

Was verbirgt sich hinter dem aktuellen Hype um die Digitalisierung – Stichwort: „Industrie 4.0“?

Hinter „Industrie 4.0“ verbirgt sich eine geschickte Marketingstrategie der IT-Branche. Die drei Branchenverbände Bitkom, VDMA und ZVEI gründeten 2011 den „Arbeitskreis Industrie 4.0“ und banden das Bundeswirtschaftsministerium und Bundesforschungsministerium ein. Dadurch gelang es ihnen, ihre Anliegen in den Köpfen von Politikern zu platzieren. Die wiederholen inzwischen das Schlagwort „Industrie 4.0“ mantraartig. Das war geschicktes Agenda-Building, wie es im Marketingjargon so schön heißt. In den USA z. B. kennt man den Begriff „Industrie 4.0“ nicht. Dort spricht man vom „Industriellen Internet der Dinge“, was realitätsnaher ist, aber wenig pathetisch und epochal klingt. In Japan findet derzeit ebenfalls eine Digitalisierungsoffensive statt – unter dem Schlagwort „Gesellschaft 5.0“. Das sind alles Marketing-Begriffe ohne Substanz. Ich selbst vermeide den Ausdruck „Industrie 4.0“, da er technikgeschichtlich wenig Sinn macht und eine schlagartige Änderung der Produktionsmethoden andeutet, die überhaupt nicht in Sicht ist. Die Automatisierung ist ein schon lange andauernder Prozess, eine kontinuierliche Veränderung, aber kein technologischer Sprung.

Warum konnte dann in Deutschland solch ein Hype entstehen?

Das Schlagwort „Industrie 4.0“ suggeriert, es sei allerhöchste Zeit, auf den Digitalisierungszug aufzuspringen, weil der ansonsten abfährt und man gegenüber der Konkurrenz ins Hintertreffen gerät. Der Appell zielt vor allem auf die kleineren und mittleren Industriebetriebe. Für die großen Konzerne wie Siemens oder Bosch stellen diese den wichtigen Heimatmarkt dar. Den brauchen sie, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Die wesentlichen Wettbewerber sind zum einen China, wo ein großer Teil der industriellen Fertigung erfolgt, und zum anderen die USA, wo die großen IT-Konzerne wie Microsoft, Apple, Google und Amazon sitzen. Der politische Digitalisierungsdiskurs ist eine typisch deutsche Angstdebatte: Es muss ein Ruck durchs Land gehen, der uns aus unserer Lethargie reißt! Wir müssen uns ranhalten, fit machen für die Zukunft, vorn dabei sein bei den technischen Entwicklungen! Wenn wir unsere dominierende Stellung auf dem Weltmarkt verlieren, wenn wir unsere Stellung als Exportweltmeister verlieren, dann sind unser Wohlstand und viele Arbeitsplätze in Gefahr!

Fallen viele Arbeitsplätze nicht gerade durch die Automatisierung weg?

Sicherlich. Und das war schon immer so. Seit dem 19. Jahrhundert wird menschliche Arbeit durch Technik ersetzt. Und seither wird ein „Verschwinden der Arbeit“ prophezeit und nach gesellschaftlichen Lösungen für die „Zeit danach“ gesucht. Selbst der berühmte Ökonom John Maynard Keynes prophezeite 1930 in seinem Essay „Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder“ eine 15-Stunden-Woche. Von der sind wir noch weit entfernt. Bisher ging uns die Arbeit nicht aus. Und auch die aktuellen technischen Fortschritte werden nicht dazu führen, dass uns die Arbeit ausgeht, dass in den Fabrikhallen und Büros schlagartig massenhaft Personal abgebaut wird. Denn der behauptete große Automatisierungssprung steht uns schlichtweg nicht bevor. Die aktuelle Digitalisierung nimmt uns kaum Arbeit ab.

Warum nicht?

Automatisierung bedeutet Standardisierung von Produkten und von Abläufen. Die programmgesteuerten Maschinen können aber nur „Dienst nach Vorschrift“, scheitern bei Abweichungen und unvorhergesehenen Ereignissen. Deshalb kann die heutige Arbeitswelt auf mitdenkende Menschen nicht verzichten. Von deren vielfältigen Fähigkeiten und deren Kreativität sind die heutigen Technologien noch weit entfernt. Die Algorithmen so weiterzuentwickeln, dass die Maschinen nicht mehr bei jedem neuen Problem scheitern, kostet noch viel Zeit und Geld. Und viel Zeit und Geld kostet auch die Standardisierung. Dieser Sachverhalt spielt in den Unternehmen eine zentrale Rolle, in der politischen Debatte aber seltsamerweise keine.

Wo können die Digitalisierungsbestrebungen in den nächsten Jahren erfolgreich sein?

Mehr im Dienstleistungsbereich als in der industriellen Produktion. Viel Forschungsförderung fließt aktuell in die sogenannten „Chatbots“. Das sind textbasierte Dialogsysteme, sodass man in natürlicher Sprache mit dem dahinterstehenden System kommunizieren kann. Es sollen aber auch emotionale Befindlichkeiten erkannt und Verhaltensweisen imitiert werden. Kurz: Es geht um eine neue Stufe der Interaktion zwischen Mensch und Maschine – in der Kundenbetreuung, aber z. B. auch im Bildungsbereich.

Wie verändert die Digitalisierung den Arbeitsmarkt?

Die Digitalisierung ermöglicht dem Management eines Unternehmens eine bisher nicht gekannte Transparenz bei den Arbeitsabläufen. Jeder Arbeitsschritt, jeder Handgriff ist genau erfasst, verfolgbar, vergleichbar. Der neue Überblick führt zu einer verstärkten Kontrolle der Arbeitenden. Nicht die Maschinen übernehmen die Macht, sondern das Management verstärkt seine Kontrollmöglichkeiten und damit sein Macht. Der neue Überblick erleichtert es dem Management auch, die vorhandenen Organisationsformen kritisch zu hinterfragen und nach Alternativen zu suchen. Das hat dann oft Umorganisationen zur Folge: systemische Rationalisierungen. Denn es wird nun klarer erkennbar, dass sich viele Arbeiten auslagern lassen: an externe Dienstleistungsunternehmen oder an freie Mitarbeiter. Die stehen in Konkurrenz zueinander und lassen sich leicht austauschen, was den Unternehmen eine starke Stellung verleiht, aber auch neue Risiken mit sich bringt. Durch das Internet lässt sich die Arbeitsteilung manchmal sogar weltumspannend organisieren. Die grundlegenden Veränderungen seit der Jahrtausendwende sind vor allem das Internet, die Massendaten und die Konvergenz der Datenformate. Vom Jahr 2000 bis heute stieg die Zahl der Menschen mit Internetzugang von 300 Mio. auf fast 4 Mrd.

Steigert die Digitalisierung das Wirtschaftswachstum?

Bisher hat sie seltsamerweise nur einen geringen Einfluss auf das Bruttoinlandsprodukt. Die Ökonomen debattieren seit Jahrzehnten, warum das so ist. Vor den 1970er-Jahren waren die Produktivitätszuwächse deutlich höher als danach. Vielleicht ist das der Grund, warum die Politik eine so irrationale Hoffnung in den von der Kampagne „Industrie 4.0“ behaupteten Technologiesprung setzt.

Führt die Digitalisierung zu einer ressourcenschonenderen Produktionsweise? Zum sparsameren Verbrauch von Rohstoffen und Energie?

Nicht unbedingt, schon weil das digitale Abbild selbst ja Strom verbraucht. Prinzipiell wäre es möglich, mithilfe der Digitalisierung den Ressourcenverbrauch zu senken. Wenn z. B. mittels Car Sharing die vorhandenen Autos besser ausgelastet werden, müssen wir insgesamt weniger Autos herzustellen. Das gilt aber nur, wenn Car Sharing die bisherige Praxis ersetzt und nicht nur ergänzt.

Herr Becker, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Buchtipps

Matthias Becker
Automatisierung und Ausbeutung
Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus?
Promedia, März 2017
240 Seiten, 19.90 Euro
978-3-85371-418-8

Matthias Becker, Raúl Rojas
MOOCs statt Hörsaal
Der Unterricht im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Heise, Februar 2014
87 Seiten, eBook, 3.99 Euro
978-3-944099-24-8


Onlinetipp

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
Plattform Industrie 4.0
www.plattform-i40.de