
„Nun mal im Ernst …“
23. Juni 2025
Demokratien brauchen Bürger mit stabiler Psyche und klarem Verstand. Doch diese Eigenschaften schwinden, warnt ein Psychologie-Professor. Psychische Erkrankungen nehmen außergewöhnlich stark zu. Hierfür gibt es Ursachen. Und die liegen in verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen.
Interview mit Prof. Dr. Bernhard Hommel
ÖkologiePolitik: Herr Prof. Hommel, was hat Sie bewogen, zuerst ein Buch über linke Identitätspolitik und dann eines über die Neurotisierung unserer Gesellschaft zu schreiben?
Prof. Dr. Bernhard Hommel: Das erste Buch war eine Mischung aus Notwehr und Selbsttherapie. Als ich und meine Frau 2020 nach 20 Jahren in den Niederlanden zurück nach Deutschland kamen, musste ich feststellen, dass ich das Land zwar als linker Grüner verlassen hatte, aber nun ein erzkonservativer Halbfascho zu sein schien – weil sich die Art des Denkens dramatisch verändert hat. Ich wollte den zentralen Treiber dieser Entwicklung besser verstehen: die linke Identitätspolitik. Deren Ziele teile ich, aber deren Lösungswege lassen mir als Wissenschaftler die Haare zu Berge stehen. Das Thema meines zweiten Buches ist für einen Psychologen naheliegender: das massive Anwachsen von psychologischen Problemen in unserer Gesellschaft, vor allem bei jungen Menschen. Manche dieser Probleme richten sich nach innen: in Form von Antriebslosigkeit, Depression oder Angst. Andere nach außen: in Form von immer narzisstischerem und aggressiverem Verhalten. Im Buch entwickle ich die These, dass diese Entwicklungen Ausdruck derselben Ursache sind: der Zunahme der Neurotizität bei uns allen! Aber wenn man versteht, wie Neurosen funktionieren, kann man sie auch abstellen. Dafür mache ich Vorschläge.
Laut einer von Ihnen zitierten Studie hat sich in Deutschland die Zahl derer, die „Wut“ als ihr zentrales Lebensgefühl angeben, in den letzten Jahren verdoppelt. Und verdoppelt hat sich auch die Zahl der AfD-Wähler. Sind das dieselben Menschen?
Dieser Frage gehe ich mit meiner Frau in einem neuen Buchprojekt nach. Viele rechtfertigen die eigene Wut mit dem Hinweis, die eigene Perspektive sei in der täglichen Politik nicht hinreichend sichtbar. Und objektiv stimmt das ja. Wenn alle Bewohner der neuen Bundesländer weiblich oder farbig wären, würden linke Politiker sofort Statistiken präsentieren, die belegen, wo Ostdeutsche unterrepräsentiert sind: im Bundestag, in DAX-Vorständen, in der Professorenschaft, bei der Vermögensverteilung. Und sie würden im Namen der Menschenrechte fordern, diesen Missstand zu beheben. Doch leider hat es das Ostdeutsch-Sein nicht als politisch relevantes Merkmal auf die Liste der Identitätspolitik geschafft. Und so dominiert im Westen die Attitüde, die Ostdeutschen sollten sich halt nicht so anstellen. Wie sollen Menschen, die sich gedemütigt und missachtet fühlen, Aufmerksamkeit erregen und einen Stachel im Fleisch der westlich dominierten Bundespolitik schaffen? Eine Partei „jenseits der Brandmauer“ zu wählen, erscheint als plausible Strategie.
Sie nennen linke Identitätspolitik und deren Fokussierung auf Gefühle als eine Ursache für die Neurotisierung und Polarisierung unserer Gesellschaft. Inwiefern beeinflusst linke Identitätspolitik aber die Psyche von AfD-Anhängern?
Das Betonen von Identität jeder Art hat die Segregation der Gesellschaft zum Ziel, denn die politische Macht der einen Gruppe soll ja zulasten anderer Gruppen vergrößert werden. Dieser Grundansatz ist spalterisch. Wir Menschen haben verschiedene Eigenschaften und Interessen. Und je nachdem, ob wir die unterscheidenden oder die gemeinsamen betonen, erzeugen wir Spaltung oder Zusammenhalt. Linke Politik hat schon lange aufgehört, alle mitnehmen zu wollen. Stattdessen profiliert sie sich durch Abgrenzung. Das tut die rechte Politik natürlich auch – die AfD steht in einer langen separatistischen Tradition. Die Linken aber waren früher viel integrativer unterwegs.
Nun mal im Ernst – wie soll man sich das psychologisch plausibel vorstellen? Wenn ich der großen Mehrheit eines Landes politisch motivierte Sprachregelungen aufzwinge, die sie weder akzeptiert noch versteht, wenn ich ihren minderjährigen Kindern Geschlechtsoperationen ohne ihr Einverständnis erlaube, wenn ich weibliche Fußballfans zwinge, ihre Toilette im Stadion mit alkoholisierten Männern zu teilen, wenn ich in Dörfern so viele Flüchtlinge ansiedele, dass sich die Bewohnerzahl fast verdoppelt, dann kann ich doch nicht erwarten, dass die Betroffenen aufgeschlossener, toleranter und demokratiegesinnter werden! Das sollte eigentlich einleuchten. Doch solange das nicht passiert, werden die Wahlerfolge der AfD weiter zunehmen.
Sie schlagen in Ihrem Buch eine Fülle an Maßnahmen vor, um die Neurotisierung und Polarisierung zu stoppen. Welche sind die wichtigsten?
Am einfachsten umzusetzen scheinen mir zwei unspektakuläre Maßnahmen: Erstens können wir alle sofort damit anfangen, das Entwickeln einer eigenen Meinung an die dafür nötige Expertise zu koppeln. Warum sollten wir ohne spezifische Sachkenntnisse eine starke Meinung zum Gazakrieg haben? Oder zu China, Russland oder den USA? Sich über Sachen den Kopf zu zerbrechen, die man nicht tatsächlich beeinflussen kann, bringt einem selbst nichts, weil man ja hilflos bleibt. Und auch andere können von unqualifizierten Beiträgen nichts lernen.
Zweitens können wir unsere Wahrnehmung und Verarbeitung von Information systematisch versachlichen. Jedes Ereignis hat sowohl einen Inhalt als auch eine emotionale Wirkung. Der Inhalt kann wichtig sein, aber die emotionale Wirkung macht uns meistens nur unnötig zu schaffen. Mein Chirurg soll einen kühlen Kopf bewahren und braucht mein Leiden nicht aktiv nachzuvollziehen! Pflegekräfte sind emotional oft überfordert, weil das Mitfühlen meist ein wesentliches Motiv für die Wahl ihres Berufes darstellt – doch es ist weder erforderlich noch psychologisch gesund. Nur psychologisch starke, resiliente Helfer sind nützliche Helfer. Stark und resilient bin ich nur dann, wenn ich mich von meinen Gefühlen nicht genauso übermannen lasse wie diejenigen, deren Leid ich lindern will. Inhalt von Emotionen zu trennen, ist ein wesentlicher Bestandteil vieler Therapien.
Sie sind seit 2022 als Psychologie-Professor in China tätig. Welche Unterschiede zu unserer westlichen Kultur konnten Sie feststellen? Und können wir von der chinesischen Kultur etwas lernen?
Von einer derart alten Kultur kann man natürlich sehr viel lernen. In jedem Fall sind Chinesen viel weniger gefühlsduselig und daher wohl viel widerstandsfähiger als wir. Politisch sind sie sehr viel mehr auf sich selbst fixiert, weil sie natürlich noch auf dem Weg vom armen Entwicklungsland zur Weltmacht sind. Andere Menschen und Länder beurteilen sie viel weniger, als wir das gewöhnlich tun. Sie wollen andere nicht belehren – und auch nicht selbst belehrt werden. Das könnte auch etwas mit der Ausbildung in dialektischem Denken zu tun haben. Die Menschen lernen, dass Widersprüche nicht unangenehm sein müssen, sondern interessant sein können. Die Fähigkeit, Widersprüche zwischen Sachverhalten, Informationen und Meinungen geduldig zu ertragen und vielleicht sogar intellektuell stimulierend zu finden, ist uns leider abhandengekommen. Für eine offene Gesellschaft ist sie aber ganz essenziell.
Herr Prof. Hommel, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipps
Bernhard Hommel
Wir triggern uns zu Tode
Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft
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