
„Wir brauchen eine digitale Alphabetisierung!“
25. Juni 2025
Die Digitalisierung beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung stark. Sie führt zu psychischen Störungen und hemmt die Heranbildung von eigenständigem, kritischem Denken. Gleichzeitig entstehen immer subtilere und wirksamere Methoden der Meinungssteuerung.
Interview mit Ralf Hanselle
ÖkologiePolitik: Herr Hanselle, wie verändert unsere Digitalkultur Kindheit und Jugend?
Ralf Hanselle: Es gibt immer mehr Studien, die sehr eindeutig darauf hinweisen, dass die Digitalkultur Erleben, Wissen und Weltaneignung fundamental verändern. Zuletzt etwa hat in den USA das Buch „The Anxious Generation“ – deutsch: „Generation Angst“ – des New Yorker Psychologen Jonathan Haidt für Furore gesorgt. Haidt konnte auf Grundlage von belastbaren Untersuchungen nachweisen, dass Smartphone, Social Media und Metaversum zu einer katastrophalen Verschlechterung der psychischen Gesundheit und der sozialen Kompetenz von Kindern und Jugendlichen führen – und das unwiederbringlich. Und Haidt steht damit längst nicht mehr alleine. In Deutschland etwa warnt seit Jahren auch der Psychoneuroimmunologe Joachim Bauer vor einem wachsenden Weltverlust unserer Kinder. Immer mehr westliche Regierungen gehen mittlerweile dazu über, die Digitalisierung in Schulen und Bildungseinrichtungen rückabzuwickeln. Zuletzt sorgten hier etwa Australien und Dänemark immer wieder für interessante Schlagzeilen. Leider scheint man in Deutschland in dieser Hinsicht den aktuellen Wissensstand in Pädagogik, Psychologie und Bildungsforschung zu verschlafen. Hierzulande gilt noch immer das Mantra, dass mehr Digitalisierung zu besseren Schulen und zu besserer Bildung führe.
Welchen Einfluss hat dies auf das politische Bewusstsein junger Erwachsener?
Zum einen stehen rückläufige Bildungserfolge natürlich der Herausbildung von Kritikfähigkeit im Wege – eine Kompetenz, die für eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit notwendige Voraussetzung ist. Wer an dem „zwanglosen Zwang zum besseren Argument“ als Grundlage der deliberativen Demokratie, also der auf Argumenten und Austausch fußenden politischen Entscheidung, festhalten will, der muss den Jugendlichen erst einmal das Argumentieren beibringen. Dafür braucht es Wissen, Empathie und Begegnung – alles Dinge, so belegen es immer mehr Studien, die durch die Digitalkultur nicht nachhaltig gefördert werden. Zum anderen führt die Struktur von Social Media, aber auch die zahlreicher KI-Modelle, nicht notgedrungen zu mehr Bildung. Es gilt weiterhin, dass wir als Gesellschaft dazu neigen, over-informed und under-educated zu sein. Und aktuelle Bildungsstudien geben in dieser Hinsicht nicht gerade Grund zur Entwarnung. Man fragt sich allerdings, wann wir das endlich zur Kenntnis nehmen.
Welchen Einfluss hat die Digitalkultur auf den Journalismus? Und auf die öffentliche Meinungsbildung?
Der Einfluss der Digitalisierung kann in diesem Bereich gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree etwa hat bereits vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass die Digitalisierung nicht etwa, wie einst in den 2000er-Jahren marktschreierisch versprochen, zu immer mehr Demokratie und zu einem wachsenden Meinungspluralismus führe. Im Gegenteil: Wir erleben in den zurückliegenden Jahren einen sich radikal monopolisierenden Informationsmarkt. Wenige große Tech- und Medienkonzerne bestimmen heute bereits darüber, was wir zu wissen und zu denken haben und was wir von der Welt zu sehen bekommen. Das Ausmaß dieser Monopole ist erschreckend. Andree hat nachweisen können, dass die Machtakkumulation im Netz immer mehr zunimmt. Die Top 100 Websites und Apps vereinten 2023 gut 72 % des Traffics im Netz auf sich. Und KI wird hier nur ein weiterer Konzentrationsbeschleuniger sein. Hinzu kommt aber noch etwas anderes: der Besteckkasten der sogenannten Verhaltensökonomie. Der sorgt zusätzlich dafür, dass unsere Entscheidungen und unsere Urteile über die Welt und die Politik steuerbar, ja manipulierbar werden. Der berühmte Blick hinter den Spiegel wird auf diese Weise verunmöglicht. Und während wir immer weniger über die Politik erfahren, generieren die Konzerne im Gegenzug immer mehr Wissen über uns. Psychopolitik, also die Steuerung des Users und Wählers über seine Emotionen und Bedürfnisse, wird auf diese Weise zur Normalität – auch in der Demokratie.
Was kann getan werden, um bürgerliches und demokratisches Denken zu stärken?
Wir brauchen eine digitale Alphabetisierung! Wir müssen endlich lernen, hinter die Oberflächen und hinter die ausgeklügelten Nudging-Strategien der digitalen Programme zu schauen. Nur so wird möglich, was der Philosoph Vilém Flusser bereits in den 1980er-Jahren erkannt hat: Die letzte Freiheit, die einem im technischen Zeitalter bleibt, ist die Freiheit, gegen das Programm zu spielen. Dafür aber muss man das Programm verstehen lernen. Andernfalls spielt das Programm mit uns.
Herr Hanselle, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipps
Ralf Hanselle
Homo digitalis
Obdachlos im Cyberspace
zu Klampen, September 2023
128 Seiten, 18.00 Euro
978-3-98737-006-9
Jonathan Haidt
Generation Angst
Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen
Rowohlt, Juni 2024
448 Seiten, 26.00 Euro
978-3-498-02836-7
Martin Andree
Big Tech muss weg!
Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft
Campus, August 2023
288 Seiten, 25.00 Euro
978-3-593-51754-4
Joachim Bauer
Realitätsverlust
Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen – und die Menschlichkeit bedrohen
Heyne, Mai 2023
240 Seiten, 22.00 Euro
978-3-453-21853-6
Onlinetipp
Norbert Häring
Ärztetag sorgt sich um Schüler und redet digitalisierungswütiger Bundesregierung ins Gewissen
Geld und Mehr, 11.06.2025
https://norberthaering.de/new/aerztetag-smartphones/
Interview mit Ralf Hanselle
„Die Heimat des Homo digitalis ist die Blase“
ÖkologiePolitik, 15.05.2024
www.t1p.de/kcqck