
Schutz der Demokratie? Oder der großen Parteien?
11. Juni 2025
Das Bundesverfassungsgericht stuft derzeit die Chancengleichheit der Parteien als weniger wichtig ein als andere Verfassungsziele. So lehnte es im Dezember 2024 ab, die hohen Wahlzulassungshürden für Parteien, die noch nicht im Bundestag oder einem Landtag vertreten sind, zu senken. Diese Entscheidung ist rechtlich kritikwürdig und gefährlich für die Demokratie.
von Dr. Björn Benken und Dr. Andrea Brieger
Es gab eine Zeit, da sah das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) auch kleine Parteien als unverzichtbare Akteure der Demokratie an. In einem 2004 von der ÖDP erwirkten Urteil schrieb es den Regierungsparteien ins Stammbuch, dass der Wettbewerb zwischen den Parteien auf Dauer nur wirken könne, wenn er nicht auf die Konkurrenz zwischen den bereits existierenden und erfolgreichen beschränkt bliebe, sondern durch das Hinzutreten neuer Wettbewerber und die anhaltende Herausforderung durch die kleinen Parteien erweitert, intensiviert und gefördert würde. Und in einem Urteil von 2008 betonte es, dass Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berührten – mit denen also die jeweilige parlamentarische Mehrheit sozusagen in eigener Sache tätig würde –, einer besonders strengen Kontrolle durch die Verfassungsgerichte bedürften.
Diese damalige progressive Sichtweise des Zweiten Senats des BVerfG wich aber schon bald einer Philosophie, die die Benachteiligungen kleiner Parteien wieder aufleben ließ. So lehnte er im Februar 2024 eine Klage gegen die Wiedereinführung der Sperrklausel bei Europawahlen mit dem schon 1979 verwendeten Argument ab, dass ohne diese Hürde die Kleinparteien-Abgeordneten die Funktionsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigten. Wie 5 oder 6 deutsche Kleinparteien die Abläufe des EU-Parlaments, dem mehr als 200 weitere Parteien aus verschiedenen Ländern angehören, nennenswert stören könnten, blieb allerdings sein Geheimnis.
Im September 2024 verhinderte das BVerfG in einer Eil-Entscheidung die Umsetzung eines Beschlusses des OVG Berlin-Brandenburg, welches den Rundfunk Berlin-Brandenburg verpflichtet hätte, die Tierschutzpartei bei einem erwarteten Stimmenanteil von mehr als 2 % in der Wahlberichterstattung zu erwähnen. Im Dezember 2024 erging dann ein weiterer Beschluss, der ganz im Sinne der großen Parteien war – und im Folgenden näher beleuchtet werden soll.
Klage gegen hohe Unterschriftenquoren
Mit einer 2023 eingereichten Klage hatte sich die ÖDP gegen das neue Bundeswahlgesetz und insbesondere gegen die unterlassene Anpassung der Höhe der Unterstützungsunterschriften gewandt. Sie rügte, dass die Unterschriftenquoren unverhältnismäßig hoch seien, teilweise gar nicht erforderlich und oft nicht geeignet, die damit verknüpften Schutzziele zu erreichen. Das Zulassungsquorum führe zu Nachteilen, die sich nicht nur im Falle des Scheiterns an der Hürde zeigten. Auch im Erfolgsfall entstünden erhebliche Kosten für die Bewältigung dieser Aufgabe. Insgesamt verletze die Regelung das in Artikel 21 GG verankerte Verfassungsgut der Chancengleichheit von Parteien.
BVerfG betont „Integrationswirkung“
Dieser Argumentation hat sich das BVerfG nicht angeschlossen. Seiner Ansicht nach ist es legitim, durch Unterschriftenquoren die Zulassung für kleinere Parteien zu erschweren, da die Reduktion der Wahlangebote auf dem Stimmzettel einen Beitrag zur „Integrationswirkung“ von Wahlen leiste. Ein kleineres Wahlangebot und die daraus folgende Umverteilung der Stimmen würde Stimmenzersplitterung verhindern und die Legitimation der Gewählten im Parlament vergrößern.
In der Tat: Je geringer das Wahlangebot, desto höher wird das Ergebnis für die zur Wahl stehenden Parteien ausfallen. Wie das in letzter Konsequenz aussieht, lässt sich in Staatsformen mit nur einer Partei beobachten. Den Zustimmungsgrad zu erhöhen, indem man im Vorfeld der Wahl das Angebot durch die letztlich undemokratische Eliminierung von Wahlvorschlägen künstlich beschränkt, erscheint jedenfalls nicht geeignet, die sogenannte demokratische Legitimation eines Wahlverfahrens zu steigern.
Interessant ist auch, dass der vom Gericht verwendete Begriff „Integrationswirkung“ im Zusammenhang mit Wahlen innerhalb der letzten 50 Jahre unterschiedliche Verwendung gefunden hat. In den frühen Jahren der Bundesrepublik war damit die Kanalisierung von Wählerstimmen hin zu den größten Parteien gemeint. Damit sollte die Regierungsfähigkeit gesteigert und „Weimarer Verhältnisse“ verhindert werden.
Seit den 1990er-Jahren veränderte sich die Auslegung und das BVerfG verstand unter dem Integrationscharakter der Wahl, dass durch den demokratischen Wahlakt verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen eine Stimme gegeben werden kann. Die Integrationswirkung besteht demnach darin, dass durch das gleichberechtigte Hervortreten im Wahlkampf politische Vielfalt sichtbar wird und gesellschaftlicher Zusammenhalt damit gestärkt wird. Im aktuellen Beschluss ist von dieser Gemeinschaft stiftenden Lesart nichts mehr zu finden. Das BVerfG greift sozusagen in die Mottenkiste der Auslegungskunst und spricht ganz im Geiste der 1950er-Jahre von einer Integrationswirkung durch Ausschluss von Konkurrenz.
Argumentation des BVerfG ist unlogisch
Die ÖDP hatte in den eingereichten Schriftsätzen ein kleines Rechenexempel eingebaut und dem Gericht vorgerechnet, dass sich die Legitimation der Gewählten in einem Wahlkreis durch Ausschluss von Parteien, die in der Summe etwa 1 % der Wählerstimmen auf sich vereinen würden, nur um 0,1 Prozentpunkte steigern ließe. Die vom Gesetzgeber vorgesehene Hürde ist demnach gar nicht geeignet, den Zustimmungsgrad in den Wahlkreisen relevant zu erhöhen. Es gäbe ein viel geeigneteres und gleichzeitig milderes Mittel, die demokratische Legitimation von Wahlen zu erhöhen: Durch die integrierte Stichwahl, bei der die Wählenden die Wahlvorschläge in der Rangfolge ihrer Gunst kennzeichnen und eine Sequenz simulierter Stichwahlen Wahlkreisgewinner mit absoluter Mehrheit hervorbringt, könnte der Zustimmungsgrad der in den Wahlkreisen Gewählten um etwa 15 Prozentpunkte gesteigert werden.
Das BVerfG hat sich mit diesem Argument leider nicht auseinandergesetzt, sondern nur lapidar festgestellt, auch in einem Wahlsystem mit Ersatzstimme gelänge die Sicherung des Integrationscharakters der Wahl nicht vollständig. Der Gesetzgeber sei nicht dazu verpflichtet, ein derartiges Verfahren einzuführen.
Hierdurch kommt es zu einer bedenklichen argumentativen Schieflage: Für die praktisch kaum messbare Steigerung des Zustimmungsgrades bei Wahlen soll der Gesetzgeber einerseits berechtigt sein, demokratische Rechte von Parteien durch deren Ausschluss von der Wahl einzuschränken. Andererseits soll er aber nicht verpflichtet sein, zur Erreichung des gewünschten Zieles ein offenkundig milderes Mittel zu wählen.
BVerfG untergräbt Vertrauen in Demokratie
Dies kann nicht überzeugen und schwächt im Ergebnis die Demokratie unseres Landes. Das BVerfG stärkt die Machtbasis großer Parteien in den Parlamenten, aber es stärkt nicht ihre Legitimation. Denn der Ausschluss von Kleinparteien wirkt sich zweifach negativ aus: Erstens ist zu erwarten, dass die Wahlbeteiligung unter den Anhängern der ausgeschlossenen Parteien zurückgeht. Zweitens wird die Zufriedenheit mit dem Wahlergebnis – letztlich der wichtigste Faktor für die gewünschte Legitimation – sinken, wenn Anteile der Bevölkerung gezwungen sind, ihr Kreuz bei dem aus ihrer Sicht „geringsten Übel“ zu machen, anstatt ihre Lieblingspartei wählen zu können.
Mit seiner Entscheidung geht das BVerfG deshalb das Risiko ein, dass das Vertrauen in die Demokratie als bestes aller zur Verfügung stehenden Systeme weiter an Boden verliert. Scheitern Parteien an der Unterschriftenhürde, werden nicht nur diese Parteien vom Stimmzettel gedrängt; auch ihre Anhänger – die in der Summe einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft darstellen – verlieren ihre politischen Ausdrucksmöglichkeiten. Der damit verbundene Frust muss nicht zwangsläufig, kann aber durchaus zur Radikalisierung und Desintegration großer gesellschaftlicher Gruppen führen.
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Björn Benken
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Ersatzstimme, Dualwahl, Integrierte Stichwahl: Verfassungsrechtliche Herausforderung und politische Chance
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Björn Benken, Alexander Trennheuser (Hrsg.)
Mehr Demokratie dank Ersatzstimme?
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