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Religion als Schule für Demokratie

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Religion und Demokratie leben von der Bereitschaft, sich „anrufen und verwandeln zu lassen“, sagte der Soziologie Hartmut Rosa beim Würzburger Diözesanempfang am 17. Januar 2022. Sein dort gehaltener Vortrag „Rasender Stillstand? Individuum, Kirche und Gesellschaft im Angesicht der Krisen“ erschien als kleines Büchlein unter dem Titel „Demokratie braucht Religion“.

von Günther Hartmann

 

Den Zustand unserer Gesellschaft bezeichnet Hartmut Rosa als „rasenden Stillstand“: Einerseits steht sie unter ständigem Wachstums- und Beschleunigungsdruck, andererseits verliert sie immer mehr die Fähigkeit, auf die großen Herausforderungen unserer Zeit angemessen zu reagieren. In seinem Vortrag reflektiert Rosa über eine der Ursachen: Es mangelt unserer Gesellschaft an „hörenden Herzen“. Stattdessen polarisiert sie sich immer stärker, wird immer lauter und tauber, sodass von Vernunft geleitete Lösungskonzepte immer weniger Chancen haben, wahrgenommen und umgesetzt zu werden.

Die Religion kann dazu beitragen, diesen Missstand zu verringern. „Gib mir ein hörendes Herz!“, bat König Salomo. Das Hören, das Sich-Öffnen, Sich-Berühren- Lassen und Sich-auf-Veränderungen-Einlassen stehen seit jeher im Zentrum religiöser Lehre und Praxis. Religion trainiert also gerade die Fähigkeiten, die auch für das Gelingen unserer Demokratie eine essenzielle Voraussetzung sind.

 

Aggression nimmt zu

Rosa diagnostiziert einen hohen Grad an Aggression: gegenüber der Umwelt, die wir für das Wachstum ausbeuten und nutzbar machen müssen, aber auch gegenüber uns selbst durch einen Zwang zur Selbstoptimierung, der uns überfordert und erschöpft. Die Aggression beherrscht schließlich auch unser Miteinander. Menschen mit anderen Ansichten werden nicht mehr als Gesprächspartner gesehen, um in einem wertschätzenden Austausch die Sichtweisen des anderen zu verstehen und die eigenen zu vertreten. Stattdessen werden Andersdenkende nur mehr als Idioten, Verräter, Gegner und Feinde betrachtet. Statt sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen, werden Andersdenkende verunglimpft. Die gesellschaftliche Atmosphäre wird immer vergifteter.

Was uns nicht passt, wollen wir weghaben. Es fehlt die Bereitschaft, sich von etwas berühren und transformieren zu lassen. Für Rosa ist diese aber eine wesentliche Grundlage für das Funktionieren einer Demokratie. Alle Bürger sollten sich „als solche begegnen, einander etwas zu sagen haben, und das heißt eben nicht nur ‚Dem habe ich mal meine Meinung gesagt‘, sondern ‚Du hast mir auch was zu sagen‘ und ‚Ich will mich von dir erreichen lassen‘.“

 

Demokratie braucht Resonanz

Ein primär von Aggression geprägtes Verhältnis zur Welt, zu uns selbst und zu den anderen zerstört die Fähigkeit, „Resonanzbeziehungen“ auszubilden. „Resonanz“ ist ein Schlüsselbegriff in Rosas Analysen. Damit meint er eine Beziehung zur Welt, in der wir uns verbunden fühlen, uns anrufen lassen und uns als kreativ und wirksam erleben – ein lebendiges Wechselspiel. Die Religion sieht Rosa als eine kulturelle Kraft, die unsere Resonanzfähigkeit bewahren und stärken kann – durch ihre Räume, Rituale, Lieder, Gesten und Gebetspraktiken.

 

Religion vermittelt Resonanz

Die Religion gibt den Menschen ein „vertikales Resonanzversprechen“, sagt Rosa. „Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung. Für mich ist das der Kern religiösen Denkens in den monotheistischen Religionen, aber wahrscheinlich auch weit darüber hinaus, also ganz sicher im Hinduismus und auch im Buddhismus.“ Gerade das jüdische Denken thematisiert immer wieder diese Verbindung zu einem Urgrund des Seins: Gott lässt mit sich reden, ändert sogar seine Meinung, hört zu und antworte.

Rosa betont: Auch in einer funktionierenden Demokratie braucht es Resonanz, braucht es die Bereitschaft, sich vom anderen berühren und verwandeln zu lassen. Und umgekehrt: die Überzeugung, den anderen so erreichen zu können, dass die Dinge in Bewegung kommen. Demokratie setzt den Glauben voraus, sich wechselseitig transformieren und so das Gemeinwesen in eine gute Richtung lenken zu können.

 

Hartmut Rosa
Demokratie braucht Religion
Mit einem Vorwort von Gregor Gysi
Kösel, Oktober 2022
77 Seiten, 12.00 Euro
978-3-466-37303-1