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Privatisierung: Pro & Contra

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Wolfgang Kubicki und Tim Engartner streiten sich über das Für und Wider von Privatisierung. Für Kubicki sorgt vornehmlich Privatisierung für ökonomische Höchstleistungen. Engartner sieht das ganz anders.

von Günter Grzega

 

Die vom Westend-Verlag seit 2022 herausgegebene Reihe „Streitfragen“ widmet sich wichtigen zeitpolitischen Themen und lässt dabei jeweils zwei Autoren zu Wort kommen, die konträre Positionen und Konzepte vertreten und ihren Standpunkt argumentativ vertreten. Nicht selbstverständlich in einer Zeit, in der das kritische Nachdenken und ein Wettstreit der Argumente gerne durch unbedingte Haltung, Safe-Spaces und rote Linien ersetzt werden. Für manche Leser ist das Buch deshalb möglicherweise eine Zumutung, für andere ein großer Gewinn. Zum Thema „Privatisierung“ erläutern und begründen Wolfgang Kubicki, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, sowie Tim Engartner, Professor für Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Ökonomie an der Universität zu Köln, ihre konträren Ansichten.

 

Wolfgang Kubicki: Pro

Privatisierung bedeutet Innovation, behauptet Kubicki in seinem Beitrag. Seine uneingeschränkt positive Einstellung untermauert er mit Beispielen aus der Praxis der letzten Jahrzehnte. Sein einleitender Hinweis, dass eine „Schwarz-Weiß“- oder „Gut-Schlecht“-Argumentation zu vermeiden sei, ist sicherlich positiv zu werten. Enttäuschend ist dann jedoch, dass in seinem Text kaum Ausführungen zu finden sind, die diese von ihm geforderte differenzierte Bewertung von Privatisierungen deutlich aufzeigt. Dies führt zu einer doch erkennbar dogmatisch neoliberal gefärbten Argumentation, die bei manchem Leser Widerstände hinsichtlich einer unvoreingenommenen Haltung zu den Ausführungen hervorrufen könnte.

Die dogmatische Positivität zu Privatisierungen zeigt sich auch bei seiner Bewertung der „Treuhand“-Ergebnisse im Zuge der Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern. Zwar erwähnt er bei den Maßnahmen der „Treuhand“ die Möglichkeit, dass auch „eher Schaden als Nutzen“ entstand, um dann aber umfassend von einer „enormen Erfolgsgeschichte“ zu sprechen. Das Grundmuster seiner Argumentation, dass, gesamtwirtschaftlich betrachtet, Privatisierungen öffentlicher Aufgaben letztlich immer „erfolgreich“ verlaufen, zieht sich durch den gesamten Beitrag von Kubicki. Dieses Narrativ muss man als Leser ertragen, wenn man seine Sicht einer erfolgreichen Volkswirtschaft ungeschminkt erfahren will, und das ist ja das Ziel dieses Buches.

Die Erkenntnis von Verlierern der Treuhand-Abwicklung der DDR-Industrie-Unternehmen, „Es war nicht alles schlecht“, sollte man sich aber beim Studium des ersten Buchteils zur Streitfrage „Privatisierung“ nicht in Erinnerung rufen. Auch Kubickis grundsätzliches Verschweigen der Vernachlässigung notwendiger Investitionen in die privatisierten Teile der Infrastruktur aufgrund der Gewinnmaximierungs-Ideologie (kurzfristige Kostenersparnis) ist auffallend. Diesen Infrastrukturverfall, der letztlich der Gesamtvolkswirtschaft, also vor allem auch dem privaten Wirtschaftssektor, immer größeren Schaden zufügt, scheint er nicht wirklich als Problem zu sehen.

Kubicki zeigt, dass er vom neoliberalen Weg der Privatisierungen als Königsweg für eine gelingende Gesellschaft überzeugt ist. Gerade dieses Festhalten eines bekanntermaßen streitbaren Politikers am Prinzip „Ohne Wenn und Aber“ an einem bereits kränkelnden Wirtschaftsmodell studieren zu können, ist sicherlich wertvoll. Es ist sowohl eine anregende Lektüre für die Protagonisten des Turbo-Kapitalisten als auch eine Gegenargumente-Fundgrube für die Anhänger eines Konzepts zur Überwindung der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie hin zu einem am Gemeinwohl ausgerichteten Wirtschaftsmodell.

 

Tim Engartner: Contra

Dass eine gelingende Zukunft der Gesellschaft dringend einer Renaissance des Staates als einem aktiv lenkenden und damit bedeutenden Wirtschaftssektor bedarf, meint Engartner. Er wertet die Aushöhlung der staatlichen Leistungsfähigkeit durch Privatisierungen zu den schwerwiegendsten Fehlentwicklungen unserer Zeit.

Als Beleg für seine These führt er auch das Versagen des neoklassischen Dogmas von der „Allmacht des Marktes“ im Zuge der Corona-Pandemie auf. Er erinnert an die staatlich finanzierten Test- und Impfangebote sowie die milliardenschweren Staatshilfen für durch die Corona-Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Unternehmen. Diese Beispiele untermauert er mit dem Hinweis auf die Corona-Aussage des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner: „Jetzt ist die Stunde des Staates. Wir brauchen ihn bei allem, was über die Fähigkeit, individuelle Verantwortung zu übernehmen, hinausgeht.“

Ebenso deutlich weist Engartner auf das zerstörerische neoliberale Diktat der Gewinnmaximierung privater Unternehmen hin. Beispiel: die US-Bundeszuschüsse in Höhe von 70,5 Mio. US-Dollar für die Entwicklung des Covid-19-Arzneistoffes Remdesivir an das Pharmaunternehmen Gilead Sciences ‒ mit dem Ergebnis, dass die Bürger für eine Anwendung 3.120 US-Dollar zahlen sollten. Engartner unterstreicht damit eine Tendenz: die Sozialisierung der Kosten und die Privatisierung der Gewinne.

Auch interessant ist sein Hinweis auf die Feststellung des „Makroskop“-Redakteurs Sebastian Müller aus dem Jahr 2021: Er sieht dabei den beginnenden Niedergang der neoliberalen Ordnung bereits ab dem Jahr 2008 im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise. Diese Krise zeigte unmissverständlich auf, dass „der Markt“ keineswegs alles richten kann.

Der wichtigste Teil von Engartners Beitrag sind die präzisen Ausführungen zum Thema „Privatisierung und ihre Folgen“. Seine Beispiele bieten fundierte Aussagen zu den oftmals gesellschaftlich extrem negativen Folgen, und zwar sowohl im Bereich der vom Bund zu verantwortenden Infrastruktur (Schiene, Straße, Luftverkehr etc.) als auch auf kommunaler Ebene (Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser etc.). Besonders lesenswert sind seine Schlussfolgerungen zu den Lehren aus den multiplen Wirtschafts- und Finanzkrisen.

Weniger zufriedenstellend sind seine Ausführungen zur Schuldenbremse und Staatsverschuldung. Experten unserer modernen Geldsysteme werden erkennen, dass der Autor hier nicht tief genug in die Materie eingestiegen ist, um zielgenaue Aussagen zu treffen. Dies schmälert jedoch nicht die bestechenden Argumente für einen Wandel, nämlich die Ausrichtung aller Sektoren der Volkswirtschaft zu einer Gemeinwohl-Orientierung anstelle der absoluten Gewinnmaximierung für eine Minderheit der Bürger.

Engartner ist von einer evolutionären Entwicklung zur Überwindung der neoliberalen Dogmen hin zu einer Gemeinwohl-Ökonomie erkennbar überzeugt. Dass dabei auch eine Rückführung privatisierter öffentlicher Aufgaben kein Tabu sein darf, belegt er mit immer wieder schlüssigen Argumenten.

 

Fazit

Das Buch bietet allen undogmatischen Lesern genügend Stoff, um sich bewusst zu werden, dass es die „eine Lösung“ nicht gibt. Weder die totale Privatisierung im Zusammenhang mit dem Glauben an den „göttlichen Markt“ noch die umfassende Rückkehr aller möglichen öffentlichen Aufgaben als Staatsaufgabe bieten den Königsweg in eine gelingende Zukunft.

Wertvoll ist diese „Streitfrage“-Ausgabe auch für Studierende der Wirtschaftswissenschaften. Das Buch lädt nämlich dazu ein zu erkennen, dass es sich bei wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen nicht um das Verstehen mathematisch-naturwissenschaftlich begründeter Wahrheiten geht. Es geht vor allem um das Verstehen sozialwissenschaftlicher Konstrukte. Diese sind immer vom Wandel gesellschaftlicher Entwicklungen geprägt und keine Dogmen, keine dauerhaft gültigen Wahrheiten.

Dies bedeutet, dass gesellschaftliche Entwicklungen und die damit verbundenen wirtschaftlichen Ideen und Wünsche als Herausforderung für die Wirtschaftswissenschaft verstanden werden sollten, Modelle für evolutionäre Veränderungen zu erarbeiten. Die Gesellschaft muss sich nicht wirtschaftswissenschaftlichen Dogmen unterwerfen. Und die Ökonomik muss wieder der Gesellschaft dienen.

 

Diese Buchrezension erschien erstmals am 01.03.2023 auf der Website des Wirtschaftsmagazins „Makroskop“ (www.makroskop.eu) und wurde für die ÖkologiePolitik redaktionell bearbeitet.

 

Wolfgang Kubicki contra Tim Engartner
Privatisierung
Streitfrage
Westend, Februar 2023
80 Seiten, 12.00 Euro
978-3-86489-392-6