Politik ohne Korruptionsgefahr
3. August 2022
Das deutsche Wahlrecht ermöglicht eine vielfältige Parteienlandschaft. Die Bürger können unter einer großen Auswahl an Positionen die zu ihrer eigenen Überzeugung passendste wählen – z.B. die der ÖDP.
von Paul Holmes
Ende der 1990er-Jahre radelte ich jeden Arbeitstag frühmorgens die 7 km von meiner Wohnung im Münchener Stadtteil Neuhausen zu meinem Arbeitsplatz im Stadtteil Zamdorf – und abends wieder zurück. So überquerte ich täglich zweimal den Königsplatz. Und auf dem standen ab Mitte Mai 1999 plötzlich Plakate für eine Partei namens ÖDP. Ein Löwe war da zu sehen, der sich mit einer Reißnadel wohl eher unwillig in den Hintern piksen ließ.
Es ging um die Bürgermeisterwahl am 13. Juni, was mir im Nachhinein seltsam vorkommt, denn zu diesem Zeitpunkt trat unsere Stadträtin Mechthild von Walter gar nicht an. Die ÖDP war nicht dabei, aber plakatiert wurde trotzdem. Sei’s drum – die Plakate sprachen mich so stark an, dass ich, der ich als EU-Bürger an der OB-Wahl würde teilnehmen dürfen, mir vorgenommen hatte, zu dieser Partei Kontakt aufzunehmen. Das erfolgte dann erstmals wohl auf dem Rotkreuzplatz am Infostand.
Gemeinwohl und Spenden
Am 31. Mai im Pschorr-Keller war ich jedenfalls beim Vortrag von Bernhard Suttner zugegen. Schon damals ging es um das Gemeinwohl. Nachträglich, mehr als 20 Jahre später, protestiere ich noch immer mit der damals noch vorhandenen Jugendlichkeit, dies stehe schwarz auf weiß in der bayerischen Verfassung! Wo ist denn das Problem bei der endgültigen Realisierung?
Als positiv empfand ich zudem die Ablehnung aller korporativen Zuwendungen. Ganz klar wird man als Empfänger von Geldbeträgen befangen. Einen etwaigen interessensbezogenen Konflikt lässt der Gönner das erste Mal wohlwollend gewähren, das zweite Mal vielleicht auch noch, doch spätestens beim dritten Mal wird er fragen: „Stimmen unsere Anschauungen denn wirklich noch überein?“ Ab dann muss man auf die Eurotausende verzichten. Also warum nicht gleich vorneweg?
So verzichtet die ÖDP auf Konzernabhängigkeiten, die bei den anderen Parteien geläufig sind. Nur so kann man soziale Politik rein demokratisch und ohne Korruptionsgefahr betreiben, ja auch vorantreiben. Denn garantiert widerspricht das Soziale im Laufe der Zeit dem Kommerz. Das fand und finde ich als Grundsatz genial. Aber: Millionen unserer Mitbürger offensichtlich nicht. Es bleibt bei uns in allen Auslegungen des Wortes ein „Alleinstellungsmerkmal“.
Verhältniswahlrecht
Die ÖDP war mir – mit Beginn der Internetzeit auch laut „Wahlomat“-Abfragen – „am genehmsten“. Das deutsche Verhältniswahlrecht lässt zu, dass man zu der Partei hinfinden darf, die am ehesten für die eigenen Anliegen steht. In meiner Heimat Großbritannien ist das nach wie vor nicht der Fall. Wie auch in den USA gibt es dort nur hü oder hott, aber immerhin durch eine noch systemrelevante, zentristische Partei, die Liberaldemokraten, ein wenig abgemildert, ohne dass diese öfters system-bestimmend werden könnte.
Distanzhaltend zu den Grünen, die sich für mich zu sozialrevolutionär gaben, fand ich mit der ÖDP eine Partei, die sich sozialkonservativ und in sich schlüssig für die Umwelt einsetzte: „Die Errungenschaften unseres Sozialwesens setzen wir nachhaltig ein, um ein Gemeinwohl zu realisieren, das mit der uns allen belebenden Natur im Einklang steht.“ Eine Politik, die Umweltbelange ernsthaft mitbetrachtet, finde ich freilich von Haus aus nur „konservativ“. In Großbritannien erreicht man mit dem dortigen Mehrheitswahlrecht keine so genaue Definitionsschärfe.
Medien und Meinungsbildung
Die ÖDP erreichte 20 Jahre nach meinem Beitritt: Nichtraucherschutz, Bienenschutz, Ausstieg Münchens aus der Kohleverfeuerung. Die ganz großen Herausforderungen unserer Zeit verharren jedoch fast unverändert im Raume, diejenigen die für mich als Wahlberechtigten immer noch ausschlaggebend sind. Deshalb marschierte ich auch schon zweimal bei „Fridays for Future“ mit. Die ÖDP ist aktuell die Stimme, die gerne überhört wird. Doch was heißt „überhört“? Vielleicht: keine Berichte in der überregionalen Tagespresse, keine Interviews in „Spiegel“, „Cicero“, „Süddeutsche“, „Zeit“ und anderen, keine Teilnahme an TV-Talkshows.
Die Einladungen hierzu aber sind nicht von den verschiedenen medialen Redaktionen – „medial“ heißt „vermittelnd“! – alleine zu bestimmen, sondern im Einklang mit den Staatsverträgen an alle zu richten. „Mandatiert“ bedeutet in diesem Sinne: „teilnahmeberechtigt“. Aber was herrscht denn tatsächlich vor? Ist es nicht so, dass die ja rein private Presse und die rein transnationalen Wirtschaftsforen auf die Bildung des politischen Willens weitaus mehr Einfluss ausüben als die Wahlberechtigten? Was bedeutet dann das Wort „Demokratie“, das wir mit Bezug auf §1 (2) PartG im Namen führen?
Demokratie im 21. Jahrhundert
Was in Deutschland die 5%-Hürde, ist in Großbritannien das „taktische Wählen“. Das Verhältniswahlrecht gerät so an seine Grenzen, das Mehrheitswahlrecht ist als Spiegel der Gesellschaft schon längst gescheitert. In Deutschland und Großbritannien verhindert das Wahlrecht, die facettenreichen Anliegen einer mittlerweile kaleidoskopischen Gesellschaft widerzuspiegeln.
Die Frage, wie wir im 21. Jahrhundert Demokratie gestalten wollen, ist brennend aktuell geworden. Überall läuft es ganz pragmatisch auf eine „mandatierte“ Bevormundung durch den „demokratischen“ Staat hinaus: sicherlich ein „Ancien Régime“. Sind die Parteien wirklich noch ausschlaggebend bei der Bildung des politischen Willens? In einer immer komplexer werdenden Gesellschaft muss die Demokratie künftig in Bereiche vordringen, in denen sie bislang in solcher Kleinteiligkeit nicht präsent war.
Unsere Wohnverhältnisse sind zum Gegenstand einer mandatierenden Öffentlichkeit geworden. Das ist kein rein privates Verhältnis vom Bauträger zum Käufer und vom Mieter zum Vermieter mehr. Das Gleiche gilt für unsere Verkehrsverhältnisse: Wer einen SUV fährt, tut dies auf Kosten aller, ohne diese jedoch in die Entscheidung eingebunden zu haben. Ist das noch demokratisch vertretbar? Darf man demokratisch den Planeten zerstören?
Ein mögliches europäisches Gesetz für digitale Services, das ausgesprochen konzernfreundlich zu werden droht, möchte ich als letztes Beispiel die „Menschenrechte im Internet“ nennen. Als Mitglied des ÖDP-Bundesschiedsgerichts musste ich bei einer möglichen Beendigung einer Mitgliedschaft bedenken, dass dies dem Rauswurf aus einer Wohngemeinschaft gleichkommt. Die Person verliert damit ihr „Zuhause“. Ist das nicht mittlerweile bei den sozialen Medien genauso? Doch das Löschen eines Accounts ist überall nur noch private Willkür.
In sehr vielen Bereichen des öffentlichen Lebens bedarf es in unseren Tagen eines beherzten Ausbaus von rein demokratischen, von der Basis bestimmten Rechten!
Buchtipp
Paul Holmes
Versuch einer Wahrheitsmetaphysik
Ein Dreizack der Grundbegriffe Wahrheit, Freiheit, Sinn
Utzverlag, Mai 2021
196 Seiten, 17.95 Euro
978-3-8316-2258-0