Ausschnitt aus ÖDP-Plakat zur Bundestags- und Europawahl 2009

Demokratie & Recht

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Die Geschichte der ÖDP ist voller Höhen und Tiefen. Die Qualität ihrer politischen Programme war immer hoch, wurde jedoch von den Wählern auf Landes- und Bundesebene wenig honoriert. Aber es gab auch große Erfolge. Ein persönlicher Bericht

von Prof. Dr. Klaus Buchner

 

Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Westdeutschland waren drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs stabil. Der Wohlstand basierte auf einem stetigen Wirtschaftswachstum. Und das war auch entscheidend für die Stabilität der Deutschen Mark. In diese Situation platzte die Warnung des Club of Rome, unbegrenztes Wachstum sei in einer begrenzten Welt nicht möglich. Konkreter führte das Herbert Gruhl in seinem Buch „Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik“ aus, das 1975 erschien. In der Folge bildete sich im Jahr 1977 in Niedersachsen die „Grüne Liste Umweltschutz“, 1978 folgten in mehreren Bundesländern weitere lokale Parteien.

Gruhl war damals Bundestagsabgeordneter der CDU, doch weil die Partei seine Warnungen ignorierte, trat er aus und gründete zusammen mit Heinz Kaminski, Erich Huster und anderen 1978 die „Grüne Aktion Zukunft“ als erste bundesweite Partei mit den Zielen „Umweltschutz“ und „Ausstieg aus der Atomkraft“. Zehn Tage später entstanden ihr hessischer und ihr bayerischer Landesverband. Das Ergebnis von 0,9 % bei der hessischen Landtagswahl 1978 machte jedoch klar, dass nur ein Zusammenschluss aller ökologischen Parteien den Durchbruch schaffen kann.

So entstand 1979 die „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“, die die Gründung der Partei „Die Grünen“ im Jahr 1980 vorbereitete. Sie war eine bunte Mischung verschiedener Gruppierungen, deren Gesinnung von national bis weit links reichte. Auch viele Mitglieder des „Kommunistischen Bundes/Marxisten-Leninisten Westberlin“ und anderer kommunistischer Splittergruppen traten bei. So wurde 1980 auf dem Parteitag in Saarbrücken ein Programm beschlossen, in dem außer Umweltschutz materialistische, sozialistische, feministische und teilweise sogar anarchische Ideen in den Vordergrund traten.

Gruhl, einer ihrer Sprecher, sah darin „keine realistische Antwort auf die drängenden Zukunftsprobleme“ und zudem einen Widerspruch zum Grundgesetz. Deshalb schloss sich 1980 die „Grüne Aktion Zukunft“ mit mehreren anderen Parteien zusammen, die bis dahin ebenfalls Mitglieder der „Grünen“ waren. Der erste ordentliche Parteitag der „Ökologisch Demokratischen Partei“ (ÖDP) fand aber erst am 6./7. März 1982 in Bad Honnef statt. Auf ihm wurde Gruhl erwartungsgemäß zum Vorsitzenden gewählt. Das Grundsatzprogramm war kurz vorher auf einer nicht-öffentlichen Versammlung beschlossen worden. Es war nur etwa ein Dutzend DIN-A5-Seiten lang.

Als ich 1983 der ÖDP beitrat, waren darin für mich zwei Dinge wichtig: Das Programm war weltoffen und tolerant, während die damalige Haltung der „Grünen“ meinen christlichen Überzeugungen widersprach. Das ÖDP-Programm betonte auch, dass es wichtig ist, die Wirtschaft der Entwicklungsländer zu fördern. Die „Grünen“ dagegen wollten das Flüchtlingsproblem durch eine Öffnung unserer Grenzen lösen, hofften offensichtlich, dass die bei uns lebenden Migranten ihre Heimatländer so sehr finanziell unterstützen würden, dass dort die größte Not verschwinden würde.

Gruhl führte die Partei wie ein Familienvater. Die Geschäftsstelle in Bonn finanzierte er persönlich, weil sie aus den Mitgliedsbeiträgen nicht unterhalten werden konnte. Das große Problem der ÖDP war nämlich ihre späte Gründung. Die Aufmerksamkeit der Medien konzentrierte sich auf die teils chaotischen Zustände bei den „Grünen“. Deshalb hatte die ÖDP nur wenige Tausend Mitglieder, zu wenig Geld und keine ausreichende Organisation.

Anti-Atom-Politik

Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 wurde deutlich, wie wichtig der Atomausstieg war. Die Aufmerksamkeit der Medien konzentrierte sich jedoch auf die „Grünen“. Die ÖDP war zwar schlecht organisiert, aber trotzdem aus der Anti-Atom-Bewegung nicht wegzudenken. Denn die Bundesregierung belog die Bevölkerung systematisch. Und das bayerische Innenministerium verhängte nach dem Reaktorunfall sogar eine Informationssperre.

Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann gab nur ein Hundertstel der tatsächlichen Radioaktivitätswerte an, kurz darauf Gesundheitsministerin Rita Süssmuth immerhin ein Zehntel. Der „Gesellschaft für Strahlen- und Umweltschutz“, die im kleinen Kreis die korrekten Werte veröffentlichte, wurde das verboten, um „der Bevölkerung nicht das Vertrauen in die Wissenschaft zu nehmen“.

Ein bayerisches Gericht, vor dem ein Ökobauer und ich gegen die Regierung wegen ihrer falschen Angaben klagten, urteilte: Die Bevölkerung habe kein Recht auf eine richtige Information; es genüge, wenn die Regierung Empfehlungen für die Gesundheit herausgebe. Später ergaben Berechnungen, dass gerade diese Empfehlungen einen messbaren Anstieg der Säuglingssterblichkeit bewirkten.

Gegen die atomfreundliche Politik der Bundesregierung regte sich natürlich in der Bevölkerung Protest. Dementsprechend groß war auch später noch das Interesse an den Aktionen und Vorträgen der ÖDP, die sich bis 1989 gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf sowie in den 1990er-Jahren gegen den Einsatz des hochgiftigen Plutoniums im Kernkraftwerk Gundremmingen und gegen die atomaren Zwischenlager richtete.

Einmal standen bei meinem Vortrag zwei Polizisten vor der Eingangstüre, um Besucher abzuhalten, und zwei in Zivil waren im Saal unter den Zuhörern. Letztere konnte ich aber überzeugen, sodass sie danach selbst der Atomkraft kritisch gegenüberstanden.

Zusammen mit anderen Parteien und Bürgerinitiativen engagierte sich die ÖDP bei den zahlreichen Prozessen gegen die neuen Genehmigungsverfahren für Atomkraftwerke. Die wurden zwar alle verloren, aber trotzdem haben wir viel erreicht. Denn eine Reihe der in einem Prozess abgelehnten Forderungen wurden dann in späteren Genehmigungsbescheiden erfüllt. Die ÖDP profitierte davon. In Bayern, wo der Widerstand besonders stark war, steigerte sie sich bei den Landtagswahlen stetig: von 0,4 % im Jahr 1982 bis auf 2,1 % im Jahr 1994, das bislang beste Ergebnis bei einer Landtagswahl.

Abgrenzung gegen Rechts

Als sich 1982 die ÖDP von den Grünen trennte, folgten viele, die mit dem Kurs der Grünen nicht einverstanden waren – darunter auch Rechte. Leider wurde dieses Problem erst spät erkannt. Baldur Springmann verließ die ÖDP bereits 1983 wieder, weil er erkannte, dass sie für eine nationalistische Gesinnung keine politische Heimat war. Andere waren hartnäckiger, unter ihnen Ursula Haverbeck-Wetzel, eine später gerichtlich verurteilte Rechtsextreme. Dem Bundesschiedsgericht, dessen Vorsitzender ich damals war, gelang es erst 1989, sie aus der Partei auszuschließen. Kurz vor Verkündigung des Urteils trat sie selbst aus.

Das Problem mit den Rechten in der Partei erledigte sich 1989, als auf dem Saarbrückener Parteitag der sogenannte „Rechtsabgrenzungsbeschluss“ gefasst wurde. Er stellte klar, dass rechte Gesinnung nicht mit der Mitgliedschaft in der ÖDP vereinbar ist.

Auf diesem Parteitag trat Gruhl als Bundesvorsitzender der ÖDP zurück, weil der Bundesvorstand, der Bundeshauptausschuss und vor allem der Parteitag nicht mehr allen seinen Entscheidungen folgten. So konnte er z. B. die Abwahl von Maria Opitz-Döllinger und Peter Schröder, zwei Mitgliedern des Bundesvorstands, mit denen er Meinungsverschiedenheiten hatte, nicht durchsetzen. Außerdem war er über den Rechtsabgrenzungsbeschluss nicht glücklich.

Zu seinem Nachfolger wurde Hans-Joachim Ritter gewählt, der bei seiner Rede in dieser kritischen Situation immer wieder stürmischen Beifall erhielt. Gruhl verließ 1990 die ÖDP, trat den „Unabhängigen Ökologen Deutschlands“ bei und schrieb Beiträge für rechte und linke Blätter. Der ÖDP schadete diese Auseinandersetzung nicht. Sie wuchs und hatte 1990 ihr bisher bestes Wahlergebnis bei einer Bundestagswahl: 0,44 %.

Innovative Programmarbeit

Dass es zu solch ungenügenden Wahlergebnissen kam, lag sicher nicht am Parteiprogramm. Denn schon kurz nach ihrer Gründung hatte die ÖDP zusammen mit Hans Christoph Binswanger die „Ökologische Steuerreform“ entwickelt: Die Abgaben auf fossile Energien sollten steigen, das so eingenommene Geld wieder an Bürger und Wirtschaft zurückgehen und die Sozialabgaben aller Beschäftigten deutlich sinken.

Einige Jahre später übernahmen die Grünen diese Idee, wollten aber die Abgaben nicht zurückgeben, sondern als zusätzliche Steuereinnahmen nutzen. So würde der lenkende Effekt dieser Steuerreform weitgehend verpuffen. Die ÖDP bot dem Wähler einen Weg zur Energiewende an, der von den Grünen erst viel später und schlechter gegangen wurde.

Mit dem „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ leiteten die Grünen 2000 die Energiewende ein. Doch die bringt ein neues Problem mit sich, das die ÖDP lange vor den anderen Parteien erkannte: Da der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht immer scheint, muss die Energie gespeichert werden. ÖDP-Mitglied Michael Sterner, Professor an der Technischen Hochschule Regensburg, beschrieb zusammen mit Ingo Stadler die theoretischen Grundlagen dazu. ÖDP-Mitglied Reinhard Otten setzte sie um und baute für Audi eine der damals weltweit größten Elektrolyse- und Methanisierungsanlagen. Schließlich ist der ÖDP-Vorsitzende im Saarland, Jorgo Chatzimarkakis, Chef von Hydrogen Europe, einem Zusammenschluss von Firmen, der die Anwendung der Wasserstoff-Technologie weltweit vorantreibt.

Die ÖDP war und ist hier der allgemeinen Entwicklung abermals weit voraus. Ihr Fehler war, dass die wirtschaftlichen und technischen Wege zur Energiewende zwar im Programm standen, aber nicht adäquat vermarktet werden konnten. So wussten die Wähler nicht, welche Vorteile ihnen die ÖDP bringen würde.

Ähnlich war es mit dem Konzept des Erziehungsgehalts. Da die Kindererziehung und die Altenpflege für unsere Gesellschaft wichtig sind, fordert die ÖDP seit 1996 ein steuer- und sozialabgabenpflichtiges Gehalt vom Staat auch für diejenigen, die diese Arbeit in den Familien leisten. Das soll für diese außerdem die Gefahr von Altersarmut senken. Warum soll die Erziehung fremder Kinder bezahlt werden, die der eigenen Kinder aber nicht? Detailverliebt wurde das Konzept bis in die Einzelheiten ausgearbeitet, sodass es die schlimmsten Fehler unseres heutigen Systems beseitigt, ohne dass Kinder zu einem Geschäftsmodell werden können. Doch auch diese Idee konnte die ÖDP nicht zum Wähler bringen.

Auch gentechnisch veränderte Nahrungsmittel waren schon in den 1990er-Jahren in der ÖDP ein wichtiges Thema, besonders seit die grüne Bundesministerin Renate Künast 2004 durch ihre Enthaltung bei der Abstimmung im EU-Ministerrat die Einführung der Grünen Gentechnik in Europa möglich machte. Doch auch das konnte nicht genügend bekannt gemacht werden.

So wurden die ÖDP-Programme zwar immer besser. Viele Mitglieder waren begeistert. Und wenn sie während der Bahnfahrten zu den Parteitagen die Konzepte Mitreisenden erläuterten, traten oft spontan welche der Partei bei. Doch die Wahlergebnisse blieben deprimierend. Für Werbung war kaum Geld da. Und die überregionalen Medien berichteten wenig über die ÖDP. Ein Redakteur einer großen Zeitung sagte mir ins Gesicht, dass die atom- und genkritische Haltung für ihre Anzeigenkunden ein rotes Tuch sei und sie uns deshalb kaum erwähnen könnten, denn zwei Drittel ihrer Einnahmen stammten aus Werbeanzeigen.

Volksbegehren in Bayern

In Bayern war der Senat eine Einrichtung, um ältere, verdiente Personen in die Politik einzubeziehen und ihnen einen ansehnlichen Zuverdienst zu verschaffen. Ihnen wurde zwar jeder neue Gesetzentwurf vorgelegt, ihre Stellungnahme aber kaum berücksichtigt. Da die Mitglieder des Senats nicht gewählt, sondern einfach eingesetzt wurden, war diese Einrichtung nach Ansicht der ÖDP eine reine Geldverschwendung, die den Steuerzahler jährlich 10 Mio. DM kostete – damals viel Geld. Deshalb startete die bayerische ÖDP das Volksbegehren „Schlanker Staat ohne Senat“. Am 8. Februar 1998 stimmten 69 % der Wählerinnen und Wähler dem ÖDP-Entwurf zu und der Senat war abgeschafft.

Bemerkenswert war der Ideenreichtum, mit dem die ÖDP für das Volksbegehren warb: Ein Lied wurde komponiert, das offenbar so ansprechend war, dass es sogar im Bayerischen Rundfunk gesendet wurde. Auf den vielen Infoständen verkaufte sich die Kassette gut. Besonders originell war eine Straßenaktion in Passau zur Bekanntmachung der Eintragungszeit: Als römische Senatoren verkleidet, warfen zwei ÖDP-Mitglieder unter den Klängen des Bayerischen Defiliermarschs Geld zum Fenster hinaus.

Dieser Erfolg machte dem bayerischen Landesverband Mut, weitere Volksbegehren zu starten. Eines wollte den Landtag verkleinern, die Zahl der Staatssekretäre in den Ministerien verringern und die Legislaturperiode des Landtags von vier auf fünf Jahre verlängern. Ein weiteres wollte die vier geplanten Standorte für neue Atomkraftwerke in Bayern streichen. In beiden Fällen kam es zu keiner Abstimmung, weil die Regierung die Forderungen aus Furcht vor einem erneuten Erfolg der ÖDP auch so erfüllte.

Zwei weitere bayerische Volksbegehren wurden in den 2010er-Jahren Meilensteine der ÖDP-Geschichte. Das erste widmete sich dem Nichtraucherschutz, den die bayerische Staatsregierung in Gaststätten gelockert hatte, sodass die Gäste während des Essens und die Bedienungen während ihrer gesamten Arbeitszeit dem Qualm ausgesetzt waren. Am 4. Juli 2010 wurde das ÖDP-Volksbegehren „Für echten Nichtraucherschutz“ gewonnen. Initiiert und koordiniert hatte es der spätere Bundesvorsitzende Sebastian Frankenberger.

Das bisher erfolgreichste Volksbegehren in der bayerischen Geschichte trug den Titel „Artenvielfalt – Rettet die Bienen“. Im März 2019 wurde es von mehr als 18 % der bayerischen Wahlberechtigten durch ihre Unterschrift unterstützt. Agnes Becker, eine der Koordinatorinnen des Volksbegehrens, führte anschließend viele Gespräche mit der bayerischen Staatsregierung über die praktische Umsetzung. Dieses Volksbegehren hat auch außerhalb Bayerns zu wichtigen Gesetzesänderungen geführt.

Bei den Landtagswahlen belohnte der Wähler diese Erfolge nicht. Kurz nach dem Nichtraucher-Volksbegehren sank im September 1998 sogar der Stimmenanteil. Das liegt auch daran, dass man seine Stimme derjenigen Partei gibt, von der man sich Vorteile für die eigene Zukunft erwartet. Gewonnene Volksbegehren liegen aber in der Vergangenheit. Beim Wähler spielt es kaum eine Rolle, was eine Partei geleistet hat, sondern vor allem, was sie vermutlich in der Zukunft leisten wird.

Kommunale Mandate

Besser lief es bei den Kommunalwahlen, weil viele der Kandidaten in ihrer Stadt oder Gemeinde bekannt waren und deshalb die Lokalpresse über uns berichtete. Der erste Erfolg war bereits am 7. März 1982 – also kurz nach der Parteigründung! – in der schleswig-holsteinischen Gemeinde Geschendorf. Doch lange nahm die ÖDP nur sporadisch an Kommunalwahlen teil. Das änderte sich erst 1989, als sie in mehreren Bundesländern Mandate errang. Eines der besten Ergebnisse war in Ravensburg mit 7,3 %. Dieser Erfolg hing sicher mit unserem Protest gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zusammen, der uns allein im Kreis Schwandorf, wo sie gebaut werden sollte, fünf Mandate brachte. Heute hat die ÖDP etwa 500 kommunale Mandate, darunter auch einige Bürgermeister.

Die Jahre 2003 bis 2010

Die ÖDP entwickelte sich am schnellsten in Bayern, wo die kontinuierliche Arbeit des langjährigen Landesvorsitzenden Bernhard Suttner und des Geschäftsführers Urban Mangold einen stetigen Zuwachs an Mitgliedern brachte. Wenn sich auch die Volksbegehren bei den Landtagswahlen nicht bezahlt machten, für den Aufbau der Parteistrukturen waren sie ein starker Motor. So stammte damals wie auch heute noch ein Großteil der Mitglieder aus Bayern.

Deshalb gab es 2003 die Tendenz, die ÖDP stark auf Bayern zu konzentrieren und die anderen Bundesländer kaum noch zu unterstützen. Im Gegensatz zum damaligen Bundesvorsitzenden Uwe Dolata hielt ich dies für falsch. So kamen er und ich in einer gemütlichen Würzburger Weinstube überein, bei der nächsten Vorstandswahl in aller Freundschaft gegeneinander zu kandidieren. Ich gewann, und wir tauschten unsere Plätze: Dolata wurde zweiter Vorsitzender, ich erster. Das blieb ich bis 2010, als ich nicht mehr zur Wahl antrat.

In dieser Zeit gab es für uns eine Reihe von Herausforderungen. Da war der Atomausstieg, den die rot-grüne Bundesregierung vor der Wahl versprochen hatte, dann aber auf die lange Bank schob. Als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, beschloss sie sogar für die Atomkraftwerke eine Laufzeitverlängerung – wegen der ungeklärten Endlagerung und der aufgetretenen Haarrisse in den Brennstäben unverantwortlich. Deshalb lag ein Schwerpunkt der ÖDP-Aktivitäten in der Aufklärung über diese Gefahren und die Begleitung von Gerichtsverfahren. Erst 2011 wurde nach dem Unfall von Fukushima die Laufzeitverlängerung zurückgenommen. Denn die Anti-Atom-Demonstrationen hatten eine bislang nie da gewesene Größe erreicht.

Eine weitere Herausforderung war 2009 die Finanzkrise, die Griechenland und einige andere Länder in Armut stürzte. Die ÖDP machte die unlauteren Machenschaften einiger Politiker, die daran eine Mitschuld hatten, bekannt und prangerte die undemokratischen Maßnahmen zur Stabilisierung des Euro an.

Die wachsende Zahl der EU-Mitgliedsstaaten macht eine Reform der Verträge nötig, die die Zusammenarbeit in Europa regeln. Viele Teile davon sind undemokratisch: Die EU-Kommission ist die „Regierung“, in der sich sehr viel Macht konzentriert. Sie wird nicht gewählt, sondern von den Regierungen der Mitgliedsländer unter starkem Einfluss der Wirtschaft ausgesucht. Das EU-Parlament kann sie nur bestätigen oder ablehnen. Es kann auch keine Gesetzesentwürfe einbringen und hat in wichtigen Bereichen wie Außen- und Sicherheitspolitik nichts zu sagen. Die Stimmen für die Wahl des Parlaments werden sehr ungleich bewertet: Beispielsweise zählt die Stimme eines Luxemburgers 11-mal so viel wie die eines Deutschen.

Gegen diese Verträge reichte die ÖDP beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. Zwei weitere Beschwerden kamen von ÖDP-Mitgliedern. Und in einem Punkt bekamen wir sogar Recht: Das Votum des jeweiligen deutschen Mitglieds im Ministerrat sollte vorher vom Bundestag entschieden werden. Denn in jeder Demokratie hat das Parlament bei wichtigen Entscheidungen das letzte Wort. Praktisch halten sich die Minister jedoch nur selten an dieses Urteil.

Mandat im EU-Parlament

Gerade noch rechtzeitig vor der Europawahl 2014 hatte die ÖDP zusammen mit anderen Parteien die 5-%-Hürde weggeklagt. Als Spitzenkandidat der ÖDP-Liste konnte ich so ins EU-Parlament einziehen. Bereits am Tag nach der Wahl erhielt ich den ersten Anruf einer Fraktion, die die ÖDP gern aufnehmen wollte. Denn wie in jedem Parlament hängt der Einfluss einer Fraktion von der Zahl ihrer Mitglieder ab. Ich entschied mich für die „Grünen/Freie Europäische Allianz“, weil ich dort trotz aller Unterschiede genügend Unterstützung für eine echte ÖDP-Politik bekam.

Wie ich mir gewünscht hatte, wurde ich Mitglied im Ausschuss für Außenpolitik mit den Unterausschüssen Menschenrechte sowie Sicherheit und Verteidigung, zudem stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Außenhandel. Meine erste wichtige Entscheidung war das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine. Damals plante Putin die „Eurasische Union“ als Partner und Gegenstück der EU. Das ging nicht ohne die Ukraine. Deshalb machte er ihr sehr verlockende Angebote. Doch die Mehrheit der Ukraine wollte sich nach dem Westen orientieren. In dieser Situation wäre Fingerspitzengefühl nötig gewesen. Man hätte durch das Abkommen weder einen Teil der eigenen Bevölkerung noch Putin derart vor den Kopf stoßen dürfen. Das wäre möglich gewesen, auch ohne dabei den Anschluss an den Westen aus den Augen zu verlieren. Die Folgen sind bekannt. Ich war einer der wenigen Abgeordneten, die gegen diesen Vertrag stimmten.

Meine Mitgliedschaft in der Delegation für den Iran kam meinen Interessen als gelernter Kernphysiker sehr entgegen, weil kurz zuvor der Atomvertrag (JCPOA) mit dem Iran geschlossen wurde. Als kurze Zeit später US-Präsident Donald Trump den Vertrag aufkündigte und Sanktionen gegen alle Länder verhängte, die mit dem Iran noch Handel trieben, fand ich einen Weg, wie wenigstens der Import von Medikamenten und Nahrungsmitteln möglich war – eigentlich eine Selbstverständlichkeit bei allen Sanktionen. Aber der Iran wollte nur entweder den ganzen Vertrag oder nichts davon. Wenigstens konnte ich bei den Verhandlungen, die immer mit großem Respekt geführt wurden, Erleichterungen für einige politische Gefangene erreichen.

Der Arabische Frühling brach zusammen, weil die Diktatoren ihre Gegner mit europäischer Überwachungstechnik schnell identifizieren und ausschalten konnten. Da das EU-Parlament nicht selbst Gesetzesentwürfe einbringen kann, bat es die EU-Kommission 6-mal, hier tätig zu werden, bis sie endlich einen Entwurf vorlegte. Das EU-Parlament bestimmte mich als Berichterstatter. Gerade die deutsche CDU war gegen zu starke Einschränkungen und erachtete das Geschäft für wichtiger als die Menschenrechte. Trotzdem konnte ich schließlich mithilfe meines Assistenten und dessen Charmeoffensive bei Kolleginnen 92 % Zustimmung für einen „wasserdichten“ Gesetzesentwurf im Parlament bekommen. Das EU-Parlament entscheidet aber nur gemeinsam mit dem Ministerrat, der das Vorhaben um fast zwei Jahre verzögerte.

Gegen alle Gepflogenheiten übergab die Fraktion nach meinem Ausscheiden aus dem Parlament die Verhandlungen nicht meiner Nachfolgerin Manuela Ripa, die großes Geschick und Erfahrung gehabt hätte. Stattdessen wurde eine blutjunge ehrgeizige tschechische „Piratin“ damit beauftragt. Sie wollte den Gesetzesentwurf so schnell wie möglich abschließen und das als ihren Erfolg verbuchen. Menschenrechte waren nicht so wichtig. So entstand schließlich ein Gesetz, das den Export moderner Überwachungstechniken an Diktatoren kaum einschränkt.

2019 führte ich noch den Wahlkampf, um sicherzustellen, dass die ÖDP das Mandat halten konnte. Ein Jahr später übergab ich dann an Manuela Ripa, die diese Arbeit mit großem Engagement und Erfolg weiterführt.

Schon lange vor dieser EU-Wahl hielt ich sehr viele Vorträge über einen gesundheitsverträglichen Mobilfunk. Das Interesse daran war groß. Es kamen jeweils bis zu 700 Zuhörer. Die Zahl der ÖDP-Mitglieder stieg entsprechend an – bis Anfang 2020 der Corona-Lockdown weitere Veranstaltungen verhinderte. Viele Monate waren nur Online-Veranstaltungen möglich – und die Zahl der Mitglieder sank sogar wieder etwas ab, als im internen Medium „Orangeaktiv“ die industriefreundliche Gegenposition aggressiv vertreten wurde, die jede Kritik an der gegenwärtigen Mobilfunktechnik bekämpfte. Der Mitgliederzuwachs von 2017 bis 2021 wurde auch durch andere Umstände erzeugt: Zwischen 2018 und 2019 machte uns das bayerische Volksbegehren „Rettet die Bienen“ bundesweit bekannt. Auch der EU-Wahlkampf 2018/2019 spielte eine Rolle. Beide Ereignisse waren aber sicher nicht der Hauptgrund für diese positive Entwicklung. Das folgt aus der Tatsache, dass sie vor ihnen begann und bis Herbst 2021 anhielt.

Zukunft der ÖDP

Vor 40 Jahren erkannten die Volksparteien nicht, welche Folgen die wachsende Umweltzerstörung haben würde. Das machte die Gründung der ÖDP nötig. Heute sind neue Bedrohungen dazugekommen, die unsere Umwelt, Freiheit und Demokratie gefährden. Drei Beispiele: Internationale Verträge haben Vorrang vor unserem Grundgesetz. Freihandelsabkommen wie CETA erlauben es Ausschüssen, die nicht demokratisch gewählt sind, wesentliche Entscheidungen zu treffen, z. B. ob und wie bei uns Gentechnik in den Nahrungsmitteln eingeführt wird. Wegen des Vertrags mit dem Namen „Energiecharta“ mussten wir für den Atomausstieg etliche Milliarden an die Atomkraft-Betreiber zahlen. Und in der Weltgesundheitsorganisation wollen Vertreter der Impflobby ohne Zustimmung der Mediziner vor Ort und der gewählten Volksvertreter entscheiden, in welchen Ländern ein Lockdown und ein Impfzwang eingeführt werden.

Eine weitere Bedrohung unserer Freiheit und unserer Demokratie ist die Überwachung aller Bürger, die immer weiter perfektioniert wird. Wenn wir „freiwillig“ den Geschäftsbedingungen von Google, Facebook usw. zustimmen, geben wir so viele Informationen über uns preis, dass die Firma Cambridge Analytica damit sogar die Wahl von Donald Trump durch individualisierte Werbung beeinflussen konnte. Inzwischen geschah das bei mindestens 200 weiteren Wahlen. Die Sensoren, die in alle neuen Autos eingebaut werden müssen, übermitteln, wer wann allein oder zu zweit wohin fährt. Durch die Aufzeichnung des Fahrstils weiß man viel über die Stimmungslage. Und mit der Kamera am Smartphone und am Laptop lässt sich feststellen, wer bei welcher Situation welche Emotionen hat – besonders beim Betrachten von YouTube-Filmen. Auch wenn die Informationen aus „smarten“ Elektrizitäts-, Heizungs- und Wasserzählern geschützt sind, können sie problemlos illegal ausgewertet werden. Ein Vertreter einer Softwarefirma sagte: „Wenn eine Frau schwanger wird, wissen wir das vor ihr.“ Solches Wissen kann nicht nur für die Werbung genutzt werden, sondern auch für die gezielte Manipulation der Bürger.

Die Ergebnisse dieser Überwachung sollen in einen neuen elektronischen Pass einfließen. Dafür gibt es zwei Projekte: „ID2020“ und das „Commons-Project“. Beide sollen von privaten Firmen betrieben werden und außer den üblichen Daten eines Ausweises beispielsweise auch noch Impfstatus, Angaben über die Gesundheit und regierungskritische Aktivitäten dokumentieren. Es ist angedacht, dass die US-Regierung die Einreisegenehmigung von diesen Daten abhängig macht.

Auch die Veränderung des Menschenbilds müssen wir im Auge behalten. Danach ist das wichtigste Kriterium für unsere Beurteilung, wie wir für die Wirtschaft funktionieren. Weil wir nicht perfekt sind, haben wir die Möglichkeit, den Menschen bei seiner Zeugung gentechnisch zu optimieren. Behinderte haben in diesem System keine Existenzberechtigung mehr. Die Ausrichtung des Menschen hin auf ein für die Wirtschaft nützliches Wesen beginnt heute schon im Alltag: bei den veränderten Lerninhalten in den Schulen bis hin zur oben erwähnten Manipulation durch die Informationen, die unsere Überwachung liefert.

Die Zukunft der ÖDP hängt nicht davon ab, ob wir die „besseren Grünen“ sind, sondern davon, wie wir auf diese neuen Herausforderungen reagieren. 1978 haben die etablierten Parteien die Notwendigkeit des Umweltschutzes zu spät erkannt, weshalb die „Grüne Aktion Zukunft“ gegründet werden musste. Heute erkennen die anderen Parteien die Bedrohung durch den Demokratieabbau und durch die Idee des „nützlichen Menschen“ noch nicht. Wird die ÖDP rechtzeitig handeln?

 


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