Dr. Jörg Alt SJ verteilt „containerte“ Lebensmittel an Passanten. – Foto: Jesuitenweltweit

Landwirtschaft & Ernährung

„Ein Akt zivilen Ungehorsams“

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Die Staatsanwaltschaft Nürnberg leitete kurz vor Weihnachten 2021 ein Ermittlungsverfahren gegen einen bekannten Jesuitenpater ein. Der Vorwurf: Diebstahl in besonders schwerem Fall. Es drohen ihm 3 Monate bis 10 Jahre Haft. Das Delikt: Er entwendete aus Müllcontainern von Supermärkten Lebensmittel, verteilte sie kostenlos an Passanten – und zeigte sich selbst an.

Interview mit Dr. Jörg Alt SJ

 

ÖkologiePolitik: Herr Dr. Alt, wie kam es zu dieser Aktion?

Dr. Jörg Alt SJ: Ich bin seit dem Hungerstreik der Gruppe „Letzte Generation“ mit dieser verbunden. Inzwischen hat sie sich in „Aufstand der Letzten Generation“ umbenannt – inspiriert von Barack Obamas berühmtem Satz: „Wir sind die erste Generation, die die Folgen des Klimawandels zu spüren bekommt, und die letzte Generation, die daran etwas ändern kann.“ Das Anliegen der Aktion war es, unter dem Motto „Essen retten = Leben retten“ auf den Skandal aufmerksam zu machen, dass sich die Welt spaltet in jene, die Lebensmittel wegschmeißen, und jene, die Hunger leiden und deren Ackerflächen vielleicht sogar dazu missbraucht werden, um Soja für unsere Steaks anzupflanzen. Da der Papst diesen Missstand auch schon seit Langem anprangert, war es für mich eine leichte Entscheidung, hier mitzumachen.

Wie viele noch essbare Lebensmittel landen denn in Deutschland auf dem Müll?

Das ist natürlich alles Schätzungssache, aber um die 12 Mio. t pro Jahr ist die untere Grenze. Wenn es heißt, dass jeder Haushalt 75 kg pro Jahr wegwirft, ist nicht auszuschließen, dass damit z. B. auch die äußeren Salatblätter mitgerechnet wurden, die natürlich niemand verwendet. So oder so: Entlang der Kette von Produktion, Verarbeitung, Transport, Lagerung, Verkauf und Endverbraucher landet sehr viel im Müll.

In Deutschland ist „Containern“ verboten. Wie ist die Gesetzeslage in anderen Ländern?

In anderen Ländern gibt es Gesetze, die es Produzenten und Geschäften erleichtern, leicht beschädigte Ware, Ware, deren Verpackung beschädigt ist oder wo das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, abzugeben, etwa über steuerliche Erleichterungen. Dabei wissen die wenigsten Deutschen, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum deutlich zu unterscheiden ist vom Mindestverbrauchsdatum. Letzteres ist kritisch, Ersteres überhaupt nicht – und jeder Mensch, dessen Sinne halbwegs funktionieren, kann ohne Probleme Dinge, deren Haltbarkeit abgelaufen ist, essen. Bei mir war das etwa beim ersten „Raubzug“ ein wunderbarer Shrimpssalat und meine Kommunität hat hinterher eine Woche lang Brot gegessen, das sogar schon 2 Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums in der Mülltonne lag. Wir leben alle noch.

Wie war die Resonanz auf Ihre Aktion?

Die war unerwartet positiv. Angefangen bei der von mir herbeigerufenen Polizei, deren erster Kommentar „Das ist aber eine coole Aktion!“ war, bis zum Explodieren meines Twitter-Accounts, der innerhalb von 5 Tagen von 30 auf 10.000 anwuchs. 98 % aller Kommentare sind positiv – und dabei ist es egal, ob es klassische Leserbriefe, Online-Kommentare oder Tweets sind.

Wie ist der Stand bei Ihrem Strafverfahren? Und wie geht es weiter?

Da ich kein Geld meines Ordens oder meines Arbeitgebers, des Hilfswerks „Jesuitenweltweit“, für meine Verteidigung ausgeben wollte, habe ich einen Spendenaufruf gestartet. Da ging genügend Geld ein, damit ich mir eine Rechtsanwältin leisten kann. Jetzt haben wir die Akte der Staatsanwaltschaft angefordert und sind gespannt, warum die meine Tat auf eine Stufe stellt wie den Diebstahl von Waffen und Sprengstoff, der ebenfalls im relevanten § 243 StGB geregelt ist. In der Zwischenzeit stichele ich gegen Parteien und Politik, ohne deren bewusste Untätigkeit auf den klaren Hinweis des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung zu einem früheren Container-Fall, wie man das Problem bereinigen und straffrei stellen könnte, mein Akt zivilen Ungehorsams ja gar nicht nötig gewesen wäre. Meine Hoffnung ist, dass die Politik schneller die Gesetze ändert, als dass es dem bayerischen Staat gelingt, mich vor Gericht zu stellen. Sobald die Gesetze geändert sind, akzeptiere ich alles, was für eine Verfahrensbeendigung erforderlich ist. Die Justiz sollte sich schließlich um Wichtigeres kümmern, etwa den Diebstahl von Waffen und Sprengstoff oder von Millionen und Milliarden an hinterzogenen Steuern.

Herr Dr. Alt, herzlichen Dank für das interessante Gespräch. Und viel Erfolg.

 


Spendenkonto

Inhaber: Jesuitenweltweit
IBAN: DE61 7509 0300 0005 1155 82
Verwendungszweck: X36440 Projekte Jörg Alt

Weitere Infos: www.joergalt.de/advocacy/ziviler-ungehorsam.html


Onlinetipps

Matthias Oberth
Jesuitenpater Alt: „Wir wollen stören, nicht zerstören“
Nordbayern.de, 12.01.2022
www.t1p.de/jjn2c

o.V.
Lebensmittel gerettet: Ermittlungen gegen Jesuitenpater
Süddeutsche, 23.12.2021
www.sz.de/1.5494969

Michael Reiner
Bis die Polizei kommt: Pater aus Nürnberg rettet Lebensmittel
Bayerischer Rundfunk, 22.12.2021
www.t1p.de/0pv3


Buchtipps

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