Alexandra Korolewa (Mitte) bei einer der ersten Klima-Kundgebungen im russischen Kaliningrad – Foto: Timofey Zubarev

Demokratie & Recht

Russische Umweltaktivistin flieht nach Deutschland

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Die 65-jährige Alexandra Korolewa leitete in Kaliningrad das örtliche Büro der Umweltschutz-Organisation „Ecodefense!“. Wegen finanzieller Unterstützungen aus dem Ausland wurden deren Mitglieder von den russischen Behörden als „ausländische Agenten“ eingestuft und zunehmend schikaniert. Als ihr ein Strafverfahren und mehrjährige Haft drohten, floh Korolewa nach Dresden.

von Ekaterina Venkina

 

Weißer Sand. Kilometerlange Strände. Ausgedehnte Sanddünen, die fast in den Himmel ragen. Braungrüner borstiger Sandhafer. Psammophyten, Halophyten und Xerophyten: Sandpflanzen, Salzpflanzen und Trockenpflanzen, deren botanische Bezeichnungen mehr an die Namen der altgriechischen Götter erinnern als an die Pflanzenarten. Dies ist die Kurische Nehrung zwischen Haff und Ostsee.

„Das Baltische Meer – ich vermisse es am meisten. So sehr, dass es weh tut“, sagt Alexandra Korolewa, Bürstenhaarschnitt, teilweise ergrautes Haar, übergroße klobige Brille. Von ihrer geliebten Nehrung sind es etwas mehr als 660 km Luftlinie bis nach Dresden, wo die 66-Jährige zurzeit lebt.

Korolewa ist eine russische Umweltaktivistin, Mitbegründerin und Mitvorsitzende der Nichtregierungsorganisation „Ecodefense!“. Im Dezember 2019 wurde sie offiziell zur Öko-Dissidentin und zur politischen Asylantin in Deutschland. Ihre Heimatstadt Kaliningrad sollte sie verlassen: Dort drohen ihr bis zu zwei Jahre Haft.

Bahnbrecherin, Provokateurin, Dünen-Kennerin

Im ehemaligen Königsberg, dieser wohl europäischsten aller russischen Städte, stellte Korolewa 2007 aus Protest eine große Nachbildung eines Kernkraftwerks vor das Gebäude der Gebietsverwaltung. Aus einem Rohr stieg beißender orangefarbener Rauch. Dann fesselten sie und andere Öko-Aktivisten sich mit Handschellen an den Eingang des Gebäudes. 2013 wurde der Bau des Kernkraftwerk-Blocks „Baltijsk-1“, gegen den sie mehrere Jahre lang protestiert hatte, ausgesetzt.

Dank Korolewa fand 2005 in der Stadt das erste Referendum zum Thema „Umwelt“ statt. Etwas, das unter den heutigen politischen Bedingungen in Russland fast undenkbar wäre. Es ging um den Bau einer Ölverladestation im Hafen von Swetly, westlich von Kaliningrad. Rund 90 % der Befragten sprachen sich dagegen aus. Daraufhin wurde das Projekt gestrichen.

Zurzeit ist die größte Sorge von Korolewa: die Avant-Düne der Kurischen Nehrung. Diese künstliche Konstruktion soll die Nehrung vor den Meereswellen schützen. Sie erfüllt jedoch ihre Hauptfunktion nicht. Fast die Hälfte der Düne ist laut „Ecodefense!“ in einem „kritischen Zustand“. Die Organisation hat dem UNESCO-Welterbekomitee einen Bericht darüber vorgelegt. Die örtliche Nationalparkverwaltung bestreitet die Ernsthaftigkeit der Gefahr. Korolewa aber beharrt: „Dies ist keine emotionale Einschätzung, sondern das Ergebnis von Feldforschung.“

Abschied von der Kurischen Nehrung

Korolewa und die Kurische Nehrung: Viele Jahrzehnte lang lebten sie Seite an Seite. Sie sahen sich mehrmals am Tag. Immer dann, wenn Korolewa ihren Hund spazieren führte. Wenn sie im nahegelegenen Wald Pilze sammelte und sich danach eine kurze Badepause gönnte. Es war ihr alltäglicher Tango. Ein Wunder, das allmählich zur Gewohnheit wurde. Jeden Tag verabschiedeten sie sich „bis zum nächsten Mal“. Bis es kein „nächstes Mal“ mehr gab.

Es endete abrupt am 5. Juni 2019, an einem drückend heißen Frühsommertag. Um 12 Uhr wurde Korolewa im Büro des Ermittlers erwartet. Um 7 Uhr setzte sie sich in den Bus, der nach Litauen fahren sollte. Am Busbahnhof in Zelenogradsk, dem ehemaligen deutschen Seebad Cranz, 34 km nördlich von Kaliningrad, wo sie derzeit wohnte, war sie viel zu früh dran. In der Nacht zuvor hatte sie vor lauter Anspannung „kein Auge zugetan“. Die Fahrt zur Grenze dauerte etwa 60 Minuten. „Ich spürte nichts als Angst, es fühlte sich an, als hätte ich eine Stunde lang nicht geatmet.“

In den Jahren zuvor wurde „Ecodefense!“ in Russland mehrfach mit Geldstrafen belegt. Sie wurden nicht bezahlt und türmten sich nach und nach auf mehr als 1,14 Mio. Rubel auf – umgerechnet 12.700 Euro. 23 Verwaltungsverfahren wurden eingeleitet, weil sich die Organisation nicht an das umstrittene „Gesetz über ausländische Agenten“ hielt, das seit 2012 in Kraft ist. Das Gesetz bedeutete eine erhebliche Einschränkung umweltaktivistischer Tätigkeiten.

Am 31. Mai 2019 wurden im Abstand von nur 8 Minuten gleich fünf Verfahren gegen Alexandra Korolewa wegen „böswilliger Nichterfüllung eines Gerichtsentscheids“ eröffnet. Am 3. Juni 2019 erhielt sie einen Anruf von einem Ermittler. Schon am selben Tag wurde ihr klar, dass sie Russland verlassen sollte.

An der Grenze

Als sie am Kontrollpunkt an der Grenze zu Litauen stand, hatte Korolewa nur einen kleinen Rucksack dabei. Doch der war vollgepackt: Ein Laptop, eine Windjacke, Turnschuhe und Jeans waren drin. „Wahrscheinlich auch ein Pullover.“ Wegen der Hitze konnte sie nur ein Sommerkleid und Sandalen tragen.

Auch ein paar Fotos hat sie in den Rucksack reingequetscht. Einige von ihnen zeigten ihre Mutter. Dort sah sie noch relativ jung aus. Ihre Kindheit verbrachte sie in der Kleinstadt Kurmysch, rund 500 km östlich von Moskau. Ihr Vater, Korolews Großvater, wurde 1937 im Laufe der Stalinrepressalien erschossen. Seine Frau musste fliehen, um ihre zwei Kinder zu retten. Beide überlebten und durften studieren. „Die Mechanismen der Repression funktionieren in Russland nicht immer reibungslos. Manchmal gelingt es den Opfern zu entkommen“, berichtet Korolewa.

Als sie die Grenze nach Litauen überquerte, fragte der Grenzbeamte: „Warum haben Sie so viele Sachen dabei?“ Viele Kaliningrader machen regelmäßig Ausflüge nach Nida in Litauen. Sie schlendern unbeschwert durch die Stadt, sitzen in Cafés mit Blick auf das Haff und die Dünen, und kehren dann noch am selben Tag zurück. Korolewa lächelte den uniformierten Mann an: „Heute Abend werden wir darüber lachen, dass ich so viel mitgeschleppt habe.“

„Lottogewinn“ Dresden

Dresden war für mich „wie ein Lottogewinn“, sagt Korolewa. Sie kam am 24. Juli 2019 in der sächsischen Hauptstadt an, fast 50 Tage nach ihrer Flucht aus Russland. Hinter sich hatte sie ein paar Übernachtungen in Nida, danach mehrere Wochen in einem Dorf bei Gorleben, wo sie bei einer Freundin unterkam und „versuchte, die Ängste loszuwerden“. Nachdem sie kurzzeitig an einem ökopolitischen Festival im Landkreis Lüchow-Dannenberg teilgenommen hatte, zog sie nach Berlin und beantragte dort Asyl. Ein Computerprogramm wies sie einer Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden zu.

Wie war es, im Alter von 65 Jahren in einem Asylheim zu landen? Das Schwierigste war wohl das fast völlige Fehlen von Privatsphäre. Es war verboten, das eigene Zimmer abzuschließen. Die Mahlzeiten mussten in einem Raum mit etwa 200 anderen Menschen eingenommen werden. Nach ein paar Tagen radelte Korolewa buchstäblich von diesen tristen Verhältnissen weg: „Ich habe mir ein gebrauchtes Fahrrad für 50 Euro gekauft. Die Fahrradtouren sind für mich zum Maß der Freiheit geworden.“

Sie entdeckte die Stadt und verliebte sich allmählich in sie. Hinter einzelnen Fassaden fand sie die Merkmale, die sie an Kaliningrad erinnerten: „Zwillingsbrüder – nur durch Zufall getrennt.“ Der eine schien in guten Verhältnissen gelebt zu haben. Der andere wuchs „in einer Säuferfamilie auf, in der alles zerstört wurde“. Sie lernte die Dresdner Straßenbahnen lieben. In Kaliningrad wurden die S-Bahnen fast vollständig abgeschafft, nur eine Linie ist noch in Betrieb.

Kurz vor Weihnachten erhielt Korolewa die Nachricht, dass ihr Asylantrag genehmigt worden war. Wie hat sie sich gefühlt? Zwiespältig. Sie war gefangen zwischen den beiden Ländern.

Ein Jahr, das ihr die Augen öffnete

Im Jahr 2020 war sie endlich bereit weiterzumachen. Vieles, was Alexandra Korolewa in den letzten 12 Monaten erlebt hat, hat ihr die Augen geöffnet. Trotz der Pandemie konnte sie viel reisen. Sie unterstützte ihre Kolleginnen und Kollegen, die in Münster und Essen gegen Uranhexafluorid-Transporte nach Russland protestierten. Sie traf Luisa Neubauer, die „deutsche Greta Thunberg“. Und sie sprach mit Reportern am Rande des Braunkohletagebaus Garzweiler.

Vor den jungen Aktivistinnen und Aktivisten des Bündnisses „Ende Gelände“ hielt Korolewa eine Reihe von Vorträgen über die Anti-Atom- und Anti-Kohlekraft-Bewegung in Russland. Ihre Hauptbotschaft war: „Wir und die Umweltprobleme in unseren beiden Ländern sind sich sehr ähnlich.“

Auf Facebook postete sie viele Fotos von ihrer geliebten Kurischen Nehrung sowie Bilder von den Mitte Dezember blühenden Fuji-Kirschbäumen in Dresden. Kein Wunder. Schließlich ist sie von Beruf immer noch gelernte Dendrologin. Ihr umweltpolitisches Engagement will Korolewa international fortsetzen: „Ich würde gerne Brücken zwischen deutschen und russischen Öko-Aktivisten bauen.“