Flugreisen sind beliebt, verursachen aber besonders hohe CO2-Emissionen. - Foto: Andreas Morlok/pixelio.de

Umwelt & Klima

„Das ökologische Versteckspiel aufdecken!“

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Deutschland bekennt sich zwar zum Klimaschutz und pflegt das Image des Vorreiters, doch seine eher moderaten Klimaschutzziele für das Jahr 2020 wird es deutlich verfehlen. Die hohen CO2-Emissionen spürbar zu senken, gelang bisher nicht. Das wird achselzuckend hingenommen, statt die Ursachen zu analysieren und entschlossen umzusteuern.

Interview mit Prof. Dr. Niko Paech

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Paech, die deutschen CO2-Emissionen stagnieren seit Jahren auf einem viel zu hohen Niveau. Sie behielten also mit Ihrer Prognose recht, dass „Grünes Wachstum“ nichts bringe. Warum bringt es nichts?

Prof. Dr. Niko Paech: Ich sehe da vor allem drei Gründe. Erstens eine Überschätzung des technischen Fortschritts. Zweitens eine Unterschätzung der Rebound-Effekte. Und drittens ein ökologisches Versteckspiel, welches darauf basiert, durch symbolische Handlungen von den Nachhaltigkeitsdefiziten der eigenen Lebensführung abzulenken.

Erläutern Sie das doch bitte etwas genauer.

Umweltpolitik und individuelles Umwelthandeln sind an dem bequemen Irrglauben orientiert, je mehr ökologisch korrekte Objekte es gäbe – Passivhäuser, Photovoltaikanlagen, Elektroautos usw. –, desto mehr hätten wir erreicht. Tatsächlich kann die Zahl der ökologisch korrekten Objekte und Einzelhandlungen permanent zunehmen, während sich die ökologische Gesamtsituation systematisch verschlechtert. Aussagekräftig ist nur die ökologische Gesamtbilanz aller Handlungen und nicht die Verausgabung in symbolträchtigen Aktionen, die nur wenig bewirken. Ich geben Ihnen zwei Beispiele: Durch die Anstrengungen im Elektrizitätssektor, die nicht viel bringen, aber sehr symbolträchtig und überdies bequem sind, weil sie niemandem etwas abverlangen, wird von der Notwendigkeit abgelenkt, den Verkehr zu reduzieren. Oder: Manche sehr umweltbewusste Menschen bauen sich ein Passivhaus und kaufen immer im Bioladen ein, um über ihre Urlaubsreisen und ihren digitalen Konsum nicht reden zu müssen. Aber ein nachhaltiger Lebensstil kann nur anhand der ökologischen Gesamtbilanz beurteilt werden, die zunehmend desaströser wird, während gleichzeitig die ökologischen Ersatzhandlungen wachsen. Dabei weiß jeder, der sich mit der Klimaerwärmung befasst, dass die CO2-Emissionen maximal nur 2,5 t pro Person und Jahr betragen dürften. In Deutschland haben wir einen Wert von 12 t. Paradoxerweise liegt er noch höher bei vielen, die ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein besitzen, „grün“ wählen und mit ihrem Tun viele ökologisch korrekte Signale aussenden.

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Die eigene CO2-Bilanz lässt sich kinderleicht mit einem der einschlägigen Internet-CO2-Rechner, etwa dem des Umweltbundesamtes ermitteln. Dabei lässt sich erkennen, dass die Mobilität, vor allem Flugreisen, die meisten CO2-Emissionen erzeugen. Ein Hin- und Rückflug nach New York setzt fast 4 t CO2 pro Passagier frei, ein Hin- und Rückflug nach Sidney in Australien sage und schreibe 14 t CO2. Damit wird auf einen Schlag das komplette persönliche CO2-Budget für 6 Jahre verbraucht – und zwar für reinen Luxus. So viele regional und biologisch angebaute Lebensmittel kann niemand während eines Menschenlebens essen, um das jemals auszugleichen. Trotzdem stellte sich bei einer Meinungsumfrage heraus, dass die Hälfte derjenigen, die „grün“ wählen, Flugzeuge häufiger nutzen als die Wähler der Union, der SPD und der Linken. Die Kluft zwischen moralischem Selbstverständnis und tatsächlichem Handeln könnte im Klimaschutz kaum größer sein. Umweltbewusstsein führt nicht zu einem klimagerechten Leben, sondern bedingt oft lediglich, einen ruinösen Lebensstil durch bequemes „Greenwashing“ symbolisch zu kompensieren.

Woher kommt diese Kluft zwischen Selbstverständnis und Handeln?

Ich vermute, einer ihrer Ursprünge liegt in einer Tradition der katholischen Kirche, nämlich der Ablasspraxis. Zumindest beschäftige ich mich aktuell damit und entdecke verblüffende Parallelen. Die Grundidee des im Mittelalter entwickelten Bußwesens, das in den Ablasshandel mündete, lag darin, durch Bußleistungen ein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Um dies schnell und effizient erreichen zu können, wurden die Bußleistungen von der ursächlichen Verfehlung völlig entkoppelt und dann quantifiziert und sogar tauschbar und übertragbar gemacht. Für eine bestimmte Schuld musste man etwas Bestimmtes in einem ganz anderen Bereich tun oder unterlassen – dann war die Schuld beglichen. Als konkretes Beispiel eine Anekdote aus meiner Kindheit: Einmal konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, meiner Oma einen halben Apfelkuchen zu entwenden und aufzuessen. Hinterher wurde ich von Schuldgefühlen geplagt, ging zum Pfarrer und beichtete es. Statt mir nun zu verordnen, selber einen Kuchen zu backen, um ihn Oma zurückzugeben, ließ er mich 20 Vaterunser beten. Erst fragte ich mich, wie sich Apfelkuchen physikalisch durch Gebete aufwiegen lässt. Und dann wurde mir klar: Wenn ich 40 Vaterunser bete, dann kann ich hinterher sogar einen ganzen Kuchen entwenden, ohne Schuld auf mich zu laden. Durch rein symbolische Kompensation lassen sich schädliche Handlungsweisen gegen Wandel immunisieren. Diese Logik feiert heute eine seltsame Wiederauferstehung in der Nachhaltigkeitspraxis. Nur dass da statt Vaterunser zu beten eben Ökostrom bezogen, Bio-Lebensmittel gekauft und Photovoltaik aufs Dach montiert wird. Das sind schöne Symbole für Ökologie, die den tatsächlichen ökologischen Fußabdruck nur wenig reduzieren, wenn dahinter Flugreisen, Kreuzfahrten und eine 160 m2 beheizte Wohnfläche verborgen werden.

Warum wird die ökologische Realität so missachtet und verdrängt?

In einer materiell übersättigten Konsumgesellschaft streben Menschen zunehmend nach Aufmerksamkeit und moralischer Wertschätzung. Dafür ist es wichtig, welche sichtbaren Signale jemand über sich aussendet bzw. welche Signale bei den anderen ankommen und positive Resonanz erzeugen. Diese Kommunikation erstreckt sich zusehends auf konsumförmige und andere moralisch aufgeladene Handlungen, die vorzeigbar sind. Seine im vergangenen Jahr freigesetzte CO2-Menge zu bilanzieren – das ist abstrakt, langweilig, unsexy. Ein prägnantes Symbol wie eine vegane Mahlzeit oder ein E-Mobil ist für das eigene Selbst-Marketing sehr viel besser geeignet als der tatsächliche ökologische Rucksack. Dies erinnert an den Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Erstere geht mit der Erfüllung moralischer Codes einher, kurz: Es geht um politische und ökologische Korrektheit, insbesondere bezogen auf das soziale Umfeld. Die Verantwortungsethik adressiert eher die tatsächlichen materiellen Folgen des eigenen Tuns – unabhängig von Gesinnung. Das ist wesentlich anspruchsvoller und anstrengender, erfordert manchmal sogar Mut.

Wie hängt die Gier nach Anerkennung mit der vorher beschriebenen Ablasslogik zusammen?

Handlungsleitend ist die Angst vor Ausgrenzung als Strafe für unkorrektes Verhalten. In der Religion war es die Furcht vor Gottesferne, vor längeren Aufenthalten im Fegefeuer oder der Fahrt zur Hölle. In der fortgeschrittenen Moderne bildet die Nichtanerkennung oder Ächtung bei mangelnder politischer Korrektheit die Drohkulisse. So kommt es zu einer Inflation symbolischer Ersatzhandlungen, durch die sich moralische, sozial anerkennenswerte Integrität mit einem ausschweifenden Leben verbinden lässt.

Ist die aktuelle Entwicklung tatsächlich so negativ?

Aber sicher. Sie haben ja eingangs sehr richtig drauf hingewiesen, dass die CO2-Emissionen stagnieren. Und das, obwohl in Deutschland das wahrscheinlich ausgeprägteste Umweltbewusstsein vorliegt. Es steigt mit der Bildung. Aber mit der Bildung steigt eben auch das Einkommen. Und mit Bildung und Einkommen steigt die Mobilität, zudem die Neigung zu einem kosmopolitischen und technisch aufgerüsteten Lebensstil, folglich der individuelle Umweltverbrauch. Die Zahl der Flugreisen nimmt seit Jahrzehnten zu. Die Flughafenbetreiber wollen neue Startbahnen. Die Fluggesellschaften neue Flughäfen. Und alle gesellschaftlichen Instanzen begrüßen und fördern diese Entwicklung. Die angesichts dieser Kluft zwischen theoretischer und empirischer Nachhaltigkeit hohe kognitive Dissonanz, also das schlechte Gewissen, lässt sich durch den moralischen Ablass vorzüglich therapieren.

Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?

Indem wir es endlich thematisieren und zum Gegenstand des Nachhaltigkeitsdiskurses werden lassen, in der Politik, der Wissenschaft, der Erziehung und Bildung: Nur die Orientierung an der ökologischen Gesamtbilanz eines Individuums ist relevant. Vor allem benötigen wir mutige Suffizienz-Aktivisten, die so handeln, wie sie reden und damit glaubwürdig das ökologische Versteckspiel aufdecken und durch vorgelebte Gegenbeispiele konfrontieren und herausfordern.

Herr Prof. Paech, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Buchtipps

Reiner Kümmel, Dietmar Lindenberger, Niko Paech
Energie Entropie Kreativität
Was das Wirtschaftswachstum treibt und bremst
Springer, Dezember 2018
252 Seiten, 32.99 Euro
978-3-662-57857-5

Erhard Eppler, Niko Paech
Was Sie da vorhaben, wäre ja eine Revolution …
Ein Streitgespräch über Wachstum, Politik und eine Ethik des Genug
oekom, November 2016
208 Seiten, 14.95 Euro
978-3-86581-835-5

Niko Paech
Befreiung vom Überfluss
Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie
oekom, April 2012
160 Seiten, 14.95 Euro
978-3-86581-181-3

Georg Franck
Ökonomie der Aufmerksamkeit
Ein Entwurf
Carl Hanser, März 1998
256 Seiten, 19.90 Euro
978-3-446-19348-2


Onlinetipps

Vortrag von Niko Paech
Immer weiter, immer höher, immer mehr?
Wege aus der Wachstumsfalle
ÖDP München, Leo17, 12.09.2018
https://oedp-muenchen.de/aktuelles/unsere-vortraege/

Silke Kleinhückelkotten, Peter Neitzke, Stephanie Moser
Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen
natürlicher Ressourcen in Deutschland
Umweltbundesamt, April 2016
http://t1p.de/j8c7


CO2-Emissionen pro Person

Flugreise, hin & zurück
München–Mallorca  0,7 t
München–New York  3,9 t
München–Los Angeles  5,9 t
Quelle: Umweltbundesamt, CO2-Rechner
www.uba.co2-rechner.de

Autofahren, 12.000 km
Kleinwagen, Benzin  2,8 t
Kleinwagen, Diesel  3,0 t
Offroader (SUV), Benzin  6,7 t
Offroader (SUV), Diesel  7,2 t
Quelle: myclimate Deutschland, CO2-Rechner
http://de.myclimate.org/de/

Ernährung, pro Jahr
fleischbetont  1,6-3,2 t
vegetarisch  0,9-1,8 t
vegan  0,8-1,6 t
Quelle: Umweltbundesamt, CO2-Rechner
www.uba.co2-rechner.de