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Wirtschaft & Soziales

„Die Persönlichkeit ist zur  Ware geworden“

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Der Neoliberalismus ist mehr als eine Wirtschaftstheorie. Er ist eine Weltanschauung und beeinflusst unser Leben viel stärker, als uns das bewusst ist. Marktgläubigkeit, Konkurrenzdenken und Selbstbezogenheit prägen unseren Alltag, unsere Persönlichkeit und unsere Verhaltensmuster. Die Zusammenhänge zu erkennen, ist schwierig.

Interview mit Dr. Patrick Schreiner

ÖkologiePolitik: Herr Schreiner, Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch 18 Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus. Lässt es sich tatsächlich so schwer fassen?

Dr. Patrick Schreiner: Vermutlich kann man gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene – und damit auch den Neoliberalismus –auf unendlich viele Weisen betrachten. Das ist aber, glaube ich, hier nicht der springende Punkt. Meine Motivation war, auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Warum 18 sehr unterschiedliche Sichtweisen klassischer und aktueller Denkerinnen und Denker heranzuziehen. So kann ich mir selbst und hoffentlich den Leserinnen und Lesern sehr vielfältige Zusammenhänge verdeutlichen. Was macht übertriebene Marktgläubigkeit mit den Menschen? Welche Vorstellung entwickeln sie von sich selbst? Warum? Und welche Rolle spielen dabei Emotionen, welche die Vernunft? Was haben Macht und Autorität mit Neoliberalismus zu tun?

Was hat der Neoliberalismus mit den neuen Rechtstendenzen zu tun?

Damit habe ich mich zwar in meinem Buch nicht näher befasst, aber einen Zusammenhang sehe ich da durchaus. Ein Gefühl des Kontrollverlusts dürfte für die aktuellen Erfolge der Rechten ebenso eine Rolle spielen wie ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden. Beides dürfte ganz wesentlich Folge neoliberaler Politik sein, eine Folge von Globalisierung, Marktextremismus und Entsolidarisierung. Zugleich kommt beim individuellen Umgang mit diesen Empfindungen eine neoliberale Moral zum Tragen: Ellbogenmentalität, Vereinzelung, Konkurrenzdenken.

Beruht der Erfolg des Neoliberalismus darauf, dass er der menschlichen Natur entgegenkommt? Oder widerspricht er ihr eigentlich?

Die soziale Prägung des Menschen reicht sehr weit. Daher halte ich es für zielführend, geschichtliche Prozesse und gesellschaftliche Zusammenhänge zu durchleuchten, um zu verstehen, wieso Menschen so sind, wie sie sind, und weshalb sie so handeln, wie sie es tun. Ich denke nicht, dass es eine feste „Natur des Menschen“ gibt.

Inwieweit kann die Lektüre von Karl Marx, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zum Verständnis des Neoliberalismus und des Lebens in ihm beitragen?

Im Neoliberalismus ist die Persönlichkeit des Menschen selbst zur Ware geworden. Umgekehrt wird in Persönlichkeitsentwicklungstrainings und ähnlichen Angeboten die Veränderung von Persönlichkeit als Ware angeboten. Wir verkaufen uns – und kaufen Dienstleistungen, mit denen wir das zu Verkaufende optimieren wollen. Marx’ Entfremdungstheorem ist eine Möglichkeit, die Zusammenhänge hinter alldem aufzudröseln. Horkheimer und Adorno wiederum haben mit ihren Überlegungen zur kapitalistischen „Kulturindustrie“ eine sehr düstere Analyse der modernen Kultur und Medien vorgelegt. Führt man sich vor Augen, wie wichtig Medien für das Vermitteln neoliberaler Ideologie sind, so wird ihre Relevanz für ein Verstehen neoliberaler Gesellschaften deutlich.

Welche Aspekte haben diese drei übersehen?

Vermutlich den Aspekt der inneren Antriebe und der positiven Gefühle, mit denen viele Menschen der kapitalistischen Gesellschaft und ihren Waren und Ideologien gegenübertreten. Wobei „übersehen“ vielleicht etwas streng klingt, denn keine Theorie kann und sollte immer alles erfassen.

Hat der Neoliberalismus eine Moral? Was sagen Max Weber und Friedrich August von Hayek dazu?

Eine neoliberale Moral lässt sich aus einer allgemeineren kapitalistischen Moral ableiten, für deren Verständnis wiederum die Überlegungen Webers und Hayeks interessant sind. Bei beiden steht der Erfolg am Markt im Mittelpunkt einer solchen Moral. Weber leitet sie aus einer protestantischen Ethik ab. Hayek argumentiert stärker normativ: Er will zeigen, dass die kapitalistische Moral die richtige und überlegene Leitschnur darstellt. Und während bei Weber die Menschen diese Moral von sich aus bzw. aus ursprünglich religiösen Motiven nicht hinterfragen, betont Hayek stärker das Sollen. Er begründet sehr ausführlich, warum wir sie nicht hinterfragen dürfen.

Wer steuert denn heute die Entwicklung und wie?

Niemand steuert irgendetwas. Natürlich gibt es in einer kapitalistischen Gesellschaft unterschiedliche Kräfte und Interessen, die sich oft auch antagonistisch gegenüberstehen. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit ist sicherlich der zentralste. Aber das bedeutet nicht, dass die mächtigere Seite irgendetwas zentral lenkt. Von so unterschiedlichen Autoren wie Antonio Gramsci und Michel Foucault, aber auch von Marx’ Fetischismus-Begriff können wir lernen, wie komplex soziale Prozesse und wie wichtig das Zutun jedes einzelnen Menschen sowie das Handeln sozialer Gruppen und Klassen für gesellschaftliche Entwicklungen sind.

Wie kann man diese Entwicklung bremsen oder umkehren?

Der erste Schritt ist sicherlich, sich über die Problematik, aber auch über die innere Logik des Neoliberalismus klar zu werden. Und wie auch immer dann der zweite Schritt im Detail aussehen mag: Eine andere Gesellschaft lässt sich gewiss nur gemeinsam und solidarisch erreichen. Zu glauben, das eigene Glück in sich selbst oder im Zusammensein einer Kleingruppe – Familie, Freundeskreis, Betrieb, Kommune – zu finden, halte ich für irrig. Wir können in einer neoliberalen Gesellschaft nicht nicht-neoliberal leben.

Herr Schreiner, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Patrick Schreiner
Warum Menschen sowas mitmachen
Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus
PapyRossa, Februar 2017
165 Seiten, 13.90 Euro
978-3-89438-632-0

Buch: Unterwerfung als FreiheitPatrick Schreiner
Unterwerfung als Freiheit
Leben im Neoliberalismus
PapyRossa, Januar 2015
128 Seiten, 11.90 Euro
978-3-89438-573-6