Wie wir aus der Eskalationsspirale rauskommen
4. August 2024
Die Ukraine, ein friedvolles demokratisches Land, wurde von Russland aus imperialer Machtgier und teuflischer Zerstörungslust ohne jeden Grund angegriffen – so lautet die offizielle Darstellung. Eine Vorgeschichte würde diese nur stören. Deshalb werden oft auch noch die Begriffe „anlasslos“ oder „unprovoziert“ verwendet. Doch es gab eine Vorgeschichte. Eine sehr lange.
von Günther Hartmann
Die bis in die 1990er-Jahre zurückreichende Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs wurde von den beiden Autoren Günter Verheugen und Petra Erler auf der Basis frei zugänglicher Quellen akribisch recherchiert und in ihrem Buch „Der lange Weg zum Krieg“ in 9 Kapiteln ausführlich dargestellt. Natürlich verurteilen sie gleich auf Seite 1 den Krieg als völkerrechtswidrig – weil sie grundsätzlich jede völkerrechtswidrige Handlung entschieden ablehnen und die Charta der Vereinten Nationen für das wichtigste Regelwerk der Weltgemeinschaft halten.
Allerdings verlieren sie sich nicht in Wut und Trauer und neigen auch nicht zu stereotypen Denkmustern, sondern schauen genau hin. Und dabei fällt ihnen einiges auf. Allem voran eine irritierende und beängstigende Rhetorik: „So als hätte Russland ein Tabu gebrochen, das sonst niemand brach, als hätte es alle sonstigen Kriege und Völkerrechtsbrüche nach 1990 nie gegeben, als wäre erst wegen Russland alles anders geworden.“ Die Rhetorik legitimiert und unterstützt die militärische Eskalationsstrategie.
Aufklärung statt Propaganda
Die NATO betrachtet einen „Siegfrieden“ derzeit als die einzig akzeptable Option. Ansonsten würde Russland angeblich ermutigt, umgehend weitere Länder anzugreifen – auch NATO-Mitglieder. Jeder, der dies nicht glaubt und andere Optionen ins Spiel bringen will, wird als „Putin-Versteher“, „nützlicher Idiot“ oder „Handlanger Russlands“ verunglimpft. Es scheint, als würde von einer breiten Front aus Meinungsführern und Meinungsmachern unausgesprochen so etwas wie bedingungsloser Gehorsam eingefordert und durchgesetzt.
Dem setzen die beiden Autoren Aufklärung entgegen: viele Fakten über die Zusammenhänge und Hintergründe. Denn: „Wer die Ursachen einer Entwicklung nicht kennt, kann auch ihre Folgen nicht überschauen und korrigierend eingreifen.“ Ihr Buch soll zum Denken und zu einer sachlicheren Diskussion anregen, wie es tatsächlich zu diesem Krieg kam: „Wir wollen, dass klarer wird, dass fast alles auch mit Entscheidungen und Entwicklungen in unserem Land zusammenhängt.“ Sie betrachten es als Untergrabung unserer Demokratie, dass wichtige Fakten verschwiegen, verkürzt oder gar verfälscht werden.
Dialogbereitschaft statt Polarisierung
Ein Schlüssel, aus der verhängnisvollen Eskalationsspirale herauszukommen, ist für die Autoren die Bereitschaft zum Dialog und das Wahrnehmen anderer Sichtweisen: „Gerade dem erklärten Gegner sollte man immer sehr genau zuhören.“ Dieses Prinzip wurde in den letzten Jahren durch eine selbstgerechte Cancel-Culture ersetzt. Mit fatalen Folgen: „Wer suggeriert, dass die andere Seite immer nur lügt oder sich nur Halbsätze herauspickt, die ins eigene Weltbild passen, beraubt sich selbst der Möglichkeit, die Realität komplett wahrzunehmen.“
Zur Realität gehört immer auch die Sichtweise des anderen. Und die Möglichkeit, dass er recht hat und man selbst im Unrecht ist. „Jede Ehe, in der wechselseitiges Verstehen stirbt und eine Seite darauf pocht, alles richtig zu sehen und richtig zu machen, und beim anderen nur noch hört, was das eigene Vorurteil bestätigt, scheitert“, mahnen die Autoren. „In der sogenannten großen Politik ist es nicht anders.“
Mit diesem Vergleich wollen sie sagen: Die Sicherheitsinteressen aller Staaten sind legitim und in einer gemeinsam ausgehandelten Sicherheitsarchitektur zu berücksichtigen. Weil wir nur einen Planeten haben, können wir es uns nicht leisten, auf Annäherung und Entspannung zu verzichten und einen Dritten Weltkrieg zu riskieren. Denn Krieg bedeutet immer: immenses menschliches Leid. Und aus ökologischer Sicht: gigantische CO2-Emissionen, Ressourcenverbräuche und Umweltzerstörungen.
Günter Verheugen, Petra Erler
Der lange Weg zum Krieg
Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung
Heyne, Mai 2024
336 Seiten, 24.00 Euro
978-3-453-21883-3
Onlinetipps
Interview mit Günter Verheugen und Petra Erler
„Die Ukraine war von Anfang an eine geopolitische Figur auf dem weltpolitischen Schachbrett“
NachDenkSeiten, 24.07.2024
www.nachdenkseiten.de/?p=118458
Interview mit General a. D. Harald Kujat – Teil 2
„Schwerwiegende Fehleinschätzungen des Westens mit Konsequenzen für Europa“
NachDenkSeiten, 25.07.2024
www.nachdenkseiten.de/?p=118685
Interview mit General a. D. Harald Kujat – Teil 1
„NATO könnte ähnliche Fehler begehen wie die USA in Vietnam“
NachDenkSeiten, 23.07.2024
www.nachdenkseiten.de/?p=118536
Interview mit Petra Erler und Günter Verheugen
„Schon nach deutscher Einigung waren die Weichen auf Konfrontation gestellt“
Telepolis, 19.06.2024
https://telepolis.de/-9769391
Günther Hartmann
Zeitenwende?
ÖkologiePolitik, 27.12.2023
www.t1p.de/wfoxq