Bücher

Zeitenwende?

Diesen Beitrag teilen

Die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg ist seltsam. Einerseits wird die russische Armee als so schwach eingestuft, dass sie von der ukrainischen besiegt werden kann. Andererseits als so stark, dass sie schon bald über Warschau bis nach Berlin vorstoßen könnte – wenn wir nicht sofort massiv aufrüsten.

von Günther Hartmann

 

Eine Faustformel lautet, dass der Angreifer mindestens 3-mal so stark sein sollte wie der Angegriffene, um mit hoher Wahrscheinlichkeit einen klaren Sieg zu erringen. Deshalb muss die Frage gestellt werden: Ist Russland der NATO 3-fach überlegen? Die Antwort lautet: Nein, nicht Russland ist der NATO überlegen, sondern die NATO ist Russland überlegen. Weit überlegen. Der Militäretat der NATO ist derzeit 14-mal so hoch wie der russische. Dass Russland die NATO angreift, ist also so gut wie ausgeschlossen. Zumal Russen bislang auch noch nie als fanatische Selbstmordattentäter in Erscheinung getreten sind.

Trotzdem wird von der Bundesregierung eine „Zeitenwende“ ausgerufen: Die Bundeswehr soll mit einem dreistelligen Milliardenbetrag schnellstmöglich „kriegstauglich“ gemacht werden. Warum? Gibt eine 15- statt einer 14-fachen Überlegenheit so viel mehr Sicherheit? Oder würde nicht vielleicht sogar eine 10-fache Überlegenheit immer noch ausreichen? Und viel Geld für den Klimaschutz und andere wichtige Aufgaben frei machen?

Um zu einer realistischen Einschätzung der etwas verwirrenden Situation zu gelangen, ist es sinnvoll, sich näher mit den Hintergründen des Ukraine-Krieges zu beschäftigen. Das Buch „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“ tut dies. Titel und Untertitel sind zwar etwas irreführend, denn es geht in diesem Buch vor allem um die Vorgeschichte des Kriegs, doch die 17 Autoren, die die Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven beleuchten, liefern erhellende Analysen mit vielen interessanten Informationen.

 

Angstberuhigung durch Machtwachstum

Der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann erinnert daran, dass am Ende des Kalten Krieges die große historische Chance da war, die verhängnisvolle Dynamik aus Angst, Misstrauen und dem Streben nach Überlegenheit zu durchbrechen und stattdessen eine auf Vertrauen und Kooperation basierende Friedensordnung aufzubauen. Michail Gorbatschow wurde 1989 auch tatsächlich versprochen, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen.

Doch dann brach die NATO ihr Wort und nutzte das durch die Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion entstandene Machtvakuum, um ihre Macht konsequent auszuweiten und ihre Grenzen immer weiter Richtung Russland zu verschieben.

 

Geostrategischer Schlüsselstaat Ukraine

Der Journalist Werner Rügemer verweist auf das 1997 erschienene Buch „Die einzige Supermacht“ von Zbigniew Brzeziński, der für mehrere US-Präsidenten als Berater tätig war. Er erläutert darin die von ihm empfohlene geopolitische Strategie und betont, die Ukraine sei der Schlüsselstaat für die Eroberung ganz Eurasiens „von Lissabon bis Wladiwostok“. Seit 1994 habe deshalb der Ausbau der Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine höchste Priorität.

Beziehung hieß dann aber konkret: Installierung einer US-freundlichen Regierung und Umgestaltung der Wirtschaft nach amerikanischen Vorstellungen. Ukrainische Oligarchen und ausländische Investoren wie z. B. BlackRock übernahmen Industrie und Landwirtschaft. Korruption machte sich breit. Die Bevölkerung verarmte.

2015 betrug der Mindestlohn 34 Cent/Stunde. Bis 2021 stieg er zwar auf 1,21 Euro/Stunde, dafür wurden die Gewerkschaften zerschlagen und fast alle Arbeitnehmerrechte abgeschafft. Zudem wurden nationalistische und anti-russische Strömungen kräftig gefördert – vermutlich auch, um den in der Bevölkerung wachsenden Unmut umzulenken.

 

Strategische Kommunikation

Die Sprach- und Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer beschreibt anhand des Ukraine-Krieges die Methoden, mit denen bei uns die öffentliche Meinung gesteuert wird. Ein klares Feindbild und eine Dämonisierung des Gegners sind essenziell, ebenso eine grobschlächtige Einteilung in „Gut“ und „Böse“. Nicht ins Bild passende Fakten werden ausgeblendet. Es wird polarisiert und entscheidend ist, auf welcher Seite jemand steht.

Wer den Ukraine-Krieg nicht als „grundlos“, „unprovoziert“ und „ohne Vorgeschichte“ interpretiert, dem wird sofort vorgeworfen, er „verbreite russische Narrative“, „singe Putins Lied“, sei ein „Putin-Versteher“. Statt sich mit Fakten und Argumenten auseinanderzusetzen, werden kritische Stimmen verunglimpft.

Ausführlich formuliert wurden die Methoden wirksamer Kriegspropaganda bereits 1928 von Lord Arthur Ponsonby im Nachgang zum Ersten Weltkrieg. Seit 2015 ist in den EU-Staaten unter anderem die „East StratCom Task Force“ damit betraut, sie anzuwenden. Presseinformationen, Blogeinträge und Journalistenbriefings gehören zu ihren Instrumenten. Und mit denen agiert sie sehr erfolgreich. Von daher ist der Buchtitel „Kriegsfolgen“ doch nicht so verkehrt.

 


Buchtipp

Hannes Hofbauer, Stefan Kraft (Hrsg.)
Kriegsfolgen
Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert
Promedia, März 2023
256 Seiten, 23.00 Euro
978-3-85371-511-6

 


Onlinetipps

Wolfgang Richter, Oberst a.D.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
Friedrich-Ebert-Stiftung, Dezember 2023
https://library.fes.de/pdf-files/bueros/wien/20886.pdf

Jeffrey D. Sachs
Kriegsdebakel und viel Geld:
Die geheime Agenda hinter der gescheiterten US-Außenpolitik
Telepolis, 30.12.2023
https://telepolis.de/-9584068
Dieser Artikel wurde am 02.01.2024 nachgetragen.

Harald Neuber
Hat dieser CDU-Politiker den geheimen Grund für den Ukraine-Krieg verraten?
Telepolis, 22.12.2023
https://telepolis.de/-9581025

Thomas Rüster
Wladimir Putin völlig irre: Geheimdienst-Experte sicher: Putin könnte Nato mit Atomschlag angreifen
News.de, 21.12.2023
www.t1p.de/pgo0v

Leo Ensel
Hätte der Krieg verhindert werden können?
NachDenkSeiten, 16.12.2023
www.nachdenkseiten.de/?p=108294

Reuters
Pistorius: Rückkehr zur Wehrpflicht möglich
ZDF, 06.12.2023
www.t1p.de/0lvg7

Claudia Wangerin
Krieg und Klimaschäden: Deutsche Prioritäten in Geld ausgedrückt
Telepolis, 02.12.2023
https://telepolis.de/-9546751

Maxim Goldarb
Stimmen aus der Ukraine:
Welche europäischen Werte „verteidigt“ Selenskyj eigentlich?
NachDenkSeiten, 30.11.2023
www.nachdenkseiten.de/?p=107473

Ralf Fücks
Zehn Gründe für eine entschiedenere Ukrainepolitik
Spiegel, 26.11.2023
www.t1p.de/io6gm

Markus Mäckler
„Fällt das Baltikum, ist Berlin als nächstes dran“
Merkur, 14.11.2023
www.t1p.de/ibfvf

Harald Kujat, Hajo Funke
Wie der Westen auf Diplomatie setzte – und die Ukraine dann in den Krieg führte
Telepolis, 11.11.2023
https://telepolis.de/-9385191

Harald Kujat, Hajo Funke
Wie ein früher Frieden im Ukraine-Krieg scheiterte
Telepolis, 10.11.2023
https://telepolis.de/-9363118

Dominik Rzepka
Pistorius sieht Gefahr eines Kriegs in Europa
ZDF, 29.10.2023
www.t1p.de/xc8dd

Klaus-Dieter Kolenda
Nato und Russland:
„Der Ukraine-Krieg ist ein Krieg zur Nato-Erweiterung“
Telepolis, 15.10.2023
https://telepolis.de/-9334900

Philipp Fess
Bericht von der Informationskrieg-Front:
Leak liefert Einblicke in den EU-Nato-Werkzeugkasten
Telepolis, 14.10.2023
https://telepolis.de/-9334643

Branko Marcetic
Der „unprovozierte Krieg“:
Wenn Stoltenberg und Co. die Wahrheit über die Nato-Erweiterung sagen
Telepolis, 23.09.2023
https://telepolis.de/-9314024

Axel Mayer
Militärausgaben: NATO, Russland, Ukraine, USA & China
Mitwelt Stiftung Oberrhein, 04.09.2023
www.t1p.de/gvbgu

Ben Mendelson, Nils Buske
Das sind 2023 die größten Armeen der Welt
Handelsblatt, 26.06.2023
www.t1p.de/nsph8

Interview mit Erich Vad, General a.D.
Was sind die Kriegsziele?
Emma, 12.01.2023
www.t1p.de/h6e3u

Bernd Musch-Borowska
Die Grausamkeit darf nicht ungesühnt bleiben
Tagesschau, 03.04.2022
www.t1p.de/avq4k

In dieser Auflistung sind neben kritischen und aufschlussreichen Betrachtungen auch plumpe Propagandameldungen aufgeführt, um die Situation unserer Medienlandschaft darzustellen. Interessant an den aufgeführten Artikeln und Interviews ist, dass ein Ex-General und ein Ex-Oberst der Bundeswehr den Ukraine-Krieg wesentlich differenzierter betrachten und kritischer hinterfragen als viele aktuelle Grünen-Politiker.