Über Empfindsamkeit, Empfindlichkeit und Resilienz denkt Svenja Flaßpöhler in ihrem Buch „Sensibel“ nach.

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Die Philosophin Svenja Flaßpöhler nimmt die zunehmende Sensibilität ernst. Und warnt, dass wir gerade ein Zuviel davon erleben: eine Überempfindlichkeit, die nicht mehr verbindet, sondern trennt. Eine Überempfindlichkeit, die unsere Demokratie gefährdet und unsere Gesellschaft in Gruppen zersplittert. Was folgt daraus?

von Günther Hartmann

 

Juli 2022: Die Band „Lauwarm“ spielt in einer Musikkneipe Reggae. Die Stimmung ist gut. Doch plötzlich beschweren sich einige Besucher bei den Veranstaltern, dass sie sich „unwohl“ fühlen – weil die Musiker weiß sind und einige Dreadlocks tragen. Daraufhin wird das Konzert abgebrochen. Der Veranstalter entschuldigt sich am nächsten Tag in einer langen Erklärung für seine „Sensibilisierungslücken“ und dass das Konzert „schlechte Gefühle“ ausgelöst hat. Schuldbewusst gibt er zu: „Wir haben es verpasst, uns im Vorhinein damit auseinanderzusetzen und euch zu schützen.“ Und er verspricht: „Rassismus und andere Diskriminierungen haben keinen Millimeter Platz.“

Früher galt das Spielen von Reggae und das Tragen von Dreadlocks als Ausdruck von Sympathie und Solidarität mit der jamaikanischen Rastafari-Bewegung, heute jedoch wird das in linksidentitären Kreisen als etwas äußerst Verwerfliches angesehen: als „kulturelle Aneignung“.

Beispiele wie dieses zeigen, was für ein Riss inzwischen durch unsere Gesellschaft geht. Und wer Svenja Flaßpöhlers 2021 erschienenes Buch „Sensibel“ liest, sollte sich solche Beispiele immer wieder vor Augen halten, um zu verstehen, warum sie sich diesem Thema widmet, warum sie es umkreist und aus immer neuen Perspektiven betrachtet. Dabei wird klar: Sensibilität ist zwar etwas durchaus Positives und führte im Zivilisationsprozess zur Abnahme von Brutalität und Gewalt sowie zur Verfeinerung der Sinne und Sitten. Doch zu viel Sensibilität ist hochproblematisch. Erst recht, wenn sie verabsolutiert wird.

Sensibilisierung

„Wir erleben gerade, wie Sensibilität in Destruktivität umzuschlagen droht: Anstatt zu verbinden, trennt sie uns. Sie zersplittert Gesellschaften in Gruppen, wird gar zur Waffe“, stellt Flaßpöhler fest. Im zunehmend irrationaler und aggressiver werdenden Begriffs- und Argumentationswirrwarr versucht sie etwas Klarheit und Orientierung zu bringen: „Unzumutbar ist eine verabsolutierte Resilienz, weil sie die Ansprüche der anderen an sich abprallen lässt. Unzumutbar ist aber auch eine verabsolutierte Sensibilität, weil sie den Menschen auf ein verletzliches, schützenswertes Wesen reduziert, das sich nicht selbst zu helfen weiß. Die Grenze des Zumutbaren verläuft im Spannungsfeld dieser beiden Pole.“ Diese Grenze gilt es zu finden bzw. zu definieren.

In der linksidentitären Bewegung wird vor allem die Schwäche kultiviert, nicht die Stärke. Der Blick richtet sich auf die Verletzlichkeit des Menschen, nicht auf seine Belastbarkeit. „Gegenwartsphänomene wie die Triggerwarnung weisen darauf hin, dass im Fokus des Interesses immer weniger die eigenen psychischen Widerstandskräfte zu stehen scheinen, sondern vielmehr die Frage, wie das Bläschen von außen geschützt werden kann“, beklagt Flaßpöhler. „Es zu schützen heißt, äußere Gefahren am besten nahezu vollständig abzuwenden respektive rechtzeitig auf sie hinzuweisen.“

Die Umgebung soll sich dem Menschen anpassen, nicht der Mensch sich der Umgebung. Doch das ist für Flaßpöhler kein zielführendes Ansinnen. Denn je sicherer sich jemand in der Welt eingerichtet hat, desto mehr fokussiert sich seine Wahrnehmung auf kleinste Kleinigkeiten, die Unwohlsein hervorbringen könnten. Oder wie es bereits vor zwei Jahrhunderten der Historiker Alexis de Tocqueville formulierte: Je gleichberechtigter Gesellschaften, desto sensibilisierter werden sie für noch bestehende Ungerechtigkeiten und damit verbundene Verletzungen.

Demnach lässt sich niemals ein Zustand erreichen, wo sich niemand mehr strukturell benachteiligt und verletzt fühlt, weil ständig neue Ungerechtigkeitsgefühle entstehen. „Jede abgeschaffte Struktur gebiert neue Strukturen, jede Sensibilität neue Sensibilitäten. Erleben wir menschheitsgeschichtlich gerade den Beginn einer Phase, in der das sensible Selbst droht, sich früher oder später nur noch um die eigene Achse zu drehen?“, fragt Flaßpöhler und verweist auf ein aktuelles Phänomen: „Wenn gerade sonst nichts anliegt, beschäftigt man sich eben mit völlig nichtigen Sprachproblemen.“

Sprache

Von den sperrigen Sprachregelungen, die von der linksidentitären Bewegung ausgehend derzeit Verbreitung finden, hält Flaßpöhler nicht viel. Sie betont, dass sich deren Protagonisten in ihren Theorien zwar gerne auf den französischen Philosophen Jacques Derrida und die amerikanische Philosophin Judith Butler berufen, diese jedoch rigide Sprachreglungen und Tabuisierungen von Begriffen entschieden ablehnten und stattdessen Kontextsensibilität forderten.

Flaßpöhler findet, wir sollten unsere Sprache nicht überfordern und nichts Unmögliches von ihr erwarten, denn „als allgemeine Systematik, auf die wir uns alle beziehen müssen, verfehlt die Sprache das Besondere von vornherein“. Sie plädiert deshalb dafür, das generische Maskulinum beizubehalten, und sieht in seiner umfassenden Bezeichnungskraft ein „erstaunliches emanzipatorisches Potenzial“: Eben weil es geschlechtsneutral ist, eröffnet es die Freiheit, von geschlechtlichen Identifikationen abzusehen.

Die der Sprache unvermeidbar innewohnende Abstraktion sollten wir nicht als beklagenswerten Verlust oder gar als böswillige Diskriminierung sehen, sondern als wohltuende Distanz. Sprache muss einfach und praktikabel sein, kein perfektes Abbild der Wirklichkeit.

Die angeblich „gendersensible Sprache“ hält Flaßpöhler nicht für sinnvoll: „Es ist bei Lichte betrachtet unmöglich, für alle denkbaren Identitäten eine adäquate, gleichberechtigte grammatikalische Repräsentation zu finden. Wer weder in die männliche noch weibliche Kategorie passt, landet nolens volens repräsentationslogisch in der lautlichen Lücke des Unterstrichs oder wird zum Sternchen: Ist das gerecht und angemessen?“

Genauso wie gemeinsames politisches Debattieren und Handeln immer schwieriger wird, wenn Menschen zu stark ausgeprägte Sensibilitäten entwickeln, wird Sprechen immer schwieriger, wenn jede Geschlechtsidentität gleichberechtigt repräsentiert werden soll. Deshalb sollten wir das erst gar nicht versuchen, denn es führt immer zu unbefriedigenden Ergebnissen, was immer wieder neue Sprachregelungen nach sich zieht – und unsere Gesellschaft zunehmend nervt und spaltet.

Gerechtigkeit

Doch was hält unsere Gesellschaft eigentlich zusammen? Ganz wichtig ist sicherlich die Überzeugung, dass es in ihr gerecht zugeht. Gerechtigkeit ist aber etwas anderes als Gleichheit. Denn die Menschen sind auf vielfältige Art und Weise ungleich. Wichtig ist, dass eine Gesellschaft offen ist und ihren Mitgliedern Chancengleichheit bietet. Chancengleichheit aber ist nicht Ergebnisgleichheit, denn die Chancen werden aus verschiedensten Gründen oft nicht genutzt.

„Wann muss die Gesellschaft sich ändern, weil ihre Strukturen schlicht ungerecht sind – und wann muss das Individuum an sich arbeiten, weil es die Chancen, die es doch eigentlich hätte, nicht nutzt?“, fragt Flaßpöhler. „Brauchen wir gesetzlich verankerte Frauenquoten oder geht es eher darum, Frauen zu ermutigen und zu ermächtigen, ihre Wünsche zu verwirklichen, und zwar auch gegen Druck und Widerstände?“ Sie betont, dass nicht jede Ungleichheit ungerecht und privilegienbehaftet ist: „Es gibt Ungleichheiten, die aus eigener Anstrengung – respektive deren Unterlassung – resultieren.“

Sicherlich resultieren Leistung und Erfolg nicht ausschließlich aus eigener Anstrengung, sondern sind auch Ergebnis von äußeren Umständen und Zufällen. Und auch die Fähigkeit, Probleme und Schicksalsschläge zu bewältigen und in positive Energie zu transformieren, fällt manchen leicht und manchen schwer. „Aber was genau folgt daraus?“, fragt Flaßpöhler. „Dass Leistung keine Rolle spielen darf und wir von den Individuen gar nichts mehr erwarten, sondern nur noch von der Gesellschaft? Diese Schlussfolgerung wiederum wäre auf gefährliche Weise entmündigend und infantilisierend, ja mehr noch, in Ansätzen sogar totalitär.“

Die Schuld für die eigene Situation „den Strukturen“ anzulasten, ist für Flaßpöhler oft ein Ablenkungsmanöver: „Es gibt den unausweichlichen Punkt, an dem ein Mensch selbst zur Tat schreiten und für das eigene Leben Verantwortung übernehmen muss. Tut er es nicht, bleibt er ein Kind.“

Doch wie lässt sich trotz der vielfältigen Ungleichheit so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt herstellen? Flaßpöhler verweist auf den amerikanischen Philosophen John Rawls, der die ihrer Meinung nach klügste Lösung für das Problem gefunden hat: Ungleichheiten sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie der Gesamtgesellschaft zugute kommen. Das bedeutet auch, dass Menschen sich nicht auf Kosten anderer bereichern dürfen. Und dass die, die besser verdienen als andere, mehr zum Gemeinwohl beitragen müssen.

Um zu verstehen, was gerecht ist, empfiehlt Rawls, die Welt durch einen „Schleier des Nichtwissens“ zu betrachten: Wir sollten uns vorstellen, wir befinden uns in einer Art Urzustand, in dem unsere künftigen Eigenschaften und Talente sowie unser sozialer Status und unser Werdegang noch völlig unklar sind. Und wir hätten noch keine Ahnung davon, welchen Platz wir im gesellschaftlichen Gefüge später einnehmen werden. Dann würden wir dafür kämpfen, dass alle zu ihrem Recht kommen.

Empathie

Der entscheidende Punkt bei Rawls ist die Vielzahl der Perspektiven, die wahrgenommen und gegeneinander abgewogen werden müssen. Darin unterscheidet sich sein Ansatz deutlich von einer mit der Absolutierung der Sensibilität einhergehenden Glorifizierung der Empathie. Empathie gilt per se als gut, doch Flaßpöhler warnt: „Die reine Empfindung ist noch keine Moral. Nichts kann uns von der Notwendigkeit des Urteils und der damit einhergehenden Distanzierung entbinden. Denn nicht alles, was nachempfunden werden kann, verdient Solidarität und Anerkennung.“

Flaßpöhler verweist auf das Werk des Marquis de Sade, in dem Empathie keineswegs mit guter Gesinnung einhergeht, sondern das genaue Gegenteil ist. „Als Gefühl birgt die Empathie tiefe Abgründe“, betont sie. „Ihre dunkle Seite ist der Lustgewinn, der sich aus fremdem Leid ziehen lässt. Diese Seite zeigt sich auch dann, wenn man Menschen regelrecht in Opferpositionen gefangen hält. Etwa, indem man paternalistisch für andere spricht, sich schützend vor sie stellt und an ihrer statt sagt, welche Begriffe sie diskriminieren. Oder indem man Frauen auf hilflose Wesen reduziert.“

Doch auch wenn die Empathie keine sadistischen Züge hat – zu viel davon bedeutet einen massiven Erkenntnisverlust, mahnt Flaßpöhler: „Erkenntnis kommt nicht dadurch zustande, dass ich mich komplett in jemanden einfühle.“ Wer nur noch versteht, aber sich nicht mehr distanzieren und abgrenzen kann, der besitzt keine eigene Sicht der Dinge mehr. Der deutsche Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt warnt deshalb in seinem Buch „Die dunklen Seiten der Empathie“ vor einer „Verdünnung des Menschen“, vor Selbstverneinung und Selbstverlust.

„Worum es in einem gewinnbringenden Gespräch geht, ist ein Wechselspiel der Perspektiven: ein spannungsvolles Hin- und Herspringen zwischen Einfühlung und Herausforderung, zwischen Du- und Ich-Perspektive“, betont Flaßpöhler. „Ist man wirklich an Erkenntniszuwachs und nicht nur an Selbstbestätigung interessiert, dann muss die Grundhaltung empathischer Anteilnahme vom Ratgebenden immer wieder in Richtung Ich-Perspektive überschritten werden, ohne dabei die Du-Perspektive gänzlich zu verlieren.“

Sich in seiner eigenen Perspektive zu verkapseln, ist ein aktuelles Phänomen unserer Gesellschaft – Stichwort: Blase. Beim Einzelnen ist das schon lange bekannt und wird in der Psychotherapie angegangen: Der Therapeut sieht die Probleme aus einem anderen Blickwinkel als sein Patient und kann ihn gerade deshalb aus seinem Wahrnehmungstunnel befreien.

Vitalität

Das sensible Selbst erwartet, dass sich die Welt um es herum verändert und seiner Verletzlichkeit anpasst. Und von sich selbst erwartet es: nichts. Flaßpöhler findet, dass sich eine funktionstüchtige Gesellschaft nicht in der Aufgabe erschöpfen sollte, Verletzungen zu vermeiden, sondern von jedem Menschen erwarten und verlangen darf, dass er an sich arbeitet, um widerstandsfähiger zu werden und die Welt, so wie sie ist, auszuhalten – mit all ihren Zumutungen. Dafür braucht es Robustheit und Vitalität. Die sollten gefördert werden. Doch woher kommen die?

Flaßpöhler sieht ihren Ursprung tief in der menschlichen Seele: in einem archaischen Lebensdrang, in einem starken Lebenswillen. Den gilt es wahrzunehmen, zu fördern und zu pflegen. Sie verweist dabei auf vielfältige Erfahrungen und Beschreibungen in Philosophie, Psychologie und Literatur. Für Sigmund Freud war diese aus dem Unbewussten wirkende Kraft ein zentraler Baustein der von ihm entwickelten Psychoanalyse. Sie war für ihn der Grund, warum Menschen sogar die Schrecken eines Krieges aushalten und traumatische Erlebnisse verarbeiten können.

Während heute eine archaische Lebenskraft oft als „männliche Selbstoptimierungsstrategie, die unvereinbar ist mit Empathie und Solidarität“ gesehen wird, betont Flaßpöhler deren universelle Bedeutung für die menschliche Existenz und für Gesellschaften. Allerdings sollten wir diese Kraft nicht verabsolutieren – genauso wenig wie die Sensibilität. Ein gesundes Gleichgewicht muss das Ziel sein. Sie schließt ihr Buch mit dem Fazit: „Die Resilienz ist nicht die Feindin, sondern die Schwester der Sensibilität. Die Zukunft meistern können sie nur gemeinsam.“

 


Buchtipps

Svenja Flaßpöhler
Sensibel
Über moderne Empfindlichkeit und die Grenze des Zumutbaren
Klett-Cotta, Oktober 2021
240 Seiten, 20.00 Euro
978-3-608-98335-7

Svenja Flaßpöhler
Die potente Frau
Für eine neue Weiblichkeit
Ullstein, Mai 2018
48 Seiten, 10.00 Euro
978-3-550-05076-3


Onlinetipps

Interview mit Svenja Flaßpöhler
So tickt die sensible Gesellschaft
SWR2, 18.09.2022
www.t1p.de/s6ebc

Svenja Flaßpöhler bei Precht
Sensibilisieren wir uns zu Tode?
ZDF, 28.11.2021
www.t1p.de/f89c8

Svenja Flaßpöhler in Sternstunde Philosophie
Die hypersensible Gesellschaft
SRF, 14.11.2021
www.t1p.de/b6264

Interview mit Svenja Flaßpöhler
Ohne Zumutung keine Erkenntnis
Deutschlandfunk, 23.10.2021
www.t1p.de/q3ms4

Interview mit Svenja Flaßpöhler
Das gekränkte Individuum
Deutschlandfunk, 22.10.2021
www.t1p.de/sl0ug

Udo Brandes
Wollt ihr denn nur noch Weicheier sein?
NachDenkSeiten, 28.10.2021
www.t1p.de/mp9t8

Alexander Schmalz
Konzert abgebrochen, weil weiße Musiker Dreadlocks trugen
Berliner Zeitung, 26.07.2022
www.t1p.de/5b46y