Mahnwache in London gegen die Inhaftierung Julian Assanges. – Foto: www. challengepower.info/galleries/protest_gallery

Demokratie & Recht

Justizwillkür mitten in westeuropäischer Demokratie

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Die USA haben Berufung gegen das Urteil eines britischen Gerichts eingelegt, Julian Assange nicht auszuliefern. „Wir beobachten hier einen unkommentierten Mord“, sagte der NSA-Whistleblower Edward Snowden zum Auslieferungsverfahren. „Wer die Wahrheit liebt, ist in den Augen des Staats ein Krimineller und wird sein Schicksal auf die ein oder andere Weise teilen.“

von Heike Siecke

 

Hätten die britischen Gerichte dem Auslieferungsantrag der USA stattgegeben, wären Assanges Anwälte am Zug und könnten in der Berufung ihre Argumente darlegen und nicht – wie schon im ersten Teil des Verfahrens – lediglich auf die Anschuldigungen der USA reagieren. Und Assanges Anwälte haben sehr viel vorzubringen.

Sie könnten unter anderem all die Erkenntnisse und Beweise vorlegen, die in einem spanischen Gerichtsverfahren gegen die Sicherheitsfirma UC Global gesammelt wurden: zur Rund-um-die Uhr-Überwachung Assanges, seiner Anwälte und seiner Besucher, beauftragt von den USA. Hier tritt übrigens der NDR als Nebenkläger auf, da dessen Journalisten ebenfalls überwacht wurden.

Mordpläne der CIA enthüllt

Hier waren bereits Hinweise und Belege aufgetaucht für die Entführungs- und Mordpläne an Assange durch die CIA. Pläne, die erst kürzlich noch einmal durch 30 Mitarbeiter der CIA in einer Yahoo Story bestätigt wurden. Die Recherchen zeigten noch einmal ganz deutlich auf, wie viel Angst die USA vor den Enthüllungen über die Plattform Wikileaks haben. Yahoo berichtet: „Es ging so weit, dass jeder Mensch im Umkreis von drei Häuserblocks für einen der Geheimdienste arbeitete – egal, ob es sich um Straßenkehrer, Polizisten oder Sicherheitsbeamte handelte.“

Einen Tag, bevor er im spanischen Prozess aussagen konnte, musste Craig Murray, ehemals jüngster Diplomat Englands, Menschenrechtsaktivist und ein Freund von Assange, in Schottland eine Haftstrafe antreten – aus hanebüchenen Gründen. Ironischerweise war er es, der 2019 im Fall Assange die Frage „Who will be next?“ gestellt hatte.

Die Enthüllung von Mordplänen der CIA hätten das wackelige Kartenhaus der US-Anklage wohl zum Einstürzen gebracht. Oder das öffentliche Geständnis von Sigurdur Thordarson, einer der Hauptbelastungszeugen der USA, dass er eine Falschaussage gegen Assange gemacht hat, um im Gegenzug internationalen Schutz vor Strafverfolgung zu bekommen. Thordarson wurden Sexualverbrechen an neun Kindern vorgeworfen. Ein Kind beging Selbstmord, als die Staatsanwaltschaft die Anklage fallen ließ. Nachdem er zugab, niemals von Assange zum Hacken angestiftet worden zu sein, wurde Thordarson in Island verhaftet.

Angesichts dieser Fakten ist es eigentlich nicht zu verstehen, wie die Anklage aufrechterhalten und der Berufung am 27. Oktober 2021 stattgegeben werden konnte. Aber wundern kann einen im Fall Assange ja schon lange nichts mehr. Netflix z. B. stellte in den USA einen Dokumentarfilm über Assange zum Streamen bereit, der aus dem Jahr 2013 stammt – das Jahr, in dem die Diffamierungskampagne gegen Assange mit inzwischen längst widerrufenen Vergewaltigungsvorwürfen auf Hochtouren lief. Und auf Twitter z. B. war es während der Anhörungswoche nicht möglich, nach dem Namen „Assange“ zu suchen.

Die jüngsten Enthüllungen über die Hexenjagd auf Assange waren so aufrüttelnd, dass Amnesty International Briefe an Abgeordnete schickte und öffentliche Aufrufe in großen Zeitungen veröffentlichte. Auch andere Menschenrechtsorganisationen und Journalistenverbände wurden vor der Verhandlung laut: Angela Merkel erhielt den „Brief der 120“, in dem deutsche Prominente sie auffordern, sich bei ihrem Abschiedsbesuch im Weißen Haus dafür einzusetzen, dass die USA ihre Anklage gegen Assange fallen lassen. Das PEN-Zentrum Deutschland ernannte Assange zum Ehrenmitglied, sprach von „Justizwillkür“ und einer „ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzung mitten in einer westeuropäischen Demokratie“.

Unfaire Berufungsverhandlung

Dann begann die Berufungsverhandlung. Wie zu erwarten, stand zur Beobachtung wenig Platz zur Verfügung. Journalisten und Gäste mussten ihre Smartphones abgeben. Und: Assange selbst wurde ein Platz im Gerichtssaal verwehrt! Ohne Begründung. Er durfte nicht an dem Prozess teilnehmen, der über sein weiteres Schicksal, über sein Leben oder Sterben entscheiden wird. Stattdessen zwang ihn das Gefängnis Belmarsh, Teile der Anhörung des US-Anwalts James Lewis über einen Video-Livestream zu verfolgen.

Verfolgen musste er natürlich, wie Lewis die Gefahr, Assange könnte Selbstmord begehen, mit einer zynischen Argumentation relativierte. Er würde sich schon nicht umbringen, denn er hätte ja Kinder, sagte er beispielsweise. Oder dass Assange gar nicht unter dem Asperger-Syndrom leiden könne, denn dann könnte er ja gar keine Kinder großziehen. In jedem US-Unternehmen wäre Lewis für solche Aussagen gefeuert worden.

Die USA sicherten dann zwar noch zu, dass Assange bei einer Auslieferung keinen „Special Administrative Measures“ (SAMs) unterzogen würde und seine Haftstrafe in Australien absitzen könne. Doch die zugehörigen schriftlichen Zusagen relativieren diese Versprechen um den Zusatz, „wenn sich bis dahin nichts ändert“. Am zweiten Tag konnten Assanges Anwälte reagieren und nannten Beispiele, wo die USA ihr Wort gebrochen haben. Erwartungsgemäß schloss der vorsitzende Richter am 28. Oktober 2021 mit dem Hinweis darauf, dass er jetzt lange nachdenken müsse.

„Das eigentliche Problem bei dem Auslieferungsantrag der USA ist nicht, ob Assanges Gesundheit stark und stabil genug ist, um die grausamen und unmenschlichen Haftbedingungen zu überstehen“, sagte der Schweizer Nils Melzer, Rechtswissenschaftler und UN-Sonderberichterstatter für Folter. „Es geht darum, dass er als Journalist, der kein Verbrechen begangen hat, gar nicht erst inhaftiert und verfolgt werden sollte.“ Und immer noch hängt es auch am Einsatz jedes Einzelnen, in welche Richtung der Fall Assange sich entwickelt.

 


Buchtipp

Nils Melzer
Der Fall Julian Assange
Geschichte einer Verfolgung
Piper, April 2021
336 Seiten, 22.00 Euro
978-3-492-07076-8

 


Onlinetipps

Free Assange
Initiative zur Unterstützung von Julian Assange
www.freeassange.eu

Moriz Müller
Julian Assange weiterhin im Justizlabyrinth
NachDenkSeiten, 19.11.2021
www.nachdenkseiten.de/?p=78169

Eva-Maria Föllmer-Müller
Der Fall Assange entbehrt jeglicher rechtsgültiger Grundlage
Zeit-Fragen, November 2021
www.t1p.de/pgw4

Markus Kompa
Assange-Verfahren in London: Nicht suizidal genug?
Telepolis, 29.10.2021
www.heise.de/-6236587

Moriz Müller
Zweiter und letzter Tag der Assange-Berufsanhörung
NachDenkSeiten, 29.10.2021
www.nachdenkseiten.de/?p=77483

Markus Kompa
Doppelte Standards im Assange-Prozess
Telepolis, 28.10.2021
www.heise.de/-6236587

Moriz Müller
Erster Tag der Assange-Berufsanhörung
NachDenkSeiten, 28.10.2021
www.nachdenkseiten.de/?p=77417

Moritz Müller
Julian Assange – Mordpläne, Schulterzucken und die Berufungsverhandlung
NachDenkSeiten, 25.10.2021
www.nachdenkseiten.de/?p=77286

Moriz Müller
Zweiter und letzter Tag der Assange-Berufungsanhörung
NachDenkSeiten, 29.10.2021
www.nachdenkseiten.de/?p=77483

Moriz Müller
Assange und die CIA
NachDenkSeiten, 09.10.2021
www.nachdenkseiten.de/?p=76837

Harald Neuber
US-Geheimdienstmitarbeiter: CIA wollte Julian Assange ermorden
Telepolis, 29.09.2021
www.heise.de/-6203592

Harald Neuber
Bekommen die USA Julian Assange doch noch in ihre Hände?
Telepolis, 12.08.2021
www.heise.de/-6164024

Hannes Sies
Warum der Assange-Unterstützer Craig Murray in Haft sitzt
Telepolis, 11.08.2021
www.heise.de/-6160696

Ortwin Rosner
Julian Assange: Wie die USA ihre Kriegsverbrecher schützen
Telepolis, 01.08.2021
www.heise.de/-6152408

Hannes Sies
Mann fürs Grobe: Assange-Ankläger Kromberg in der Kritik
Telepolis, 23.07.2021
www.heise.de/-6145834

Chris Hedges
Julian Assange und der Zusammenbruch der Herrschaft des Rechts
NachDenkSeiten, 23.06.2021
www.nachdenkseiten.de/?p=73603

Hannes Sies
Wichtiger Zeuge der US-Anklage gegen Assange gesteht Falschaussage
Telepolis, 06.07.2021
www.heise.de/-6129348

Hannes Sies
Freiheit für Roman und Julian!
Telepolis, 15.06.2021
www.heise.de/-6070802

Ortwin Rosner
Wie Julian Assange in Großbritannien gefoltert wird
Telepolis, 22.05.2021
www.heise.de/-6049826