Foto: Tim Reckmann / pixelio.de

Gesundheit

Zwangsdigitalisierung – Ende der analogen Vertrautheit in Arztpraxen

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Auch vor dem Gesundheitswesen macht die Digitalisierung nicht halt. Ab 2019 müssen Praxen, Krankenhäuser, Apotheken und andere Anbieter über das Internet vernetzt sein. Einem geringen Nutzen stehen hohe Kosten und mangelnder Datenschutz gegenüber. Es lohnt sich, über die Neuerungen Bescheid zu wissen.

Wir schreiben den 1. Januar 2019, oder besser den ersten Werktag nach den Weihnachtsferien. Sie kommen zu Ihrem Hausarzt in die Praxis, vielleicht mit einer kleinen Grippe, und lassen wie immer Ihre Gesundheitskarte einlesen. Es dauert. Die Helferin wirkt genervt und ruft schließlich den Arzt. Der flucht leise vor sich hin und führt schließlich selbst die Prozedur durch. Denn, und das wissen Sie als Patient in dem Moment vielleicht nicht, die Abläufe in den Praxen sind nicht mehr die gleichen wie noch am 31. Dezember 2018. Automatisch wird nun beim Einlesen der Karte eine speziell eingerichtete und gesicherte Internetverbindung zur betreffenden Krankenkasse aufgebaut, damit sofort die Stammdaten auf der Karte mit denen bei der Krankenkasse abgeglichen und gegebenenfalls aktualisiert werden können.

Schien die elektronische Gesundheitskarte noch im Sommer 2017 endgültig gescheitert zu sein, nachdem bereits 1,7 Mrd. Euro in die Entwicklung des neuen Vernetzungssystems investiert waren, gelang der IT-Industrie leider, wie man sagen muss, zum Ende des Jahres doch noch der Durchbruch. Der erste und bisher monopolistisch einzige Konnektor kam auf den Markt, der nun in 200.000 Arzt- und Therapeutenpraxen, 2.000 Krankenhäusern und in 21.000 Apotheken zwischen Wandbuchse und Router eingebaut werden muss. Auch sollen weitere 2,3 Mio. Beschäftigte im Gesundheitswesen vernetzt werden, Physiotherapeuten etwa. Teilweise sind zudem weitere Elemente wie elektronische Arzt- und Praxisausweise und sogenannte Security Cards anzuschaffen.

Sensible Gesundheitsdaten – einfach zu hacken

Das Ganze geschieht still und schleichend, das E-Health-Gesetz aus dem Jahr 2016 ist die Basis dafür. Zeitungen und Fernsehen werden, wenn überhaupt, erst gegen Ende dieses Jahres darüber berichten, wenn die schöne neue Welt kurz bevorsteht. Was aber ist schlecht daran? An erster Stelle sind Sicherheitslücken zu nennen. Denn sicher und geschützt sind die Daten nicht. In den USA haben Hacker seit 2009 bei verschiedenen Angriffen Gesundheitsdaten von über 120 Mio. Patienten in ihren Besitz gebracht, Anfang 2018 war die Hälfte der norwegischen Bevölkerung von einem Cyber-Angriff auf das Gesundheitswesen betroffen. Beispiele für Datenlecks in anderen Bereichen ließen sich zahlreiche anführen. Privatsphäre und Vertrautheit, die durch die Digitalisierung schon anderweitig oft verloren gehen, sind nun also auch in den Arztpraxen bedroht. Wie Daten selbst bei gesicherten Verbindungen mit vermeintlich optimaler Verschlüsselung gefährdet sein können, kennt man allein schon aus regelmäßig wiederkehrenden Schlagzeilen zu Pannen beim Online-Banking.

Informatiker haben in den letzten Jahren wiederholt auf die Gefahr des Missbrauchs sensibler Gesundheitsdaten hingewiesen. Bei derart vielen Zugriffsberechtigten kann auch interner Missbrauch durchaus vorkommen. Aber offenbar wollen Krankenkassen und Bundesregierung „auf Teufel komm raus“ die Karte einführen, wie Jürgen Faltin, Anwalt für Medizinrecht, vermutet. Es geht ums Prestige, nachdem schon 1,7 Mrd. Euro seit 2002 investiert worden sind. Die von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt versprochenen Kosteneinsparungen und Vorteile für Patienten hat es nie gegeben – und wird es auch nie geben. Denn zu kritisieren sind auch die jetzt entstehenden immensen Anschaffungskosten, die pro Praxis über 3.000 Euro betragen. Tragen müssen das die Krankenversicherten über ihre monatlichen Beiträge. Immerhin 600 Mio. Euro kommen so schon einmal zusammen, allein für die Vernetzung der Praxen. Dazu kommen Folgekosten von ca. 300 Euro pro Quartal und Praxis.

Gesünder durch mehr Technik?

Gesünder werden die Menschen durch die neue Technik kaum. Deutschland gibt sowieso schon 12 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheitswesen aus, liegt aber hinsichtlich der Versorgungsqualität international auf Platz 20, noch hinter Slowenien und Griechenland. Zu viel Technik wird heute schon angewandt, viele Röntgen-, Kernspin- und Herzkatheteruntersuchungen sind überflüssig, nicht jeder Gelenksersatz ist nötig.

Ziel war es eigentlich, mit der Vernetzung über das Internet die Kommunikation zwischen Ärzten zu verbessern. Ein auf dem Chip gespeicherter Medikationsplan soll verhindern, dass Tabletten mit gefährlichen Wechselwirkungen verordnet werden. Notfalldaten sollen im Ernstfall rasch verfügbar sein. Und in der elektronischen Patientenakte sollen Rezepte und Befunde gespeichert werden, um teure Mehrfachuntersuchungen zu vermeiden. Klingt gut. Oben genannte Auswüchse entstehen aber heute dadurch, dass teure Geräte sich amortisieren müssen und Kliniken lukrative Operationen unter heutigem Kostendruck besonders gerne durchführen. Und wollen Sie wirklich, dass alle Ärzte (und vielleicht noch andere, eher unerwünschte Interessenten wie Versicherungen oder Arbeitgeber) beim Blick in die Patientenakte erfahren, dass Sie wegen Depressionen schon mal beim Psychologen waren, sich vor etlichen Jahren im Urlaub eine Geschlechtskrankheit eingefangen haben und Ihre Leberwerte hin und wieder etwas erhöht sind?

Auch die Beziehung zwischen Arzt und Patient, eigentlich ein zentrales Heilmittel, wird sich verändern. Durch den vermehrten Blick in den Bildschirm werden wir dem Patienten umso mehr suggerieren, dass nicht er, sondern die Verwaltung seiner Daten im Vordergrund steht. Das schadet wiederum der Arzt-Patient-Beziehung, die eigentlich ein wichtiges Heilmittel darstellt. Schließlich ergibt allein schon das Gespräch über die Krankheitsvorgeschichte und die eingenommenen Mittel viele Aufschlüsse darüber, wie es dem Patienten geht und wie sich seine Krankheiten in seine Lebensgeschichte einordnen lassen. Anstatt dass Ärzte vernünftig mit ihren Patienten und auch untereinander kommunizieren, soll nun Technik wieder Probleme lösen. Der Lipobay-Skandal 2001, bei dem es durch Wechselwirkungen von Medikamenten zu Todesfällen kam, war Anlass für die ganze Entwicklung. Aber wer fragt eigentlich nach Toten durch Hitzewellen, Luftverschmutzung oder Verkehrsunfällen?

Zwangsdigitalisierung – auch in Arztpraxen und Krankenhäusern

Der Druck, am Internet angeschlossen zu sein, nimmt derzeit generell zu, die Entwicklung muss im größeren Rahmen gesehen werden. Smartphones in Schulen werden selbstverständlich, Elternbriefe meist nur noch per E-Mail verschickt, Smart Homes zur Energievernetzung der Haushalte werden kommen und im Zuge von Energiesparmaßnahmen wohl verpflichtend werden, Telefonanschlüsse werden auf Internet umgestellt, auch dies gezwungenermaßen mit Kündigung der alten Verträge, UKW-Frequenzen werden abgeschafft mit Hinweis auf schöne digitale Klangqualitäten und in der Frankfurter Nationalbibliothek bekommen Sie eine digitale Buchausgabe sofort, die gedruckte erst mit deutlicher Verspätung oder gar nicht mehr. Die Zwangsdigitalisierung unserer Gesellschaft ist im vollen Gange und erreicht nun also auch das Gesundheitswesen.

Denn die Einführung der Konnektoren und anderer Geräte zur Online-Vernetzung der hier tätigen Akteure ist ebenso Pflicht. Ansonsten droht niedergelassenen Ärzten und Therapeuten ein Honorarabzug von 1 Prozent ab 1. Januar 2019. Subtil wird Druck aufgebaut. So sinkt allein schon die Kostenerstattung für Kauf und Einrichtung der Geräte von Quartal zu Quartal. Jetzt, wo die Einführung akut ansteht, regt sich zumindest langsam Widerstand. So hat sich eine Gruppe von Ärzten gebildet, die sich der Zwangsvernetzung verweigern, unter dem Motto „Freiheit für 1 Prozent!“. Denn wie soll ich etwa meinen psychisch Kranken den Nutzen der Datenspeicherung auf dem Chip vermitteln? Wer noch nicht paranoid ist, wird es spätestens dann!

Wer hat etwas davon?

Man fragt sich, warum das Projekt trotzdem so vehement verfolgt wird. Krankenkassen forcieren stark die Einführung der „Gesundheitstelematik“, so nennt sich etwas sperrig die nun kommende Vernetzung des Gesundheitswesens. So können dadurch Verwaltungsarbeiten wie etwa der erwähnte Abgleich der Versichertenstammdaten elegant delegiert und mittelfristig Kontrollinstrumente eingeführt werden. Auch wird es zu Rabatten kommen, wie sie heute schon bei Deutschlands größtem Versicherer, der Generali, bei Neuverträgen angeboten werden, wenn die Kunden ihre Daten aus Fitness-Armbändern und Gesundheits-Apps zur Verfügung stellen.

Zudem bestehen hohe Heilserwartungen für Wirtschaft und Bruttosozialprodukt. Die damalige Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries befürchtete noch letztes Jahr, das Gesundheitswesen könnte als eine von nur noch wenigen Branchen die Digitalisierung verschlafen. Entsprechend profitiert die IT-Industrie zunehmend davon. Die CompuGroup Medical, die bisher das Monopol für den Konnektor hat und sowieso schon Marktführer bei den Praxisverwaltungssystemen ist, jubelt bereits in ihrem Finanzbericht, dass die Einführung der Telematikinfrastruktur perfekt zur Strategie der CGM passe, weitere Produkte und Dienstleistungen wie e-Services, Ärztenetzwerke, Online-Behandlungspfade oder Hosting-Dienste ihren Kunden zur Verfügung zu stellen. Der Bertelsmann-Konzern wiederum ist mit Tochterfirmen wesentlich am Aufbau der Gematik, also des gesicherten Internetverbindungsnetzes im Gesundheitswesen, beteiligt, so wie Bertelsmann ja auch von anderen (vermeintlichen) Digitalisierungsfortschritten profitiert, etwa im Bildungsbereich.

Es nervt – aber man muss sich nicht alles gefallen lassen

Keiner hat so richtig Lust, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Man durchschaut die Technik dabei nicht mehr, spürt unangenehm die Abhängigkeit von Experten, befürchtet das Versagen der Systeme und ärgert sich, dass einem wieder Neuerungen aufgezwungen werden. Müde scheinen sich die meisten Ärzte und Therapeuten ihrem Schicksal zu ergeben, oder ist es Gleichgültigkeit und Sorge vor Geldverlust, weshalb viele dann doch mitmachen, obwohl sie keine Lust dazu haben? Auch werden letztlich viele Patienten schlecht informiert oder gleichgültig der elektronischen Nutzung ihrer Gesundheitskarte zustimmen, ohne überhaupt verstanden zu haben, welche Dimensionen dies erreicht, so wie wir alle auch sonst oft eine Software herunterladen und dem Lizenzvertrag zustimmen, ohne ihn jemals gelesen zu haben.

Sie als Leser dieses Artikels haben nun aber die Chance, nicht kritiklos die Zwangsvernetzung letzter privater Bereiche hinzunehmen, sondern sich Verbündete zu suchen, die einen differenzierten und vorsichtigen Umgang mit Digitalisierung fordern, wie etwa die ÖDP. Damit wir uns auch 2019 noch im vertrauensvollen Kontakt untersuchen und behandeln lassen können!