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„Ein Spiegel unserer Gesellschaft“

Verstörende Gebäude, Vorgärten, Zäune und Gärten prägen zunehmend das Bild unsere Städte, Vorstädte und Dörfer. Eine Architekturhistorikerin ist davon fasziniert, fotografiert sie und veröffentlicht nun 365 in Form eines „Abrisskalenders“. Was sagen diese sogenannten „Bausünden“ über unsere Gesellschaft?

Interview mit Dr. Turit Fröbe

 

ÖkologiePolitik: Frau Dr. Fröbe, wie kam es zu Ihrem „Abrisskalender 2026“?

Dr. Turit Fröbe: Ich sammle bereits seit fast 25 Jahren die hässlichen Entlein unserer Städte und dies ist bereits mein fünfter Kalender – aber der schönste, wie ich finde! Ich wundere mich selbst darüber, dass ich nach all den Jahren immer noch fasziniert von dem Gestaltungswillen meiner Mitmenschen bin und das Interesse an den „Bausünden“ noch nicht verloren habe. Das liegt zum einen daran, dass ich sehr früh festgestellt habe, dass „Bausünden“ eine hochinteressante und zu Unrecht geschmähte Architekturgattung sind. Zum anderen liegt es daran, dass sich die Leute immer wieder was Neues einfallen lassen und ich mich immer wieder gut unterhalten fühle. Es hat natürlich in den vergangenen knapp 25 Jahren immer mal wieder Phasen gegeben, in denen ich dachte: So, jetzt reicht’s, jetzt kann ich keine Bausünden mehr sehen! Und dann bin ich wieder über irgendwas gestolpert, das mich so fasziniert hat, dass ich dachte: Das muss ich der Welt zeigen! Das Schlüsselbild in diesem Kalender sind die meterhohen Gummistiefel, die ich in Oberursel gefunden habe – zu finden am 6. und 7. Oktober. Aber ehrlicherweise muss ich sagen, dass mich die gut gemachten, originellen „Bausünden“ im Moment besser unterhalten als der Rest unserer gegenwärtigen Baukultur, die ich als sehr lieblos, langweilig und banal empfinde. Ich unterscheide daher sehr lange schon zwischen „guten Bausünden“ und „schlechten Bausünden“. Die „guten Bausünden“ sind die originellen, fantasievollen hässlichen Entlein, die eine gewisse Ambition haben und von Mut und Gestaltungswillen zeugen. Sie haben in der Regel sogar ein Potenzial für die Städte, in denen sie stehen, da sie sich aus dem allgegenwärtigen Einheitsbrei abheben. Ganz anders die „schlechten Bausünden“: Darunter verstehe ich die banalen, austauschbaren Investoren-Bausünden, die zu Hunderten und Tausenden in unseren Städten herumstehen und den Einheitsbrei erzeugen. Sie sind das eigentliche Problem! Ein paar von ihnen haben auch Eingang in den Abrisskalender gefunden, aber hauptsächlich sind dort „gute Bausünden“ abgebildet. Ich will die Sachen ja nicht wirklich abreißen, sondern ich möchte die Menschen dazu bringen, die gebaute Umwelt bewusst wahrzunehmen!

Walter Benjamin versuchte, über die Analyse städtischer Räume und Architektur die moderne Gesellschaft zu verstehen. Versuchen Sie das auch?

In gewisser Weise, ja! Die Baukultur ist ein Spiegel unserer Gesellschaft – und wir bekommen tatsächlich genau die Baukultur, die wir auch verdienen. Ich bin ja hauptsächlich in der Baukulturellen Bildung tätig und leite – wann immer möglich – dazu an, eine bewusste Beziehung zu unserer gebauten Umwelt insbesondere in unserer Alltagsumgebung, für die wir in der Regel ganz besonders blind sind, einzugehen. Dabei greife ich mit Vorliebe auch auf die Strategien der großen Flaneure, zu denen auch Walter Benjamin gehört, zurück. Das ist sicherlich kein Zufall!

Welche Ängste können Sie aus den im Abrisskalender veröffentlichten Gebäuden herauslesen?

Ablesbar ist in den Eigenheimgebieten häufig die Angst vor Kontrollverlust bzw. der Wunsch, alles zu kontrollieren. Viele Gärten sind heute maximal leblos gestaltet. An die Stelle von Rasen treten vollversiegelte Flächen – gepflastert oder geschottert –, an die Stelle von Hecken treten Schotter-Gabionen. Wenn Pflanzen vorgesehen sind, dann meistens Buchsbaum oder Thuja in Formschnitt. Und weil die doch relativ pflegeaufwendig sind, wird gern auch zu Plastiknachbildungen gegriffen. In diese Kategorie gehören auch die inzwischen allgegenwärtigen Fototapetenzäune – wahlweise in Hecken-, Gabionen-, Mauer- oder Zaunoptik. Der neueste Schrei: Kunstrasen! In meinem neuen Abrisskalender gibt es eine ganze Bildstrecke davon. Also, ich sehe erhebliche Angst vor der Natur. Wildblumengärten sind mehr oder weniger ausgestorben. Und wenn es noch Rasen gibt, kurvt mit Sicherheit ein Rasenroboter herum, der die Natur in Schach hält. Ein weiteres Thema, das in den letzten Jahren immer deutlicher zutage tritt, ist die Angst vor fremden Blicken. Ich beobachte seit einiger Zeit, dass in den Eigenheimgebieten immer weniger Gärten einsehbar sind und die Leute dazu neigen, sich hinter hohen Kunststoff- oder Betonzäunen zu verbarrikadieren. Das machen sie zum einen, weil infolge der Corona-Pandemie inzwischen fast jeder einen Aufstellpool aus dem Baumarkt im Garten stehen hat. Aber ich glaube, das ist nicht der einzige Grund – es gibt gerade allgemein eine Tendenz zur Abschottung. Und wie schön ist es da, wenn die Welt hinter dem Doppelstabmattenzaun mit eingefädelter Fototapete draußen bleibt. Übrigens der Tiefpunkt meiner „Bausünden-Sammeltätigkeit“ ist ein Fototapetenzaun mit einem Gartenaufdruck gewesen!

Werden Sie sich weiterhin den „Bausünden“ widmen?

Ich sammle kontinuierlich weiter alles, was mir zufällig vor die Nase kommt. Ich mache im Moment aber keine gezielten „Bausünden-Safaris“. Aber das kann jederzeit wieder losgehen!

Was machen Sie und Ihr Büro sonst noch?

Die Arbeit mit meiner „Stadtdenkerei“, die ich 2014 gegründet habe, ist massiv durch die Erfahrungen mit den „Bausünden“ geprägt. Ich habe damals, wie gesagt, in kürzester Zeit wahninnig viel über „Bausünden“ gelernt. Das Wichtigste aber war, dass sich dabei meine Wahrnehmung verändert hat und ich mittlerweile von einer „Bausünden-Hasserin“ zu einem echten Fan geworden bin. Was ist passiert? Wenn ich „Bausünden“ gefunden habe, habe ich mich gefreut. Je hässlicher die „Bausünde“, umso besser meine Laune! Das können Sie ja mal ausprobieren: Stellen Sie sich mal mit blendender Laune, quietschvergnügt vor so ein hässliches Entlein! Sie werden feststellen, dass es nicht hässlich bleibt, sondern sich unter ihrer fröhlichen Betrachtung geradezu verwandelt. Mit einem Mal zeigt sich eine ganz ureigene Schönheit und ein ganz eigenwilliger Charme! Ich bin also vollkommen ungeplant zu einem liebevollen Blick gekommen – und das ist das sicherlich stärkste Schlüsselerlebnis, das mein Berufsleben wie kein anderes geprägt hat. Mit meiner „Stadtdenkerei“ biete ich Städten und Gemeinden an, ganze Innenstädte oder alternativ Stadtteile oder Planungsareale aufzuwerten, indem mein Team und ich ausschließlich die Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort verändern. Und trotzdem ist die Stadt, wenn wir sie nach einer Woche wieder verlassen, eine andere!
Gerade baue ich noch ein weiteres Unternehmen auf: eine Online-Akademie für Baukulturelle Bildung. Die erste Fortbildung ist schon fertig und heißt „Sensibilisierung für die gebaute Umwelt I“. Und natürlich geht es darin darum, einen liebevollen Blick auf die gebaute Umwelt zu werfen und die Wahrnehmung insbesondere in unserer Alltagsumgebung zu intensivieren.

Frau Dr. Fröbe, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Turit Fröbe
Der Abrisskalender 2026
DuMont, Mai 2025
368 Seiten, 19.00 Euro
978-3-7558-2000-0

Turit Fröbe
Eigenwillige Eigenheime
DuMont, Februar 2021
160 Seiten, 20.00 Euro
978-3-8321-9992-0

Turit Fröbe
Die Kunst der Bausünde
DuMont, August 2020
180 Seiten, 20.00 Euro
978-3-8321-9986-9

Turit Fröbe
Alles nur Fassade?
Das Bestimmungsbuch für moderne Architektur
DuMont, September 2018
176 Seiten, 20.00 Euro
978-3-8321-99470


Onlinetipp

Andreas Krieger
Abrisskalender 26
BR Capriccio, 24.07.2025
www.t1p.de/g1jp9


 

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