Ideologisierung, Eitelkeit und Realitätsverlust
29. Oktober 2025
In den letzten Jahren erschienen zahlreiche Bücher, die sich kritisch mit der linksidentitären Bewegung auseinandersetzen. Nun noch eines. Und auch das ist lesenswert. Denn es enthält neben einer Fülle an Beispielen aus der jüngsten Gegenwart interessante Analysen zur linksidentitären Theorie.
von Günther Hartmann
„Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann“, schrieb Friedrich Nietzsche. Dieser Aphorismus passt treffend zu den meisten postmodernen Philosophen. Zu denen zählt auch Judith Butler, die vielleicht wichtigste Theoretikerin der linksidentitären Bewegung. Sie postulierte unter anderem, das biologische Geschlecht sei nur ein „gesellschaftliches Konstrukt“ und es gäbe mehr als zwei Geschlechter.
„Dank ihrer enigmatischen Sprache versteht niemand so genau, was sie wirklich sagen will, vermutlich nicht einmal sie selbst“, bemerkt Hans-Dieter Rieveler süffisant. „Unklarheit erzeugt eine Aura der Wichtigkeit. Gerade weil die Leser das Geschriebene nicht vollständig verstehen, halten sie es für besonders bedeutend. So täuscht Unklarheit über das Fehlen wirklich komplexen Denkens und Argumentierens hinweg.“
Durchsetzen von Narrativen statt schlüssiges Argumentieren
Die Praxis erinnert dann allerdings mehr an Franz Kafkas „Prozess“ und George Orwells „1984“. Denn postmoderne Philosophen wie Butler unterscheiden nicht mehr zwischen Wahr und Unwahr, Richtig und Falsch, sondern nur noch zwischen „Erzählungen“, sogenannten „Narrativen“. Deshalb wird mit Kritikern erst gar nicht diskutiert, sondern versucht, diese zu canceln, damit sie ihre Narrative nicht verbreiten können. Und umgekehrt werden die eigenen Narrative lautstark propagiert, um die Deutungshoheit über die Realität zu erringen. Schubladen ersetzen das Argument. Zunehmende Polarisierung und zunehmender Realitätsverlust sind die Folge.
Zwar berufen sich die Linksidentitären noch oft auf „die Wissenschaft“, doch das ist nur noch ein Trick und hat mit Wissenschaft im Sinne Karl Poppers nichts mehr zu tun. Nach Popper sind nämlich alle wissenschaftlichen Erkenntnisse vorläufig und gelten nur so lange, bis sie durch neue Erkenntnisse widerlegt werden können. Die Linksidentitären dagegen betrachten sich als Inhaber einer absoluten Wahrheit, die es gegen Wahrheitsverweigerer aggressiv durchzusetzen gilt.
Ein Interesse und ein Bemühen, unsere komplexe Realität zu verstehen, sind bei den Linksidentitären deshalb kaum vorhanden. Von der Beschäftigung mit Geschichte halten sie wenig. Warum auch? Ihr Ansinnen ist, die Realität nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Dafür setzen sie auf die Macht der Narrative und der Sprache. Dabei „scheuen sie sich nicht, zuzugeben, dass sie statt durchdachter Konzepte Erzählungen verbreiten, auf deren Realitätsgehalt es nicht ankomme“, beschreibt Rieveler dieses Selbstverständnis und findet, sie seien geradezu „besoffen von ihrer eingebildeten moralischen und intellektuellen Überlegenheit“.
Kampf gegen Diskriminierung statt Kampf gegen Ungleichheit
Entstanden ist die linksidentitäre Bewegung in den 1990er-Jahren. „Just zu jener Zeit, als die soziale Ungleichheit in den westlichen Ländern zunahm, verloren die im weitesten Sinne linken Parteien das Interesse daran, sie zu bekämpfen“, erläutert Rieveler. „Stattdessen widmen sie sich seither vornehmlich anderen Kämpfen, bei denen sie sich nicht mit dem Kapital anlegen müssen, sondern im Gegenteil dessen Interessen bedienen.“
Über US-amerikanische Universitäten fanden die Ideen den Weg nach Deutschland, wo sie im linksliberalen Milieu begeistert aufgenommen wurden. Dies „dürfte indes weniger ihrer Genialität geschuldet sein als der schlichten Tatsache, dass sich die seit den 1970er-Jahren abzeichnende Abwendung der Linken vom Klassenkampf damit rechtfertigen ließ“, vermutet Rieveler.
Ausgetragen werden die neuen Kämpfe gegen Rassismus, gegen Sexismus und gegen Transfeindlichkeit vornehmlich mit Sprachregelungen und Symbolpolitik. Was das konkret bedeutet, demonstriert Rieveler anhand zahlreicher Beispiele – von einer angeblich geschlechtergerechten Sprache, dem sogenannten „Gendern“, bis hin zu Bestrebungen wie in Weil am Rhein, wo das Wort „Bläserfestival“ als ausländerunfreundlich und sexistisch angeprangert wurde und durch ein gefälligeres Wort ersetzt werden sollte.
Inszenieren der eigenen Tugendhaftigkeit als verstecktes Motiv
In Deutschland stoßen solche Bestrebungen zunehmend auf Unverständnis, Ablehnung und Widerstand. Noch mehr in den USA. Laut einer Studie lehnen unter den US-Bürgern 80 % die sogenannte „Political Correctness“ ab – unter den Schwarzen 75 %, unter den Asiaten 82 %, unter den Hispanics 87 % und unter den Indianern 88 %.
„Wie kann es sein, dass gerade jene Bevölkerungsgruppen, für die die Aktivisten sich einzusetzen vorgeben, mit deren Kampf so wenig anfangen können?“, fragt Rieveler. Und antwortet: „Weil sie den Eindruck haben, dass es diesen vor allem um sich selbst geht. Und damit liegen sie genau richtig. Auch für die Woken in Deutschland ist es zweitrangig, ob sich tatsächlich jemand beleidigt fühlt. Sie freuen sich, ihre Tugendhaftigkeit zu demonstrieren. Die vermeintlichen Opfer dienen nur als Staffage.“
Doch Kritik prallt an den Linksidentitären weitgehend ab. Denn sie leben vornehmlich in ihrer eigenen Blase. Und die stabilisiert sich durch Feindbilder. In der Theorie war das ursprünglich der „alte weiße Mann“. Doch dies funktionierte in der Praxis nicht so richtig, weil fast die Hälfte der Bevölkerung aus „weißen Männern“ besteht, weil die alle altern und weil die meisten Frauen mit welchen liiert sind. Deshalb musste der „alte weiße Mann“ durch etwas ersetzt werden, auf das sich alle einigen können: den „Kampf gegen Rechts“.
Doch auch der ist seltsam. „Schaut man sich näher an, mit welchen Mitteln und aus welchen Anlässen dieser Kampf geführt wird, stößt man unweigerlich auf die Frage: Worum geht es dabei wirklich?“, fragt Rieveler. „Wenn der Kampf gegen was auch immer sich in immergleichen Phrasen und Ritualen erschöpft, ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass es weniger um die Sache als um Selbstbestätigung geht. Es kommen Menschen zusammen, um gemeinsam ihre Tugendhaftigkeit zu zelebrieren.“ Profitieren tut davon die AfD.
„Den Normalbürgern, die keinen Schimmer von Queerfeminismus, Intersektionalität und Political Correctness haben, bleibt nicht verborgen, dass sich hinter der hochmoralischen Fassade der blanke Egoismus verbirgt“, findet Rieveler. „So verschärfen die der Identitätspolitik anhängenden Linksliberalen die Spaltung der Gesellschaft, schwächen die Demokratie und treiben den Rechtspopulisten Wähler in die Arme.“
Weniger Eitelkeit, mehr Realitätsnähe, mehr pragmatische Lösungsansätze, die wirklich etwas verändern – darum geht es Rieveler. Vor allem aber auch um mehr Gleichheit. Am Ende seines Buchs zitiert er den österreichischen Philosophen Robert Pfaller: „In einer Gesellschaft, die sich auf mehr Gleichheit zubewegt, werden den Menschen ihre Identitäten zunehmend egal. Sie achten dann nicht mehr darauf, was sie angeblich sind, sondern darauf, was sie werden können.“
Hans-Dieter Rieveler
Hauptsache Haltung
Von kleinkarierten Besserwissern im Strebergarten
Fiftyfifty, Februar 2025
224 Seiten, 24.00 Euro
978-3-946778-57-8
Onlinetipps
Interview mit Hans-Dieter Rieveler
„Viele verwechseln Haltung mit Konformität und Gesinnungsstolz“
NachDenkSeiten, 08.06.2025
www.nachdenkseiten.de/?p=134128
Über Omri Boehms
Die Realität der Ideale
ÖkologiePolitik, 31.03.2025
www.t1p.de/waopw
Über Bernd Stegemanns
In falschen Händen
ÖkologiePolitik, 10.02.2025
www.t1p.de/reltk
Über Pauline Voss’
Generation Krokodilstränen
ÖkologiePolitik, 23.09.2024
www.t1p.de/moqjh
Über Bernhard Hommels
Gut gemeint ist nicht gerecht
ÖkologiePolitik, 23.07.2024
www.t1p.de/z1457
Über Julian Nida-Rümelins
Cancel Culture – Ende der Aufklärung?
ÖkologiePolitik, 03.06.2024
www.t1p.de/7oe3z
Über Svenja Flaßpöhlers
Sensibel
ÖkologiePolitik, 15.12.2022
www.t1p.de/06iva
Über Robert Pfallers
Erwachsenensprache
ÖkologiePolitik, 13.12.2022
www.t1p.de/jm1to
Über Fabian Payrs
Von Menschen und Mensch*innen
ÖkologiePolitik, 08.04.2022
www.t1p.de/j5wvx
Über Judith Basads
Schäm dich!
ÖkologiePolitik, 02.04.2022
www.t1p.de/3zkl8

