
Manifest eines Markt-Radikalen
8. September 2025
Es ist eines der meistdiskutierten Bücher des Jahres: Ulf Poschardts „Shitbürgertum“. Zuerst fand es keinen Verlag, dann doch einen – und wurde sofort zum Bestseller. Das ist bereits ein Grund, es zu lesen. Und es lässt sich von ihm auch Wichtiges lernen: Wie Markt-Radikale ticken. Und warum sie Erfolg haben.
von Günther Hartmann
Der unflätige Name, den Ulf Poschardt dem von ihm heftig kritisierten Milieu gibt, ähnelt nicht zufällig dem „Schildbürger“ und dem „Spießbürger“. Denn für Poschardt ist es eine „unheilvolle Mischung aus Anmaßung und Untertanengeist, Selbstbehauptung und Opportunismus“. Sein Handeln ist von einem starken, wenn auch uneingestandenen Motiv geprägt: Angst vor der Freiheit und Neid auf die Freien. Dem hält Poschardt seine gänzlich andere Grundüberzeugung entgegen: „Fortschritt ist nur durch Freiheit möglich. Stabilität ist nur durch Sicherheit möglich. Freiheit ist wertvoller als Sicherheit.“ Und dies macht seine Ausführungen teilweise interessant und aufschlussreich, hat aber auch große Schwächen.
Poschardts Stärke
Poschardt erkennt Zusammenhänge, die vielen anderen politischen Journalisten verborgen bleiben. Oder die sie einfach nicht wahrnehmen wollen, weil sie ihrem Weltbild zuwiderlaufen. So analysiert und erklärt er z. B. im Gegensatz zu unseren Leitmedien sehr kenntnisreich und schlüssig den Erfolg von Donald Trump. Dessen erdrutschartiger Wahlsieg ist für Poschardt „ein demokratisch artikulierter Misstrauensantrag gegen Teile der Medien-, Kultur- und Politikeliten, die sich besonders in den wohlhabenden Gesellschaften zu Schieds-, Linien- und Scharfrichtern gemacht haben“.
Die Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit der US-Demokraten machte es Trump leicht. Nachdem Joe Biden im Wahlkampf Trumps Anhänger als „Müll“ bezeichnete, musste sich Trump nur noch demonstrativ von einem Flughafen mit einem Müllwagen abholen lassen und eine Müllmannweste tragen, um sich als „Mann des Volkes“ zu inszenieren. Trotz der Durchschaubarkeit dieser Aktion wirkte er dabei echt, authentisch, frei und selbstbestimmt – während Biden und Harris von einer breiten Bevölkerung nur als blutleere Funktionäre ihres Milieus und ihrer Partei gesehen wurden. Freie Menschen wirken attraktiv, unfreie wirken unattraktiv.
Poschardts Schwäche
Seine Leidenschaft für Freiheit verleitet ihn zum Verfechten eines radikalen Individualismus und einer radikalen Marktwirtschaft. Konsequenterweise bewundert er den argentinischen Präsidenten Javier Milei. Poschardt will dabei nicht erkennen, dass solch eine Freiheit nur eine Freiheit für Reiche und Mächtige ist – und für die breite Bevölkerung zwangsläufig Unfreiheit bedeutet. Dass eine entfesselte Marktwirtschaft unsere ökologischen Lebensgrundlagen zerstört. Und dass Freiheit immer mit Verantwortung und mit Pflichten verbunden sein muss. Hier zeigt sich Poschardt als das, was er an den „Shitbürgern“ wortmächtig kritisiert: als naiv, engstirnig und in schlichtem Schwarz-Weiß-Denken gefangen.
Lesen? Aber ja doch!
Wer den Aufstieg von Gestalten wie Trump oder Milei verhindern möchte, der muss verstehen, warum sie erfolgreich sind, warum sie in großen Teilen ihrer Bevölkerungen auf solch positive Resonanz stoßen. Hierfür liefert Poschardt aufschlussreiche und oft auch überraschende Erklärungen. Er analysiert die Befindlichkeiten, Einstellungen, Überzeugungen, Lebenslügen und die zunehmende Polarisierung unserer Gesellschaft messerscharf und provokant – aus seiner Perspektive, sehr unkonventionell, nicht immer richtig, aber auch nicht immer falsch.
Zudem liefert Poschardt wertvolle Einblicke in die Weltsicht und Denkweise weiter Teile unserer Wirtschaftseliten, der FDP und der CDU/CSU. Denn er ist ein renommierter Journalist, bestens vernetzt und einflussreich. Unter anderem war er Chefredakteur des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Welt“, seit Anfang 2025 ist er Herausgeber der „Welt“, „Politico Deutschland“ und „Business Insider Deutschland“.
Um seinen politischen Konkurrenten und Gegner wirksam entgegentreten zu können, sollte man diese gut kennen. Zwei kennt man nach der Lektüre von Poschardts Buch besser.
Ulf Poschardt
Shitbürgertum
Westend, März 2025
176 Seiten, 22.00 Euro
978-3-98791-331-0
Onlinetipps
Joachim Z. Buchmann
Vom historischen Subjekt zum Shit
Overton, 18.07.2025
www.t1p.de/mnev5
Interview mit Markus J. Karsten
Den Debattenraum so weit wie möglich offen halten
NachDenkSeiten, 12.05.2025
www.nachdenkseiten.de/?p=132812
Ulf Poschardt
Die Sprache des Shitbürgertums
NachDenkSeiten, 26.04.2025
www.nachdenkseiten.de/?p=132074
Jens Buchholz
Warum sind die Shitbürger so gemein?
Frankfurter Rundschau, 03.02.2025
www.t1p.de/cjnck