Das Gemeinwohl darf sich nicht nur auf den Menschen beziehen. – Gemälde: Michelangelo, Foto: janeb13/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Das Gemeinwohl hat eine ökologische Dimension“

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Die Idee des Gemeinwohls spielt in der katholischen Soziallehre eine wichtige Rolle. Sie ist kein starres Konzept, sondern muss immer wieder an gesellschaftliche Entwicklungen, Erkenntnisse und Herausforderungen angepasst werden – heute vor allem auch an die ökologischen Herausforderungen.

Interview mit Prof. Dr. Kurt Remele

 

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Remele, warum haben Sie als Theologe ein Buch über das Gemeinwohl geschrieben?

Prof. Dr. Kurt Remele: Als katholischer Theologe gehöre ich einer Kirche an, die ab Ende des 19. Jahrhunderts eine eigene Soziallehre und Sozialethik entwickelt hat. Ethik hat nämlich nicht nur eine individuelle Dimension, ist nicht nur Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern betrifft auch gesellschaftliche Strukturen und Werte: Wie gestalte ich eine Gesellschaft so, dass sie dem Wohl aller und eines bzw. einer jeden dient? Dieses Wohl wird Gemeinwohl genannt. Es ist ein zentrales Prinzip der katholischen Soziallehre. Im Laufe der Zeit muss das Gemeinwohl-Konzept jedoch immer wieder aktualisiert werden, damit es neuen gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht wird. Das versuche ich in meinem Buch zu tun.

Warum führte die Gemeinwohl-Idee lange ein Schattendasein? Und warum erlebt sie jetzt eine Renaissance?

Wie alle wertintensiven Begriffe wurde auch das Gemeinwohl-Konzept falsch interpretiert und vorsätzlich missbraucht. Das Gemeinwohl wurde autoritär und hierarchisch verstanden. Man hat die organische Metapher vom „Sozialkörper“ verwendet, um die Gesellschaft als statisch zu definieren und Veränderungen zu unterbinden. Mit Verweis auf das Wohl des Ganzen haben Faschismus und Kommunismus die Würde des Einzelnen mit Füßen getreten und die Menschenrechte massiv verletzt. Deshalb war der Begriff des Gemeinwohls für viele zu Recht suspekt. Doch noch vor Ende des 2. Weltkrieges setzten vor allem im deutschsprachigen und nordamerikanischen Raum heftige philosophische Debatten darüber ein, wie das Gemeinwohl richtig zu verstehen sei. Es wurde erkannt, dass das Gemeinwohl keine abstrakte Größe ist, die einem anonymen Ganzen zukommt, sondern dass es an das Wohl der in einem Gemeinwesen lebenden Menschen zurückgebunden sein muss. Menschenrechte und Autonomie sind unverzichtbarer Bestandteil des Gemeinwohls. Die fortschreitende gesellschaftliche Individualisierung, die teilweise einen ungebundenen Egoismus bewirkte, führte auch zu einer Rückbesinnung auf das Gemeinwohl. Man nahm die soziale Dimension wieder stärker in den Blick, besann sich darauf, dass wir Menschen Gemeinschaftswesen sind.

Ist in den angelsächsischen Ländern die Gemeinwohl-Idee anders als in Deutschland und Österreich?

In den angelsächsischen Ländern, vor allem in den USA, hat die fortschreitende Entsolidarisierung und Vereinzelung der Menschen in den 1980er-Jahren zu einer auch an Universitäten verankerten Gegenbewegung geführt, die sich „Kommunitarismus“ nannte. Die Gemeinwohl-Idee erlebte dadurch eine Renaissance, was auch deshalb leichter gelang, weil der Begriff dort nicht von totalitären Regimen missbraucht worden war. Gemeinwohl wurde nun stärker mit Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität assoziiert. Und eher als politisch „linker“ Begriff eingeordnet.

Wie definieren Sie persönlich Gemeinwohl?

Im Laufe meiner Recherchen zum Gemeinwohl bin ich auf drei Definitionen gestoßen, die ich für besonders gelungen halte. Ich verzichte deshalb auf eine eigene Definition und zitiere diese in kirchenamtlichen Sozialdokumenten zu findenden Begriffserklärungen. Erstens die Bischofskonferenz von England und Wales 1996: „Das Gemeinwohl ist das gesamte Netz gesellschaftlicher Voraussetzungen, die es den Einzelnen und den Gruppen ermöglichen, sich gut zu entwickeln und ein erfülltes, wahrhaft menschliches Leben zu führen.“ Zweitens die katholischen Bischöfe der USA 1986: Gemeinwohl ist „die in Gemeinschaft mit anderen verwirklichte Würde der menschlichen Person“. Drittens Papst Johannes Paul II. 1987: Das Gemeinwohl ist „das Wohl aller und eines jeden“. Zusammengenommen weisen diese Zitate auf wesentliche Elemente der Gemeinwohl-Idee hin: Es geht um strukturelle Voraussetzungen der persönlichen Entfaltung der Menschen in Gemeinschaft mit anderen. Es geht um alle gemeinsam und jeden Einzelnen persönlich, um die Menschenwürde, hier und überall auf der Welt. Es geht darum zu erkennen, dass ich anderen vieles verdanke und anderen gegenüber Pflichten habe.

Wie lässt sich erkennen, was das Gemeinwohl fördert? Und wie, was ihm zuwiderläuft?

Das Gemeinwohl ist kein starres Konzept, das einer Gesellschaft von oben übergestülpt werden kann. Es ist das Resultat von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die gewaltfrei und respektvoll ausgetragen werden sollten. Wir wissen heute, dass es kein wirkliches Gemeinwohl ohne Beachtung der Menschenrechte gibt. Vieles deutet auch darauf hin, dass in demokratischen Gesellschaften eine größere Gleichheit der Einkommen das Wohlbefinden der Menschen – und zwar aller Menschen! – vergrößert.

Lässt sich die Gemeinwohl-Idee vom Menschen auf Tiere und vielleicht auf Ökosysteme und die gesamte Schöpfung erweitern?

Ich habe in meinem Buch herausgearbeitet und ausgeführt, dass das Gemeinwohl eine ökologische Dimension hat und dass es auf alle schmerzsensiblen Kreaturen auszuweiten ist, also auch Tiere, die Leid und Freude empfinden können. Intensiv- und Massentierhaltung ist deshalb nicht mit dem Gemeinwohl vereinbar. Ein rein auf den Menschen bezogenes Gemeinwohl-Konzept ist obsolet, weil es weder dem Menschen noch der übrigen Natur gerecht wird.

Herr Prof. Remele, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipp

Kurt Remele
„Es geht uns allen besser, wenn es allen besser geht“
Die ethische Wiederentdeckung des Gemeinwohls
Matthias Grünewald, Februar 2022
204 Seiten, 20.00 Euro
978-3-7867-3251-8