Das Gemeinwohl betrifft heute unseren ganzen Planeten. – Foto: Maiconfz/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Es gibt ein Menschheitswohl“

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Die Idee des Gemeinwohls hat zwar eine lange Tradition, doch eine Übereinstimmung über deren Gehalt gibt es in der modernen Welt nicht mehr. Gleichwohl wird diese Idee gebraucht. Und angesichts globaler Herausforderungen muss sie die ganze Menschheit in den Blick nehmen.

Interview mit Prof. Dr. Peter Graf von Kielmansegg

 

ÖkologiePolitik: Herr Graf von Kielmansegg, letztes Jahr veröffentlichten Sie im hohen Alter von 85 Jahren ein Buch über das Gemeinwohl. Warum?

Prof. Dr. Peter Graf von Kielmansegg: Solange man im Kopf klar bleibt, braucht man nicht aufzuhören, über die Welt und ihren Lauf nachzudenken. Die Erfahrung eines langen Lebens kann dabei helfen. Und wenn man weiß, dass man nicht mehr viel Zeit hat, fragt man sich eindringlicher als früher: Welche Themen sind wirklich wichtig? Bestimmte aktuelle Aspekte der Gemeinwohl-Thematik haben für mich diese hohe Dringlichkeit. Die Idee des Gemeinwohls ist immer auf ein begrenztes Gemeinwesen bezogen gewesen: die Stadt, den Staat. Inzwischen leben wir in einem Zeitalter, in dem die Staaten weltweit eng miteinander verflochten sind, aufeinander einwirken, voneinander abhängen. Mehr noch – es gibt heute so etwas wie ein Menschheitsschicksal. Die Frage gewinnt deshalb Schlüsselbedeutung, wie sich die Verantwortung eines partikularen Gemeinwesens für sich selbst und seine Verantwortung für das Menschheitsschicksal zueinander verhalten. Oder wie sie miteinander vereinbar gemacht werden können. Um diese Frage geht es in meinem Buch.

Hatte das Gemeinwohl in der Geschichte einmal einen höheren Stellenwert als heute?

Die Idee des Gemeinwohls war bis an die Schwelle der Moderne für das politische Denken zentral. Man war überzeugt, dass es ein klar bestimmbares Wohl des Ganzen gebe, auf das die Regierenden verpflichtet seien. Die Vielfalt der miteinander konkurrierenden Weltwahrnehmungen und Weltorientierungen, die sich mit der Moderne Bahn brach, hat diese Überzeugung ausgehöhlt. Gleichwohl ist es auch unter den Bedingungen der Moderne sinnvoll, an der Idee des Gemeinwohls festzuhalten. Sie muss freilich als regulative Idee verstanden werden. Dann kann die Denkfigur des Gemeinwohls den politischen Diskurs, selbst den parteipolitischen argumentativen Wettstreit, bestimmten normativen Standards unterwerfen. Dass die Idee des Gemeinwohls in früheren Zeiten selbstverständlicher akzeptiert wurde als heute, besagt nicht, dass diese Idee das politische Handeln tatsächlich stärker bestimmte. Die Spannung zwischen dem Ideal einer Ausrichtung der Politik auf das allgemeine Wohl und den Interessen derer, die Politik machen, war zu allen Zeiten groß. Aber es macht einen Unterschied, ob diese Spannung als Spannung überhaupt wahrgenommen wird oder nicht.

Inwieweit geht es in unserer heutigen Demokratie um das Gemeinwohl? Geht es den meisten Parteien nicht eher um die Interessen ihrer Stammwähler?

Natürlich bemühen sich die Parteien, die Interessen ihrer Stammwähler zu bedienen. Aber so klar ist oft gar nicht, wer denn die Stammwähler sind. Die Parteibindungen der Wähler werden bekanntlich schwächer. Und vor allem: Parteien zielen in ihrem Bemühen um Wähler in aller Regel über eine bestimmte, eng umgrenzte Klientel hinaus. Sie müssen das tun, wenn sie politisches Gewicht erlangen wollen. Wenn sie zu offensichtlich nichts anderes als ein Interessenverband sind, bekommt ihnen das selten gut. Parteien müssen glaubhaft machen, dass sie das Wohl des Ganzen, so wie sie es verstehen, mindestens die Belange großer Wählergruppen im Blick haben. Das heißt natürlich nicht, dass sie frei von allen Eigeninteressen, frei von allem machttaktischen Kalkül sich nur dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. Wohl aber bedeutet es, dass Parteien auf die Frage nach dem allgemeinen Nutzen dessen, was sie propagieren, eine Antwort geben können müssen. Denn diese Frage stellt ihnen die Öffentlichkeit hartnäckig. So gesehen lässt sich der Parteienwettbewerb als Wettbewerb unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Antworten auf die Frage nach dem Gemeinwohl beschreiben.

Wie lässt sich der Gemeinwohl-Gedanke in der Politik stärken?

Eine freie, vielstimmige Öffentlichkeit hat Schlüsselbedeutung. Sie bietet am ehesten die Gewähr dafür, dass im politischen Diskurs die Frage nach dem Gemeinwohl nicht verstummt. Öffentlichkeit – das sind die Medien, zivilgesellschaftliche Gruppen, die nicht nur für eigene Interessen kämpfen, die Wissenschaft und so fort. Ein besonderes Interesse gilt neuerdings den Gerichten. Klimaaktivisten versuchen, sich mithilfe der Gerichte gegen die Politik durchzusetzen. Das liefe, zu Ende gedacht, auf die Ersetzung der Demokratie durch einen Richterstaat hinaus. Ob mit mehr Richtermacht auf die Dauer etwas für den Kampf gegen den Klimawandel gewonnen wäre, steht dahin. Schließlich müssen in letzter Instanz doch die Menschen für diesen Kampf gewonnen werden. Und das können Gerichte mit ihren Urteilssprüchen nicht leisten. Die größte Gemeinwohl-Schwäche der Demokratie ist ihre Kurzatmigkeit. Sie denkt nur bis zur nächsten Wahl. Die fernere Zukunft bleibt auf der Strecke. Auf die Frage, wie im Wechselspiel zwischen Parteien und Wählern – beide tragen gleichermaßen Verantwortung für diese Schwäche – die Demokratie zukunftsfähig gemacht werden kann, hat bisher keine Demokratie eine überzeugende Antwort gefunden.

Lässt sich der Gemeinwohl-Gedanke universalisieren, d. h. auf die gesamte Menschheit ausdehnen?

Dass der Gemeinwohl-Gedanke in gewisser Weise universalisiert werden muss, steht außer Frage. Spätestens die kritische Entwicklung des Klimas hat uns bewusst gemacht, dass es ein Menschheitswohl gibt, für das wir alle verantwortlich sind. Diese Einsicht zu stärken, wird uns am ehesten gelingen, wenn wir nicht abstrakt über das Menschheitswohl, sondern konkret über die globalen Herausforderungen sprechen, vor denen wir stehen. Die Notwendigkeit, die globale Erwärmung zu bremsen, steht ganz oben an. Dass die Erderwärmung eine die ganze Menschheit, wenn auch auf unterschiedliche Weise, bedrohende Entwicklung ist und wir dieser Bedrohung nur durch gemeinsames Handeln begegnen können, ist die Einsicht, die politisch wirksam werden muss. Die Rede vom menschheitlichen Gemeinwohl darf freilich nicht vergessen machen, dass es nur die begrenzten, partikularen Gemeinwesen sind, die Staaten, die die meisten Gemeinwohl-Leistungen, auf die wir angewiesen sind, verlässlich erbringen können. Das ist übrigens auch deshalb so, weil die Gemeinwohl-Vorstellungen in wesentlichen Hinsichten kulturell geprägt sind und deshalb von Gemeinwesen zu Gemeinwesen unterschiedlich.

Lässt sich der Gemeinwohl-Gedanke auf unseren gesamten Planeten erweitern?

Die Gemeinwohl-Metapher schließt ja immer den Gedanken ein, dass jemand Verantwortung für das Gemeinwohl trägt. Was kann gemeint sein, wenn wir von unserer Verantwortung für den Planeten sprechen? Doch wohl nur, dass wir Verantwortung für das Leben auf diesem Planeten tragen, auch das nicht-menschliche Leben. Nun kann man argumentieren, dass die Fortdauer des Lebens auf diesem Planeten nicht vom Menschen abhängt. In irgendeiner Form wird es sich, angepasst an veränderte Bedingungen, immer behaupten. Ob das auch für eine nukleare Katastrophe gilt, ist freilich fraglich. Vor allem aber: Wenn wir das menschliche Leben als eingebettet in einen unendlich vielgestaltigen Lebens-Kosmos begreifen, ohne den es nicht denkbar wäre, ist es sinnvoll, uns eine in unserer einzigartigen naturverändernden Macht wurzelnde Mitverantwortung für alles Leben, das wir vorfinden, zuzuschreiben. Von diesem Leben möglichst viel zu bewahren und möglichst wenig zu zerstören, gehört dann zu unseren Aufgaben.

Herr Graf von Kielmansegg, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipp

Peter Graf Kielmansegg
Gemeinwohl und Weltverantwortung
Kröner, September 2022
120 Seiten, 19.90 Euro
978-3-520-90010-4