Delft/Niederlande: dicht, kleinteilig, vielfältig, menschen- statt autogerecht – Foto: Günther Hartmann

Bauen & Verkehr

Gehen, radeln und genießen

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Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Kommunalentwicklung? Und was kann diese von der Pandemie lernen? Mit diesen Fragen beschäftigten sich zwei Journalistinnen intensiv. In ihrem Buch „Die Stadt nach Corona“ geben 14 Architekten und Stadtplaner teils recht konträre Antworten.

von Günther Hartmann

 

Vor einem Jahrhundert war „Hygiene“ ein zentrales Schlagwort, um die Prinzipien des modernen Städtebaus zu begründen und durchzusetzen. Je höher die Bebauungs- und Bevölkerungsdichte, desto leichter können sich Seuchen ausbreiten – so lautete die Kritik am traditionellen Städtebau. Als neues Leitbild wurde die aufgelockerte, funktionsgetrennte und autogerechte Stadt propagiert – und nach dem Zweiten Weltkrieg im großen Stil realisiert.

Heute bedeuten in Europa hohe Dichten keine Seuchengefahr mehr. Die Corona-Pandemie breitete sich vor allem wegen unserer hohen Mobilität so schnell aus. Geringe Dichten sind aus ökologischer Sicht schlecht: Sie erhöhen den Pro-Kopf-Flächenverbrauch und den Autoverkehr – und verhindern einen attraktiven öffentlichen Verkehr. Dichte und Mischung werden deshalb in der „Leipzig-Charta“ als zentrale Prinzipien einer Gemeinwohl-orientierten Stadtentwicklung genannt.

Die Corona-Pandemie stellte dies jedoch infrage. Homeoffice und Videokonferenzen waren plötzlich etabliert. Die Wohnungen waren während des Lockdowns voll – und wurden oft auf Dauer als schwer erträglich empfunden. Das Wohnumfeld auch.

Raus aufs Land?

In ihrem Essay „Stadtmüde“ diagnostiziert Doris Kleilein eine neue Wertschätzung für den ländlichen Raum. Denn dort gibt es: mehr Platz für weniger Geld, mehr Grün, mehr Freiraum. Als während der Corona-Pandemie ein Drittel aller Angestellten zeitweise im Homeoffice arbeiteten, wurde vielen klar: Sie müssen nicht in der Nähe ihres Arbeitsplatzes wohnen, sondern können ihren Job aufs Land mitnehmen und ihn größtenteils von dort aus erledigen. Voraussetzung dafür ist nur ein schnelles Internet.

Doch wohin können sie ziehen? Soll wieder im großen Stil neues Bauland ausgewiesen werden, um darauf Einfamilienhäuser zu errichten? „Das gemeinschaftliche Wohnen und Arbeiten im Bestand könnte den sozial und ökologisch verträglichen Weg in ein neues Landleben weisen“, meint Kleilein. „Waren Baugruppen und neu gegründete Genossenschaften bislang vorwiegend ein urbanes Phänomen, werden jetzt auch große Liegenschaften fernab der Ballungszentren attraktiv: sanierungsbedürftige Höfe und Gutshäuser, stillgelegte Industrieanlagen, aufgelassene Militär- und Bahngelände.“

Neue Wohnflächen durch Umnutzung und Umbau leerstehender Bestandsbauten – aus ökologischer Sicht sehr begrüßenswert, denn neu zu bauen, bedeutet immer einen enormen Energie-, Rohstoff- und Bodenflächenverbrauch. Doch wie sieht es mit der Mobilität aus? Auto? Dieses Thema blendet Kleilein aus. Nur an einer Stelle erwähnt sie kurz, dass die gemeinschaftlichen Projekte „idealerweise mit Bahnanschluss in der Nähe“ entstehen. Der Frage, wie viele leere Bestandsbauten in Bahnhofsnähe es denn gibt, geht sie nicht nach.

Stattdessen preist sie die Vorteile ländlicher Regionen: „Handlungsspielräume, die in der Großstadt mühsam durch Bürgerinitiativen erkämpft werden müssen, bekommt man in kleineren Orten quasi auf dem Silbertablett serviert.“ Kleileins Prognose: „Bleibt die Möglichkeit des Homeoffice nach dem Ende der Pandemie für Millionen Menschen erhalten und schaffen es Großstädte nicht schnell genug, mit bezahlbarem und flexiblem Wohnungsbau darauf zu reagieren, könnte das Landleben in nicht allzu ferner Zukunft anders aussehen.“

Stadtumbau?

Der Stadtplaner David Sim beurteilt in seinem Essay „Die Soft City in harten Zeiten“ die Situation anders: „Ich glaube nicht, dass die Corona-Pandemie das Ende des städtischen Lebens, wie wir es kennen, einläutet. Ich vermute sogar das Gegenteil. Auf mannigfaltige Weise hat die Pandemie die Vorteile des Lebens in Städten wieder bewusst gemacht und ihren Wert gestärkt, zumindest dann, wenn sie ‚sanfte‘ Städte sind.“

Mit „sanft“ meint Sim eine menschen- statt autogerechte Stadt. Hohe Dichten und kleinteilige Vielfalt sind für ihn wichtige Faktoren für attraktive Stadtteile mit lebendigen Nachbarschaften: „Im eigenen Viertel bleiben zu können, hat sich als Luxus entpuppt, und ich glaube, dass diese Erkenntnis die weltweite Faszination der viel gerühmten 15-Minuten-Stadt erklärt. Bei dem Vorteil physischer Nähe geht es nicht nur um den Raum. Es geht genauso um das Geschenk von Zeit.“

15-Minuten-Stadt bedeutet: Überall sollen Läden, Arztpraxen, Parks, Sportstätten, Schulen, Kitas und sonstige Einrichtungen des täglichen Bedarfs innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder per Fahrrad erreichbar sein. Es geht jedoch nicht nur um kürzere Wegstrecken, sondern auch um höhere Lebensqualität. Dabei muss kaum etwas Neues erfunden, sondern das aufgegriffen werden, was gut funktioniert und beliebt ist. „Hyperlokales Leben entsteht durch scheinbar banale Details“ betont Sim: großzügige Gehsteige, Bäume und ein großes Angebot an kleinen Läden, Cafés und Restaurants.

„Wenn die Bäckerei um die Ecke ist, kann man in drei, vier Minuten frisches Brot kaufen. Wenn die Straße voller Läden und gut aufgestellter Bänke ist, dann kann es ein Vergnügen sein, auf den Bus zu warten“, führt Sim aus. „Das Warten kann leicht zu einer spontanen Kaffeepause werden, eine sonnige Unterbrechung bieten oder ein freundliches Gespräch anregen. Auf diese Art können kostbare Minuten zu genüsslichen Momenten werden.“

Auch die Gebäude müssen sensibel gestaltet werden: „Oft ist es etwas ganz Banales wie die Lage eines Fensters oder die Setzung einer Tür, die Erschließung der Wohnungen über ein gemeinsames Treppenhaus oder das Vorhandensein eines Balkons. Diese einfachen Phänomene können spontane Einladungen oder zufällige Treffen in der Nachbarschaft ermöglichen und fördern.“

Vor den Gebäuden sollen attraktive Straßen und Plätze zum Gehen und Radfahren einladen – die preiswertesten, saubersten, energie- und platzsparendsten Fortbewegungsarten. Sie erlauben individuelle Geschwindigkeiten und Routen, können immer wieder ein Erlebnis sein – und sind gesund.

Eine attraktive Stadt ist bezahlbar, betont Sim: „Balkone und Gärten hinter dem Haus, Treppen und Straßenbäume, größere gepflasterte Flächen und Radwege sind einfache, günstige Lowtech-Lösungen für die komplexen Herausforderungen des städtischen Lebens. Es fällt auf, dass viele urbane Phänomene, die uns besser vernetzte Lebensweisen ermöglichen in den schwierigen Pandemie-Zeiten, nicht zwangsläufig teuer und kompliziert sind oder einen hohen Energieverbrauch bedeuten.“

 


Buchtipps

Doris Kleilein, Friederike Meyer (Hrsg.)
Die Stadt nach Corona
Jovis, Oktober 2021
192 Seiten, 24.00 Euro
978-3-86859-671-7

David Sim
Sanfte Stadt
Planungsideen für den urbanen Alltag
Jovis, Oktober 2022
256 Seiten, 42.00 Euro
978-3-86859-747-9


Onlinetipps

Baunetzwoche #607
Zauberformel Resilienz
Neue Ansätze in der Stadtentwicklung
20.10.2022
www.t1p.de/fagdv

Informelles Ministertreffen Stadtentwicklung
Neue Leipzig-Charta 2020
Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl
30.11.2020
www.t1p.de/z7t7v


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