Der wahre Wohlstand liegt in den menschlichen und natürlichen Ressourcen, im Miteinander, nicht im Gegeneinander. – Foto: geralt/pixabay.com

Wirtschaft & Soziales

„Wir müssen Wachstum neu definieren“

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Für einen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel und für ein neues System zur Bewertung wirtschaftlichen Erfolgs plädiert diese US-amerikanische Kulturhistorikerin. – Interview Nr. 2 in einer Reihe von 8 Interviews mit jeweils identischen Fragen.

Interview mit Prof. Dr. Riane Eisler

 

ÖkologiePolitik: Frau Professor Eisler, warum gilt in der Wirtschaftspolitik Wachstum als primäres Ziel?

Prof. Dr. Riane Eisler: Das liegt an der historischen Entwicklung unserer Wirtschaftstheorien. In der Zeit ihrer Entstehung wurden grundlegende Faktoren wie die natürlichen Ressourcen oder die vornehmlich von Frauen geleistete Fürsorgearbeit in der Wirtschaftsbetrachtung völlig ausgeblendet, weil sie für selbstverständlich und kostenfrei erachtet wurden. So wurde eine BIP-Steigerung zur Kennzahl für eine „gesunde“ Wirtschaft. Doch das ist nicht logisch, sondern pathologisch. Wir müssen „Wachstum“ neu bewerten und neu definieren. Nach der aktuellen Definition werden auch lebensschädigende und lebensgefährdende Aktivitäten wie z. B. die Produktion von Zigaretten oder ungesunden Nahrungsmitteln, die daraus resultierenden medizinischen Ausgaben und die Bestattungskosten als Plus für das BIP gewertet. Gleiches gilt auch für die Kosten, die bei einem Tankerunglück entstehen. Die Liste ließe sich immer weiter fortsetzen. Immer werden die Gewinne aus diesen Aktivitäten dem BIP zugerechnet und die Kosten dafür externalisiert.

Welche sozialen Folgen hat es, wenn die Wirtschaft nicht wächst oder gar schrumpft?

Was wir heute als Wachstum bezeichnen, ist völlig realitätsfern. Während der Covid-19-Pandemie stiegen in den USA Aktienkurse und BIP, gleichzeitig grassierte Arbeitslosigkeit, Familien verloren ihr Zuhause und Kinder hungerten. Wir müssen diese sinnfreie Wachstumsdefinition hinter uns lassen und uns darauf konzentrieren, wie es den Menschen in ihrem Alltag geht. Um wirklich etwas über die Auswirkungen von Wirtschaftswachstum sagen zu können, benötigen wir neue Kennzahlen wie z. B. die „Social Wealth Economic Indicators“ und den „Social Wealth Index“, die in „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie“ vorgestellt werden und die das erfassen, was wirklich zählt.

Bedeutet Wirtschaftswachstum zwangsläufig auch ein Wachsen des Rohstoff- und Energieverbrauchs und damit der Umweltzerstörung?

Wirtschaftswachstum muss nicht gleichbedeutend mit Umweltzerstörung sein. Das Problem ist, dass sowohl Adam Smith als auch Karl Marx davon ausgingen, dass die Natur dazu da sei, ausgebeutet und beherrscht zu werden. Die Umweltzerstörung resultiert aus dieser Geisteshaltung und ist keine zwangsläufige Folge einer prosperierenden Wirtschaft.

Wie müsste eine Wirtschaftsordnung aussehen, die das Ziel „Nachhaltigkeit“ ernsthaft verfolgt und erreichen kann?

Wie Einstein sagte, können wir Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen, mit der sie geschaffen wurden. Die dominanzgeprägte Geisteshaltung hat uns ein Wertesystem mit auf den Weg gegeben, welches Frauen und Männer bzw. das, was in dominanzgeprägten Kulturen stereotypisch mit ihnen assoziiert wird, mit zweierlei Maß misst. Was als männlich gilt – wie z. B. Eroberung, Dominanz und Gewalt – wird in diesem System höher bewertet als das, was als weiblich gilt – wie z. B. Fürsorglichkeit und Friedfertigkeit. Ich möchte betonen, dass es dabei nicht wirklich um Männer und Frauen geht, sondern darum, was stereotypisch mit ihnen verbunden und heutzutage glücklicherweise immer mehr infrage gestellt wird. Heute gibt es immer mehr Frauen in Berufen und Führungspositionen, die früher exklusiv Männern vorbehalten waren – und immer mehr Männer verrichten auch „Frauenarbeit“, wechseln Windeln oder füttern Babys. Aufgrund des Gender-Doppelstandards werden diese Männer jedoch oft noch belächelt und als „weibisch“ bezeichnet – und Frauen als „unweiblich“, wenn sie selbstbewusst auftreten. Außerdem ist es uns gesellschafts- und wirtschaftspolitisch noch nicht gelungen, angemessene Investitionen in „Frauenarbeit“ wie Kinderbetreuung und -erziehung zu tätigen. Da in unserer postindustriellen Gesellschaft das wichtigste Kapital in „hochwertigem Humankapital“ besteht, müssen wir den Gender-Doppelstandard als größtes Hindernis zu wirtschaftlichem Erfolg betrachten: Wir brauchen flexible, kreative und resiliente Menschen, die teamfähig sind und mit rasanten Veränderungen Schritt halten können. Aus der Neurowissenschaft wissen wir, dass es von der Qualität der Fürsorge und Erziehung in der Kindheit abhängt, ob Menschen diese Eigenschaften entwickeln – besonders von der Zeit zwischen der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr, in der sich 80 % unseres Gehirns ausbilden. Dazu bedarf es einer „Caring Economy des Partnerismus“, die bewährte Elemente aus Sozialismus und Kapitalismus beinhaltet, aber erkennt, dass der wahre Wohlstand der Nationen und der Welt nicht finanzieller Art ist, sondern in den menschlichen und natürlichen Ressourcen besteht. Aus diesem Grund setzen Politik und Praxis in einer „Caring Economy des Partnerismus“ die Fürsorge für die Menschen ab der Geburt und den Schutz unserer Mitwelt an erste Stelle. Um eine solche Wirtschaftsordnung zu erreichen, sind vier Schritte notwendig:
(1) Wir müssen die Fürsorge für Menschen von Geburt an sowie den Schutz unserer Mitwelt sichtbar machen und ihnen echten Wert beimessen.
(2) Wir müssen erkennen, dass eine Wirtschaftsordnung immer in einen sozialen Kontext eingebettet ist und es eine grundlegende Rolle spielt, ob dieser dominanzgeprägt oder partnerschaftlich ist.
(3) Wir müssen die alten Vorstellungen als falsch entlarven, nach denen eine Politik und eine Praxis der Fürsorge wirtschaftlich ineffizient sind.
(4) Wir brauchen neue Wirtschaftskennzahlen, um ein realitätsnäheres und effektiveres Wirtschaften zu ermöglichen.
Das heutige BIP misst auch Aktivitäten, die lebensschädigend oder gar lebensgefährdend sind, und verwandelt damit tatsächliche Verluste in rechnerische Gewinne. Und es unterschlägt die natürlichen Ressourcen, den Non-Profit-Bereich und die Privathaushalte. Dabei zeigt z. B. eine australische Studie, dass die unbezahlte, in Privathaushalten geleistete Fürsorgearbeit 50 % des BIP ausmachen würde – wenn sie denn erfasst würde. Aus diesem Grund hat das „Center for Partnership Studies“ die „Social Wealth Economic Indicators“ entwickelt. 24 solcher Indikatoren bilden den „Social Wealth Index“. Das gibt den politischen Entscheidungsträgern und uns allen die fehlenden Informationen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung.

Wie sinnvoll sind die aufgrund der Corona-Pandemie initiierten Rettungsfonds und Konjunkturprogramme?

Zum Teil wurden Unternehmen und auch Menschen unterstützt, die viel zu viel wirtschaftliche Macht bei sich konzentrieren. Das wäre nicht notwendig gewesen. Wir müssen daraus lernen, dass Regierungspolitik auf umfassenden Informationen beruht und eher auf Fürsorge und Partnerschaftlichkeit als auf Kontrolle und Dominanz beruhen sollte.

Birgt die Staatsverschuldung Gefahren?

Die Pandemie macht eine öffentliche Verschuldung unausweichlich. Die Frage ist nicht, ob wir uns verschulden, sondern wofür und für wen. Wir können nicht zum „alten Normal“ zurückkehren, sondern müssen die Chance ergreifen, ein besseres Normal zu schaffen. Und dazu gehört eine „Caring Economy des Partnerismus“. Rücksichtslose Politik und Praxis dürfen nicht länger belohnt, sondern müssen vielmehr durch hohe Steuern eingedämmt werden – was auch enorm zur Staatsentschuldung beitragen könnte. Wen uns dies nicht gelingt, können wir nicht auf eine bessere Zukunft oder überhaupt eine Zukunft für uns, unsere Kinder und kommende Generationen hoffen.

Frau Prof. Eisler, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Das Interview führte und übersetzte Ulrike Brandhorst, die auch Riane Eislers neues Buch „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie“ ins Deutsche übersetzte.

 


Buchtipp

Riane Eisler
Die verkannten Grundlagen der Ökonomie
Wege zu einer Caring Economy
Büchner, Oktober 2020
234 Seiten, 22.00 Euro
978-3-96317-215-1