Der Erfolg von Donald Trump beruht vor allem darauf, dass er die Wut von Milieus nutzte, deren Interessen von der Politik missachtet wurden. – Grafik: BarBus/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

Warum Trump erfolgreicher war als angenommen

Diesen Beitrag teilen

Erwartet wurde ein erdrutschartiger Sieg der Demokratischen Partei und Joe Bidens, doch es dauerte dann mehrere Tage, bis klar war, dass Donald Trump die US-amerikanische Präsidentschaftswahl verloren hatte. Trump hat sogar mehr Stimmen erhalten als 2016 – vor allem von Latinos, Schwarzen und weißen Frauen. Wie kann das sein?

Interview mit Andreas Herteux

 

ÖkologiePolitik: Herr Herteux, wie konnten die vielen Journalisten und Demoskopen, die mit einem klaren Sieg Joe Bidens rechneten, so falsch liegen?

Andreas Herteux: Wahlprognosen haben sich im 21. Jahrhundert oft als unscharf erwiesen. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Einer der Hauptgründe liegt wohl darin, dass das Prinzip des Milieukampfes noch keine Rolle spielt.

Was ist unter einem Milieukampf zu verstehen?

Die „Gesellschaft“ gibt es nicht. Vielmehr besteht sie im 21. Jahrhundert aus vielen verschiedenen Milieus, die jeweils ganz eigene Weltansichten, Handlungsmuster und Einstellungen haben. Dass diese nicht immer zusammenpassen oder sogar konkurrieren, ist logisch. Milieukampf bedeutet daher, dass sich zwischen den Lebenswirklichkeiten, den Milieus einer Gesellschaft Konflikte ergeben, die aktiv oder passiv ausgetragen werden. Es handelt sich in den USA nicht um zwei Gruppen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, sondern um viele Lebenswirklichkeiten, die alle ihre ureigenen Interessen verfolgen.

Ist die Existenz verschiedener Milieus wirklich ein neues Phänomen? Gab es die nicht schon immer in jeder Gesellschaft?

Das ist tatsächlich kein neues Phänomen, bemerkenswert ist aber die Geschwindigkeit der Veränderungen. Nehmen wir beispielsweise die 1960er-Jahre in Westdeutschland. Dort unterschied man vier zentrale Lebenswirklichkeiten: das konservativ-protestantische, das liberal-protestantische, das sozial-demokratische und das katholische Milieu. Das änderte sich mit den Jahrzehnten, allerdings auf eine überschaubare Art und Weise, die viele Menschen mitnehmen konnte. Was allerdings nicht bedeutete, dass ihnen jede Entwicklung gefiel. Aber die Veränderung war noch emotional und denklogisch nachvollziehbar – und übersichtlich. Zudem war sie politisch abbildbar. Seit einigen Jahren ist aber eine Dynamisierung zu beobachten. Es gibt auf der einen Seite einen beschleunigten Individualisierungsprozess, der primär durch den Verhaltenskapitalismus und die moderne Reizgesellschaft angetrieben wird. Wir können hier teilweise bereits von einem neuen Typus Mensch sprechen: dem Homo stimulus. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass der Mensch durch neue technologische Möglichkeiten immer mehr in seine eigene Wirklichkeit eingebettet wird. Und dass er das oft auch will und fordert. Der Einzelne wird so zum König seiner eigenen Welt.  Das prallt dann andererseits massiv auf eine Gesellschaft, die durch den Zeitenwandel sowieso schon erodiert, und trägt zur Zersplitterung und den Milieukämpfen zusätzlich bei.

Zurück zum US-Wahlkampf: Welche Milieus unterstützten Trump?

2016 hatte Trump deutliche Vorteile beim modernen Mainstream, den Konsum-Materialisten, den Traditionalisten und dem alten Establishment. Es ist ein natürlicher Reflex, diese Gruppen nun als tendenziell Konservative zusammenzufassen, aber gefährlich, weil jede Lebenswirklichkeit eine eigene Motivation, Identität und Denkweise besitzt, die separat beachtet werden muss, um sie dauerhaft zu gewinnen. Zudem gab es auch beachtenswerte Wahlerfolge bei den modernen Leistungsträgern der amerikanischen Gesellschaft, die gar nicht mehr in das klassische Schema passen wollen.

Die eben genannten Milieus erinnern stark an die sogenannten „Sinus-Milieus“ in der deutschen Konsumforschung. Gibt es Unterschiede zwischen Deutschland und den USA?

Vom Grundsatz her sind die Milieu-Strukturen in entwickelten Ländern vergleichbar. Das zeigen auch die internationalen Studien des Sinus-Institutes. Auch der Zerfall erfolgt in ähnlichen Mustern. Unterschiede gibt es aber natürlich in einzelnen Ausprägungen. Beispielsweise existieren in beiden Ländern „Traditionelle“, allerdings können sich die im Detail dann doch unterscheiden: Waffenbesitz ist in Deutschland kein geschichtliches Vermächtnis, in den USA aber noch immer.

Wie konnte Trump diese unterschiedlichen Milieus für sich gewinnen?

Trump hat sie nicht im klassischen Sinne umworben, sondern bestehende Milieukonflikte genutzt. Die entstehen, wenn die Bedürfnisse der Milieubildenden teilweise oder gänzlich unerfüllt bleiben bzw. das Selbstverständnis der Lebenswirklichkeit attackiert wird. Je nachdem, welche Macht eine Lebenswirklichkeit hat, wird sich das – stark vereinfacht – entweder aufstauen oder in politischem Aktionismus äußern. Die Intellektuellen, die überwiegend demokratisch wählen, finden in der Regel für ihre Positionen Gehör und bringen sie auch in die Medien. Die Traditionalisten nicht. Sie haben keine Stimme und nur begrenzten Einfluss. Ihnen bleibt die Faust in der Tasche. Trump ist es gelungen, die Konflikte einzelner Milieus sich entladen zu lassen und das für sich zu nutzen. Eine homogene Masse ist das allerdings nicht, auch, wenn es Überschneidungen gibt. Folglich gab es auch den großen Aufstand der Trump-Anhänger nicht, den manche Beobachter befürchtet haben. Es gibt auch keine Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, sondern eine Zersplitterung.

2020 das gleiche Spiel wie 2016?

Nein, denn der Entladungsvorgang hat sich über die ganze Amtsperiode gezogen. Es ist auch möglich, dass die Analysen nach der Wahl 2020 zeigen werden, dass es innerhalb der Lebenswirklichkeiten Verschiebungen gegeben hat. Beispielsweise wäre es denkbar, dass das sensationsorientierte Milieu, das 2016 noch in großen Teilen demokratisch wählte, einen Schwenk vornahm. Ihre Wahrkriterien sind sehr von der Neigung zu Hedonismus und Unterhaltung mitgeprägt. Ob Trump – sehr salopp ausgedrückt – unterhaltsam genug war, um hier eine Mehrheit erhalten zu haben, werden aber spätere Untersuchungen zeigen. Es gab völlig unterschiedliche Gründe für die Wahl Trumps. Die Freude am Spektakel spielt in den Medien selten eine Rolle, für diese Lebenswirklichkeit ist sie aber fundamental.

Sind die Sensationsorientierten wirklich ein eigenes Milieu? Ist diese Eigenschaft nicht individuell und milieuübergreifend?

Die Frage, welche Milieus tatsächlich aktuell sind, ist eine interessante Frage, da die erhobenen Daten immer ein paar Jahre hinterherhinken. Vermutlich ist die Erosion weitaus fortgeschrittener als angenommen. Was das konkrete Milieu betrifft, so ist die hedonistische Lebensweise dadurch definiert, dass eine spaß- und erlebnisorientierte Unterschicht bzw. untere Mittelschicht im Hier und Jetzt leben und aus allen Zwängen des Alltags ausbrechen will – und das mitunter als wichtigsten Wert betrachtet. Es ist daher nicht nur eine Eigenschaft, sondern das Zentrum des Denkens und Handelns. Dass es Schnittmengen gibt, ist dabei verständlich, denn eine Lebenswirklichkeit ist kein Gefängnis. Hinzu kommt, dass sich die Milieus durch den Druck von Zeitenwandel und Individualisierung weiter sehr schnell verändern. Dass allerdings genau dieses Milieu im gewissen Sinne unverstanden ist, verwundert nicht. Denken wir an die Ausschreitungen in Stuttgart im Jahr 2020 zurück: Die öffentlichen Behauptungen, dass die Täter eben jenem hedonistischen Milieu zuzuordnen sind, wurde mit großer Befremdung wahrgenommen, da die Schwerpunktsetzung dieser Lebenswirklichkeit gar nicht so richtig zu der anderer passen will.

In den Wahlanalysen wird berichtet, dass Trump bei Latinos, Schwarzen und weißen Frauen erfolgreicher war als 2016. Wie ist das zu erklären?

Bleiben wir kurz bei dem letzten Gedanken, denn er leitet hier ganz interessant über: Als es die Ausschreitungen in Stuttgart gab, wollten einige politische Beobachter den Schwerpunkt auf den Migrationshintergrund mancher Tatverdächtiger legen. Das klang in den einen oder anderen Ohren weitaus logischer als Krawalle der Spaßgesellschaft, ist aber eine Reduzierung auf eine Eigenschaft, die für den konkreten Fall eine untergeordnete Rolle spielte. Analog geschieht das auch in den USA: Die Minderheiten werden auf ihren Minderheitenstatus verkleinert und damit indirekt zur homogenen Masse gemacht. Dieser Status hat sicher seine Bedeutung, aber, dass diese Menschen darüber hinaus individuelle und milieuspezifische Interessen haben könnten, die weitaus wichtiger für sie sind, wird in der Analyse dann zu oft übersehen. Doch obwohl Trump bei diesen Gruppen zugelegt hat, war er natürlich trotzdem immer noch meilenweit davon entfernt, dort auch nur im Ansatz Mehrheiten zu generieren.

Zurück nach Deutschland: Wie muss man hier eine Politik „verkaufen“, die Umweltprobleme und Nachhaltigkeit ins Zentrum stellt?

Grundsätzlich ist es für jede Partei wichtig zu verstehen, dass wir ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte erreicht haben: das des kollektiven Individualismus. Verhaltenskapitalismus, moderne Reizgesellschaft, Homo stimulus, Zeitenwandel, moderne Identifikationsdissonanz, Milieuzerfall und Milieukämpfe werden eine zentrale Rolle einnehmen. Auf diese veränderten Strukturen gilt es, sich einzustellen. Sie bedingen aber zugleich neue Wege der Ansprache sowie die Akzeptanz, dass einst allgemein akzeptierte Wahrheiten, Begriffe und Selbstverständlichkeiten, bei mancher Zielgruppe eine völlige Unbekannte sind oder hinterfragt werden können. Die Ökologie selbst hat in der Vor-Corona-Zeit aufgrund einer solchen neuen Form der Ansprache durch „Fridays for Future“ einen massiven Aufschwung erlebt, der zudem medial wohlwollend begleitet wurde. Ob sie noch einmal eine zentrale Rolle für die kommende Bundestagswahl 2021 spielen wird, oder ob sich andere Themen in den Vordergrund drängen werden, hängt am Ende von der Entwicklung der Pandemie und deren Folgen ab.

Gibt es für eine Kleinpartei wie die ÖDP etwas zu beachten?

Tiefere Vernetzung ist ein wichtiger Aspekt, denn der Einfluss von neuen, schnell wachsenden Organisationen und NGOs ist in den letzten Jahren massiv gestiegen. Personelle Erweiterung ist ein anderer Aspekt. Bei mancher Partei gibt es konkrete Überlegungen, Aktivsten wie „Fridays for Future“ direkt anzusprechen und sie für sich zu gewinnen. Wichtig wäre es, dass sich Aktionen wie das erfolgreiche Starten von Volksbegehren auch in den abgegebenen Wählerstimmen niederschlagen. Es gilt, eine aktive, d.h. auch mediale Führungsrolle während dieser Prozesse einzunehmen und entsprechende „Köpfe“ zu platzieren. Zudem sollte eine Kleinpartei offen für neue Ideen und Konzepte sein, um nicht in den Schatten anderer Spieler am politischen Markt zu verschwinden. Anders ausgedrückt: die Größe durch Innovation wettmachen. Wir von der Erich-von-Werner-Gesellschaft haben ein Konzept für einen Wertekapitalismus entwickelt, mit dem Werte zum Produktionsfaktor werden und so der Kapitalismus gezügelt werden könnte. Das wäre ein Beispiel für ein noch relativ junges Konzept, dessen Durchdringung noch bevorsteht, das aber entsprechende Aufmerksamkeit und ein temporäres Alleinstellungsmerkmal generieren könnte.

Herr Herteux, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Onlinetipps

Andreas Herteux
www.andreasherteux.com

Erich von Werner Gesellschaft
www.understandandchange.com

 


Buchtipp

Andreas Herteux
Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert
Neue Erklärungsansätze zum Verständnis eines komplexen Zeitalters
Erich von Werner, August 2020
294 Seiten, 22.00 Euro
978-3-948621-16-2