Gesundheit

Ignoranz und fehlende Aufklärung

Diesen Beitrag teilen

Immer mehr Menschen leiden unter einer „Entgiftungsschwäche“. Ihr Organismus ist den unzähligen zivilisationsbedingten  Schadstoffen, die täglich auf ihn einwirken, nicht mehr gewachsen. Diese „Multiple Chemikaliensensitivität“ (MCS)  genannte Krankheit kann ins körperliche Elend sowie ins gesellschaftliche und soziale Abseits führen.

Felicitas G.s Auto hat über 200.000 km hinter sich und stammt noch aus dem letzten Jahrtausend. Trotz der hohen Reparaturkosten wird es immer wieder aufgepeppt. Doch mit einem Faible für angehende Oldtimer hat das nichts zu tun. Felicitas G. findet keinen geeigneten Wagen, in dem sie sitzen kann, ohne dass ihr schwindelig wird und sich die Lippen pelzig anfühlen.

Das Auto ist nur der Anfang einer Endlosreihe von Hürden im Alltag, mit denen chemikalienintolerante Menschen sich herumschlagen. Böden und Wände von Innenräumen können bei ihnen Beschwerden hervorrufen. Es muss nicht gleich das hochgiftige und längst verbotene PCB sein, das sogar in Schulen noch herumgeistert. Auch moderne Linoleumböden stehen im Verdacht, bei manchen unter anderem Atemnot, Konzentrationsstörungen, Gelenkschmerzen, Aufputschung, Schlaflosigkeit und öfters eine schleichend zunehmende, schwer lastende Erschöpfung auszulösen. Das kann auch für andere Bodenbelagsarten und das verwendete Kleber- und Fugenmaterial gelten.

„Des einen Freud ist des anderen Leid“ – das gemütliche Teelicht und sonstiges Kerzenlicht sorgen bei vielen, auch bei Domenica Q., eher für Leid. Ihr trug sogar der Verzehr einer einzigen, wohl pestizidhaltigen Gelben Rübe einen Fieberschub mit 40 °C ein, ebenso der Versuch, Nylonstrümpfe zu tragen. Auf einen Augenarztbesuch folgten ein wochenlanges Brennen in Nase und Magen wie Feuer, kaum mögliche Nahrungsaufnahme und Schmerzen am ganzen Körper, mit denen sie sich im Bett wälzte. Ihr Umweltmediziner kannte das von anderen Patienten: Sie alle hatten Pupillen erweiternde Tropfen mit Konservierungsmittel bekommen.

Wenig Wissen bei Ärzten, wenig Hilfe bei Behörden

Diese mehr oder weniger drastischen Beispiele zeigen den schwierigen Lebens- und oft Überlebenskampf der Menschen, die an Multipler Chemikaliensensitivität (MCS) erkrankt sind. Von offiziellen Stellen wird auf derartige umweltassoziierte Erkrankungen wenig Augenmerk gelegt. Auch wissen nur wenige Ärzte über das Krankheitsbild MCS mit seinen klar definierten Diagnosekriterien Bescheid. Dieses ist in der ICD-10-GM, der aktuellen gesetzlichen Krankheitsklassifikation, unter T78.4 im Kapitel XIX „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen“ eingeordnet.

Entgegen der Gesetzeslage werden aber de facto in unserem Gesundheits-, Sozial- und letztlich auch Wirtschaftssystem Schadstoffe und ihre Gemische als maßgebliche „äußere Ursachen“ oftmals kaum anerkannt, stattdessen wird lieber einseitig die psychosomatische Schiene gefahren. Damit verschieben sich die Grade der Behinderung, die Prozentpunkte für Erwerbsunfähigkeit und die Ausrichtung der Therapiekonzepte. Und es schwindet vor allem die Chance auf Besserung und berufliche und soziale Wiederteilhabe.

Wegen der geringen offiziellen Rückendeckung stoßen MCS-Kranke fast nur unter einigen Angehörigen und Freunden auf Verständnis. Sie ecken mit ihrer seltsamen, für andere kaum nachvollziehbaren Überempfindlichkeit allerorts an und müssen sich ständig deswegen rechtfertigen.

Teufelskreis einer biochemischen Fehlsteuerung

Wenn aber, oft aus medizinischer Unkenntnis, primär psychologisch vorgegangen wird, reicht das nicht aus, um den aufgrund toxischer Einflüsse angestoßenen Teufelskreis einer sich selbst verstärkenden biochemischen Fehlsteuerung zu stoppen und umzukehren. Denn bei MCS wird der gesamte Haushalt des Körpers organübergreifend zu stark belastet und dadurch gestört. Die körperfremden Schadstoffe greifen in die eng miteinander verflochtenen Regelkreise des Nerven-, Hormon- und Immunsystems ein. Dadurch kommt es zu zellulärem Energieverlust, Stoffwechselentgleisung und Zellschädigung, die durch sonstigen Stress noch mitbedingt sein und verstärkt werden können. Auch individuelle genetische Ausprägungen der Entgiftungssysteme spielen eine Rolle.

Oft dauert die „Sensibilisierung“ mehrere Jahre, z. B. aufgrund von schleichend sich auswirkendem Zahnamalgam oder Pestiziden; manchmal wird auch ein akutes Ereignis dafür verantwortlich gemacht. Meist durch einen auslösenden Trigger kommt es dann zur ausgeprägten „Sensibilität“. Die körperliche Intoleranz gegenüber toxischen Einflüssen weitet sich auf immer mehr Substanzen und Produkte aus, und zwar in immer geringerer und die statistischen Grenzwerte unterlaufender Konzentration.

Die wachsende Empfindlichkeit bei MCS kennt nicht einmal auf dem Terrain von Hygiene und Kosmetik ein Pardon. Die Betroffenen erleben höchst unfreiwillig ein Feedback ihres Körpers auf Deos, Parfüms oder Heilsalben, die sie bisher problemlos verwendet hatten. Mehr als nur peinlich wird es, wenn neben der freundlichen Begrüßung im Büro das morgendliche Aftershave, Haarspray oder die Augencreme von Kollegen mitgrüßen und eine bleierne Schwere, unsicheren Gang und geschwollene Hände hervorrufen. Genauso können die kosmetischen Zutaten der Mitmenschen eine ungewohnte Sehstörung, Kopfweh, Konzentrationsausfall, Stottern, krampfhaft flatternde Zunge und Ähnliches bescheren. Ein vielleicht originell anmutender zwischenmenschlicher Krisenfall tritt ein. Denn es prallen zwei Grundrechte aufeinander: auf (duftchemische) freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf (biochemisch) körperliche Unversehrtheit.

„Strikt vermeiden!“ statt „Augen zu und durch!“

Gwendolyn A., einst versierte Bürokauffrau in München, notiert: „Ich liebte es, mit herkömmlichen Duschgels und Körperlotionen sowie Deos und Parfüms gut zu riechen. Meine Wäsche duftete stets nach Weichspüler und die Wohnung war für mich nur sauber, wenn sie nach Putzmitteln roch. Jahrzehntelang machte mir das alles nichts aus.“ Bei Gwendolyn A. zeigten sich auffällige Reaktionen erstmals nach ihrem Umzug in eine soeben renovierte Wohnung, die sie mit neuen Möbeln eingerichtet hatte. Damals wusste sie noch nichts von MCS und dass die wichtigste Richtschnur hier nicht „Augen zu und durch!“ lautet, sondern: „Strikt vermeiden!“

In ihrem neuen Domizil harrte sie fünf Wochen aus, bis immer heftigeres Herzrasen und Erstickungsanfälle sie zwangen, Hals über Kopf wieder auszuziehen. Seitdem reagiert Gwendolyn A. auf alles und jedes. Auf die Autoabgase der Großstadt und die Gülle und Pestizide auf dem Land, auf die weichgespülte Wäsche vom Nachbarbalkon und die Turnmatten beim Sport. Schmerzende Augen, Schluckstörungen und Taubheitsgefühle sind zu den früheren Symptomen hinzugekommen. Computer und Telefon verursachen bei ihr, wohl wegen Strahlen und Flammschutzmitteln, schnell einen steifen Hals und torpedieren Denken und Konzentration. Ähnlich Betroffene können sich dann nur gliederpuppenartig, wie automatisiert bewegen oder leiden unter Haarausfall.

Vom Wesen her munter und gesellig, musste die fleißig sportelnde und beruflich engagierte Gwendolyn A. alles aufgeben, auch den geliebten Arbeitsplatz. Vom vertrauten München zog sie weg, aus gesundheitlichen und aus finanziellen Gründen. Aber nach knapp fünf Jahren brachen ihre Symptome wieder verstärkt durch. Zeitgleich, so fand sie heraus, waren Mobilfunksendemasten teils neu aufgestellt, teils aufgerüstet worden und sie erfuhr, dass auch mehrere Familien seitdem über Schlafstörungen klagten. MCS und Elektrohypersensitivität (EHS) treten häufig gemeinsam auf und gemäß wissenschaftlicher Erkenntnis liegt ein ähnlicher Krankheitsmechanismus vor.

Gesellschaftliche Teilhabe kaum mehr möglich

Die folgenschwere Einbuße des Arbeitsplatzes ist nur der Anfang einer umfassenden krankheitsbedingten Exklusion. Allein die chemiebedingten Ausschlussgründe aus der Duft- und Pflege-Community genügen bereits, dass MCS-Patienten kein Konzert besuchen können und ihnen die Teilnahme an Mitgliederversammlungen, kirchlichen Anlässen, Gruppenreisen, Familienfesten versagt ist. Überall sind sie die spielverderbenden Querulanten. Aus diesem Grund eignet sich die ausgeprägte MCS bestens für Beziehungscrashtests aller Art: beim Zeitunglesen die Druckerschwärze, beim Ausflug ins Freie die Pestizide und Baumharze, beim Fernsehen die Flammschutzmittel, in Kirchen die Antischimmelbehandlung, in Geselligkeit kleine kosmetische „Ausrutscher“. Und nicht jedem an MCS Leidenden sieht man die Symptome gleich an. In vorher schon angespannten Beziehungen liegt es deshalb nahe, dem kranken Partner Einbildung und eine wahnähnliche Realitätsferne zu unterstellen. Eine zusätzliche bittere Nuss.

Isolation und Vereinsamung, ja seelische Not können aus dieser Krankheit folgen, wie sich auch in Gwendolyn A.s Worten andeutet: „Am öffentlichen Leben kann ich so gut wie gar nicht teilnehmen, weil auf Festen oder Veranstaltungen fast jeder parfümiert ist. Auch Verreisen ist wegen unverträglicher Räumlichkeiten und Einrichtungen problematisch. Unter diesen Bedingungen ist es schwer, neue Freundschaften zu schließen oder als Alleinstehende eine Partnerschaft einzugehen.“

Mit einer kleinen Alltagsszene führt sie das allmähliche Abbröckeln sozialer Kontakte vor Augen: „Erst neulich traf ich eine Nachbarin im Café, mit der ich mich nett unterhielt. Mir wurde auf einmal sehr schwindelig und schlecht, und als ich mich umdrehte, sah ich die Bedienung, wie sie mit Glasreiniger anfing, die Tische zu säubern. Unter einem Vorwand verabschiedete ich mich nun, denn die Wahrheit, dass ich mich bald kaum noch auf den Beinen halten konnte, hätte mir wohl niemand geglaubt.“ Häufig wird eine spontane Flucht, wie hier vor dem Putzmittel, oder ein Fernbleiben von Treffpunkten als seltsam wahrgenommen und fälschlich als seelisch depressiv bedingter „sozialer Rückzug“ interpretiert.

Hastige Fehldiagnosen statt solider Untersuchung

Eine schwer wiegende Fehldeutung ihrer Krankheit musste auch Henrike J. hinnehmen. Sie hatte viele Jahre einen Lebensmittelmarkt geleitet, bevor sie wegen Chemikalienintoleranz ihr berufliches Handtuch werfen musste. In die Umweltambulanz der Universität brachte sie einen ganzen Stapel Befunde mit, war aber schon nach 6 Minuten wieder auf dem Gang – mit der Empfehlung zur psychosomatischen Behandlung. Später nahm sich ihr Rentengutachter ganze 15 Minuten Zeit, um über die materielle Zukunft der kontaktfähigen früheren Führungsperson zu entscheiden. Henrike J. verlässt gern ihre Wohnung und geht unter Leute, auch wenn ihr die Auswirkungen der Duftchemie hinterher zu schaffen machen – aber ihr wurde gutachterlich ausgerechnet eine Agoraphobie bescheinigt.

Gutachten müssten fachlich fundiert sein. Das fängt schon bei der Ausbildung der Ärzte an, in der die klinische Umweltmedizin weitgehend unter den Tisch fällt. Außerdem gehören alle notwendigen Untersuchungen sowie alle diesbezüglich verordneten Arzneimittel in den Leistungskatalog der Versicherungen. Letzteres ist für MCS-Betroffene besonders wichtig, da die meisten Medikamente in der Roten Liste für sie krankheitsbedingt unverträglich sind. Eine Verweigerung der Leistungen läuft in der Praxis auf unterlassene Hilfeleistung und Diskriminierung hinaus.

Mehr Forschung, Aufklärung und Vorsorge nötig

Ohne Rücksicht auf eventuelle Interessenkonflikte haben Aufklärung und Verbraucherschutz an oberster Stelle zu stehen. Das gilt für alle Bereiche. Es ist noch nicht lange her, dass im Bundestag ein Gesetz zur Erhöhung der Flugsicherheit verabschiedet wurde. Piloten sollen nun auf Drogen, Alkohol und Psychopharmaka untersucht werden. Dagegen bleiben die ins Innere fast aller Flugzeuge gelangenden, als hoch toxisch geltenden Gemische aus Schmierstoffen, Insektiziden und anderem offensichtlich unberücksichtigt – entgegen allen Erfahrungsberichten und medizinischen Fachberichten zum „aerotoxischen Syndrom“.

Vor allem im privaten Bereich sollte viel Rücksicht geübt werden. Aber nicht nur hier. Wenn Krankenhäuser, Schulen, Seniorenwohnstifte und Hotels einzelne Zimmer mit Fliesenboden hätten, wäre den MCS-Kranken und den Allergikern schon viel geholfen, so wie auch durch Rücksichtnahme bezüglich Desinfektionsmitteln, Putzmitteln und der Kosmetik des Personals. Das könnte den häufig schwer leidenden und zudem wie Outcasts am Rand der Gesellschaft lebenden Menschen das Dasein erleichtern.

Die Politik, insbesondere Umweltparteien, sollten sich des Themas verstärkt annehmen, zumal einige Ärzte in den betreffenden gesundheitlichen Reaktionen ein „Frühwarnsystem“, ja insgesamt eine Gefahr für die „Ressource Mensch“ erkennen. Dies auch in Anbetracht von nicht absehbaren, möglicherweise epigenetischen Spätfolgen durch Schadstoffeinflüsse. Dann würde auf die umweltkranken Sonderlinge ein ganz anderes Licht fallen.


Onlinetipps:

Deutscher Berufsverband der Umweltmediziner,
Europäische Akademie für Umweltmedizin
Offener Brief an die Deutsche Rentenversicherung
November 2015
http://www.dbu-online.de/ueber-uns/aktuelles-vom-vorstand/04-2015.html

Hans-Ulrich Hill
Schadstoffe an Schulen und öffentlichen Gebäuden
Toxikologie, chronische Krankheiten – und wie Behörden und Gutachter damit umgehen
März 2015
http://www.cbgnetwork.org/downloads/Hill_Schadstoffe.pdf


Filmtipps:

Stephanie Krüger
Gefährliche Düfte
ARD, 2016, 6 min
http://www.ardmediathek.de/tv/alles-wissen/Gef%C3%A4hrliche-D%C3%BCfte/hr-fernsehen/Video?bcastId=3416170&documentId=34976712

Birgit Tanner
Gift im Klassenzimmer
ZDF, 2016, 28 min
https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-gift-im-klassenzimmer-100.html


Organisationen:

Chemical Sensitivity Network Deutschland
http://www.csn-deutschland.de/home.htm

Deutscher Berufsverband der Umweltmediziner
http://www.dbu-online.de/

Europäische Akademie für Umweltmedizin
https://europaem.eu/de/

Europäische Gesellschaft für gesundes Bauen und Innenraumhygiene
http://www.eggbi.eu/gesundes-bauen-eggbi/

Gemeinnütziges Netzwerk für Umweltkranke
http://www.genuk-ev.de/


Buchtipps:

Urs Beat Schärz
Vergiftet und vergessen
… wie mich die Umwelt krank machte
CMS, März 2016
134 Seiten, 10.00 Euro
978-3-03827-006-5

 

Hans-Ulrich Hill, Wolfgang Huber, Kurt E. Müller
Multiple Chemikalien- Sensitivität (MCS)
Ein Krankheitsbild der chronischen Multisystemerkrankungen (CMI)
Shaker, Mai 2010
497 Seiten, 19.80 Euro
978-3-8322-9046-7