Je intakter die Natur, desto besser kann sie auf Änderungen reagieren. – Foto: Alexas Foto/pixabay.com

Umwelt & Klima

„Es fehlt der politische Wille“

Diesen Beitrag teilen

Nach langen Verhandlungen einigten sich im Dezember 2023 rund 200 Staaten im kanadischen Montreal darauf, bis 2030 mindestens 30 % der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz zu stellen, den Pestizideinsatz zu halbieren und mehr Geld für den Erhalt der Artenvielfalt auszugeben. Was ist davon zu halten?

Interview mit Magnus Wessel

 

ÖkologiePolitik: Herr Wessel, wie lief im Dezember die Welt-Artenschutzkonferenz in Montreal?

Magnus Wessel: Es ergibt sich ein gemischtes Bild, aber die Bewertung ist vor allem eine Frage der Erwartungshaltung. In der medialen Berichterstattung wird gern das quasi-hierarchische Bild gemalt, die UN sei der König, der seine Entscheidungen nun über die Nationalstaaten in die Praxis weitergeben muss, aber nichts ist weiter von der Wirklichkeit entfernt. Viele Ergebnisse der Konferenz sind wegweisend. Die eigentliche Arbeit fängt aber erst jetzt an. Klar ist: Die Konferenz hat dem internationalen Schutz der biologischen Vielfalt weitere wichtige Facetten hinzugefügt. Jetzt geht es an die Umsetzung – und die dürfte deutlich schwieriger werden.

Wie zufrieden sind Sie mit den Ergebnissen?

Internationale Konferenzen haben immer viel Licht und viel Schatten. Ein wichtiges Ziel der neuen Vereinbarung ist es, mindestens 30 % der weltweiten Land- und Meeresfläche bis 2030 unter wirksamen Schutz zu stellen. Das neue Abkommen stärkt dabei auch die Rechte der indigenen und lokalen Gemeinschaften. Geschädigte Ökosysteme sollen auf mindestens 30 % ihrer Fläche wiederhergestellt, die Risiken durch Pestizide und Düngemittel bis 2030 halbiert, naturschädliche Subventionen schrittweise abgebaut werden. Länder des globalen Südens sollen bei der Umsetzung der neuen Vereinbarung bis 2025 jährlich mit 20 Mrd. und bis 2030 mit jährlich 30 Mrd. US-Dollar unterstützt werden. Doch die Verursacher der Biodiversitätskrise im Bereich der Land- und Forstwirtschaft sowie in Wirtschafts- und Finanzsektoren werden in der neuen Vereinbarung viel zu wenig in die Pflicht genommen. So müssen z. B. Unternehmen auch künftig weder messen noch veröffentlichen, welchen Einfluss auf die Natur ihre Produktion und Lieferketten haben. Positiv ist auf jeden Fall die stärkere Verankerung von Menschenrechten insbesondere für Indigene in den Zielen. Und die ressortübergreifende Beauftragung zur Umsetzung: der sogenannte „Whole-of-Government Approach“ (WGA). Der Erhalt der biologischen Vielfalt ist nun mal kein Job der Naturschutzverbände oder des Bundesumweltministeriums, sondern ein Job aller. Ob diese Ziele trotz der Schattenseiten des Abkommens ausreichen werden, ist die spannende Frage. Es fehlt an Absicherung der Umsetzung und Überprüfung der Wirkung von Maßnahmen.

Wie sieht es mit der Finanzierung aus?

Die besteht weitgehend aus Ersatzzahlungen für erfolgte Naturzerstörung und eher winzigen Summen im Vergleich zur Notwenigkeit oder gar im Vergleich zu den wirtschaftlichen Leistungen, die erholte Natur liefert. Allein die durch Naturschutz ermöglichten Bestäuberleistungen weltweit sind vielfach höher als die aktuellen Finanzzusagen. Und leider wird unter dem Mantel „naturbasierter Lösungen“ eben nicht nur natürlicher Klimaschutz und durch Naturschutz gesteigerte Ökosystemleistungen verstanden, sondern oftmals nur ein Weg, um mit der aktuellen, nicht nachhaltigen Wirtschaftsweise weiter zu arbeiten.

Sind die Ziele bis 2030 wirklich erreichbar?

Es wird ernsthaftere Anstrengungen brauchen als bislang.

Haben die Vereinbarungen eine Auswirkung auf die deutsche Naturschutzpolitik?

Das bleibt zu hoffen. Zeitgleich zu den Verhandlungen in Montreal laufen auf EU-Ebene die Vorbereitungen für das kommende „Nature Restoration Law“, das einen Teil der Ziele von Montreal rechtsverbindlich für die Mitgliedsstaaten fassen soll. Und in Deutschland wird zurzeit die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ (NBS) überarbeitet. Teil der Arbeiten wird dann auch ein „Aktionsplan Schutzgebiete“ der Bundesregierung – eine Forderung, die die Naturschutzverbände schon vor 3 Jahren erhoben haben. Die Umsetzung des 30-%-Ziels für die Schutzgebiete wird in all dem eine zentrale Rolle spielen. Wir erhoffen auch Rückenwind für die nötigen Artenhilfsprogramme sowie zur Pestizid- und Düngemittelreduktion in der Landwirtschaft. Wie wir aber an der aktuellen Debatte um die Beschleunigung von Planung und Genehmigung von Infrastrukturbau sehen, bleibt die Tagespolitik zurzeit noch sehr unbeeindruckt von den neuen Zielen und arbeitet stattdessen eher am Abbau von bewährten Standards für den Schutz der biologischen Vielfalt z. B. bei der Umweltverträglichkeitsprüfung und bei der Kompensation von Schäden an der Natur durch Infrastruktur.

Wie sieht denn überhaupt die Situation auf EU- und deutscher Ebene aus?

Der „State of Nature Report“ der EU ist da sehr deutlich: „Gut“ ist der Erhaltungszustand von nur 14 % der geschützten Lebensräume. Die Lebensräume von Bestäubern weisen einen schlechteren Erhaltungszustand und schlechtere Trends auf als andere Lebensräume. Der Bestandszustand von weniger als der Hälfte der Vogelarten im Schutz der EU-Vogelschutzrichtlinie ist „gut“. Die wenigsten Verbesserungstendenzen gibt es bei Vögeln auf dem Ackerland. Der Blick auf die Schutzgebietsfläche zeigt: Das europäische Schutzgebietsnetzwerk Natura 2000 bedeckt 18 % der Landfläche und 10 % der Meeresgewässer in der EU. Nimmt man die nationalen Schutzgebiete dazu, steht zumindest auf dem Papier Deutschland besser da. Auch der BUND geht davon aus, dass formal die 30 % Schutzgebiete erreicht sind – von „gut gemanagt“ und „dauerhaft gesichert“ sind wir aber noch weit entfernt. Ein Beispiel: Gesichert fischereifreie Meeresfläche gibt es gerade mal 0,6 %. Am besten stehen noch die Nationalparks da. Wegen des fehlenden Managements der Natura-2000-Gebiete steht Deutschland kurz vor einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Von fehlendem Biotopverbund und dem weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibenden Naturschutz in Landschaftsschutzgebieten ganz zu schweigen.

Welches sind denn die drei größten Probleme beim Artenschutz? Und wie könnten sie behoben werden?

Industrialisierte Landwirtschaft, Zerschneidung und Verstädterung sind die größten Belastungen für Lebensräume und Arten, gefolgt von Umweltverschmutzung unter anderem durch Pestizide, Überdüngung und Mikroplastik. Behoben werden können sie nur durch ein intensives Umsteuern bei den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Agrarwende, Energiewende, Mobilitätswende und Rohstoffwende sind die Stichworte für die großen Zukunftsaufgaben, die jetzt naturverträglich und schnell umgesetzt werden müssen, um die Treiber der Bedrohung unserer Arten zu reduzieren. Und es braucht ein zukunftsfähiges Nutzungskonzept für unseren Planeten: Auch in der perfektesten sozial-ökologisch transformierten Welt werden wir Menschen Lebewesen bleiben, die durch ihr Handeln Lebensräume verändern und in Populationen eingreifen.

Welches sind die drei größten Bremser beim Artenschutz?

Eigentlich gibt es vor allem einen, der aber gravierende Folgen hat: fehlender politischer Wille, die bestehenden Möglichkeiten zum Artenschutz effektiv zu nutzen. Seit Jahrzehnten fehlt Personal für den Vollzug bestehender Gesetze. Die mangelhafte Ausgestaltung der Landwirtschafts-, Verkehrs- und Städtebaupolitik sowie die Lücken in der Finanzierung sind in einem der reichsten Länder der Welt hausgemachte Probleme einer Politik, die Artenschutz gern zum Schreckgespenst „Entwicklungsbremse“ hochstilisiert. Essenziell wird die Frage nach dem Zugriff auf Fläche. Das Konkurrieren um die Nutzung jeden Hektars ist ungebrochen. Ohne Fläche aber kein Artenschutz.

Welchen Einfluss hat die Klimakrise auf die Artenvielfalt?

Die Geschwindigkeit der aktuellen Klimakrise ist außerordentlich hoch. Im Vergleich zu früheren Temperaturveränderungen ist eine Anpassung der Natur deutlich erschwert, weil die Landschaft inzwischen vom Menschen intensiv genutzt, umgestaltet und zerschnitten wurde. Außerdem treffen die Folgen der aktuellen Klimakrise die Natur in einer Situation, in der eine große Zahl der Arten und Lebensräume – auch ohne Klimakrise – durch menschliche Lebensweisen bedroht und selten geworden ist. Zugleich bedrohen vermeintliche Klimaschutzmaßnahmen wie der Ausbau der Wasserkraftnutzung die letzten naturnahen Flüsse oder Agrosprit- und Maisanbau für Biogasanlagen die letzten Reste der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft. Durch die Folgen der Klimakrise sind nach Berechnungen des Bundesamtes für Naturschutz rund 30 % der in Deutschland vorkommenden Tier- und Pflanzenarten bis zum Ende dieses Jahrhunderts vom Aussterben bedroht. Fakt ist, dass schon jetzt Veränderungen von Pflanzen- und Tierwelt festzustellen sind, die zu einem hohen Grad auf die Klimakrise zurückgehen. Es deutet sich bereits an, dass die in Jahrtausenden entwickelten Funktionsbeziehungen, z. B. Nahrungsbeziehungen, und ganze ökologische Systeme „durcheinanderkommen“ können. Da eine Erwärmung nicht mehr aufzuhalten ist und wir nur noch die Höhe der Erwärmung beeinflussen können, müssen wir uns jetzt mit den Auswirkungen auf die Natur beschäftigen und davon ableiten, was das für den Artenschutz bedeutet.

Da die fortschreitende Klimaerwärmung die natürlichen Rahmenbedingungen massiv ändert: Ist es da überhaupt sinnvoll, Artenschutz zu betreiben?

Natürlich. Der Verlust durch die Intensivierung der Landnutzung und der Raubbau an der Natur schreitet weltweit so schnell voran, dass nur effektiver und konsequenter Artenschutz genügend Raum für die Populationen lässt, um auf die Folgen der Klimakrise reagieren zu können. Denn je intakter die Natur, desto flexibler und dynamischer kann sie auf Änderungen reagieren. Und desto besser kann sie die negativen Folgen der Klimaveränderung abpuffern – auch zum Nutzen des Menschen. Die beste Versicherung gegen die Folgen des Klimawandels ist eine hohe natürliche Vielfalt an Arten und Lebensräumen, auf die der Mensch angesichts zunehmender Katastrophen mehr denn je angewiesen ist.

Sollte der Artenschutz dem Klimaschutz untergeordnet werden?

Nein. Das Existenzrecht von Arten ist aus meiner Sicht nicht verhandelbar und auch der internationale Rechtsrahmen bestärkt dies deutlich. Und es darf nicht vergessen werden: Artenschutz durch Renaturierung und Erhalt von Biotopen ist eine unverzichtbare Säule des Klimaschutzes, denn intakte Lebensräume wie Moore oder Wälder, aber auch ökologisch genutzte Naturräume können mehr Kohlenstoff speichern als nicht mehr funktionsfähige Lebensräume oder Intensivlandwirtschaftsgebiete. Zudem geben schwindende Moore und Feuchtgebiete klimawirksame Gase ab und leisten so der Klimakrise Vorschub. Es gilt, Klimaschutz und Naturschutz in einer Gesamtstrategie zusammenzubringen. Wir hoffen, dass das zukünftige „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“ (ANK) der Bundesregierung hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Dazu gehört auch die aktive Beschränkung von grauer Infrastruktur zugunsten grüner Infrastruktur wie dem Biotopverbund.

Herr Wessel, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Onlinetipps

BUND
Renaturierung von Ökosystemen: Gewinn für Natur, Klima & Mensch
Forderungen des BUND zum EU-Renaturierungsgesetz
Januar 2023
www.t1p.de/bx0kd

BUND
Handbuch Biotopverbund Deutschland
Vom Konzept bis zur Umsetzung einer Grünen Infrastruktur
April 2018
www.t1p.de/gfppz


Mehr ÖkologiePolitik

Archiv der Online-Beiträge