Jeder Mensch besitzt männliche und weibliche Persönlichkeitsanteile, die in Balance kommen müssen. – Foto: BuonoDelTesoro/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Weder das Männliche noch das Weibliche sind toxisch“

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Die rechtsidentitäre Bewegung sieht die Hautfarbe als das für die menschliche Identität Wesentliche an, die linksidentitäre Bewegung Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Wird das dem Menschen gerecht? Gibt es bedeutsamere Aspekte? Was ist für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig? Ein Tiefenpsychologe liefert interessante Antworten.

Interview mit Prof. Dr. Eckhard Frick SJ

 

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Frick, was macht das identitäre Denken so attraktiv?

Prof. Dr. Eckhard Frick SJ: Das identitäre Denken hilft der Selbstvergewisserung. Man grenzt sich gegen das Andere ab, betont das Eigene – und erhält dadurch den Eindruck von Identität. Das ist aber mehr eine Schein-Identität, die auf dem Ausschluss des Fremden beruht.

Meinen Sie da jetzt nur das rechtsidentitäre Denken oder auch das linksidentitäre?

Beide. Da gibt es ja interessante Übergänge, was damit zusammenhängt, dass sich die Extreme durchaus berühren und die Denkweise eine ganz ähnliche ist. Zum identitären Denken gehört, dass ich den anderen in seinem Anders-Sein nicht akzeptiere. Dass ich ihn in eine „Schublade“ einordne, in „meine Schublade“, in meine Kategorien, was normal und nicht normal, gesund und nicht gesund, rechtgläubig und nicht rechtgläubig ist. Es sind „meine Schubladen“, in die ich den anderen einordne, damit er mir besser in den Kram passt.

Was verstehen die Vertreter identitären Denkens unter Identität?

Identität ist dort vornehmlich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Nehmen wir als harmloses Beispiel die Mode: Seit einiger Zeit gibt es Menschen, die auch im Winter ohne Strümpfe rumlaufen. Weil sie das cool finden und sich dadurch als Teil einer großen coolen Gruppe fühlen. Diese Gruppe definiert sich über eine eher belanglose Äußerlichkeit, andere Gruppen definieren sich über andere Dinge: z. B. über eine bestimmte Haltung oder über sprachliche Codes. Immer geht es darum, über bestimmte Merkmale die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu signalisieren – und sich gleichzeitig von anderen Gruppen abzugrenzen. Die identitäre Logik will die Komplexität der Welt vereinfachen, indem sie Gruppen und Gruppen-Zugehörigkeiten als das Wesentliche betrachtet und sich darauf konzentriert.

Was blendet dieses Verständnis von Identität aus?

Ausgeblendet wird das Anders-Sein des anderen: Man macht sich ein Bild vom anderen und bildet sich dann ein, man kenne ihn dadurch. Ausgeblendet wird zudem unsere eigene Unsicherheit. Wir können uns ja nie über unser Selbst ganz sicher sein. Unser Unbewusstes entzieht sich oberflächlichem Denken. C. G. Jung sprach von einem „Schatten“, den jeder in sich trägt. Damit meinte er die Persönlichkeitsanteile, die wir nicht frei gewählt haben, die aber dennoch zu uns gehören, die wir verdrängen, weil sie nicht zu unserem eigenen Selbst-Bild passen oder nicht zu dem Bild, das wir nach außen hin sein wollen. Doch unsere Persönlichkeit besteht nicht nur aus öffentlich zur Schau getragenen politischen, religiösen, ökologischen und sonstigen Überzeugungen, sondern auch aus vielen „urzeitlichen“ Impulsen in unserem Inneren.

Was können wir von C. G. Jung lernen?

Wir können von ihm lernen, dass wir einen „Schatten“ haben und wie wir konstruktiv mit ihm umgehen sollten. Und da erkennen wir dann auch schnell, dass das ganze Identitätsgerede vor allem dazu dient, das Erkennen des eigenen „Schattens“ zu vermeiden. Alles, was mich am anderen stört, was ich an ihm kritisiere und was ich an ihm ändern möchte, stört mich eigentlich an mir selbst. Ich projiziere meine uneingestandenen, mir unangenehmen Persönlichkeitsanteile in den anderen und lehne ihn dann umso entschiedener ab. Wir müssen lernen, dass die Welt nicht so einfach ist, wie sie in simplen Freund-Feind-Schemata allzu oft dargestellt wird – weder im Politischen noch im Privaten. Wir müssen lernen, unseren Schatten ernst zu nehmen, ihn wahrzunehmen und uns mit dem Unbekannten vertraut zu machen. Das sollten wir aber unverkrampft und gelassen tun, mit Humor.

Fokussiert sich C. G. Jung nicht zu sehr auf das Individuum? Blendet er gesellschaftliche Zusammenhänge nicht zu sehr aus?

Das wurde ihm tatsächlich oft vorgeworfen. Sicher setzt er einen starken Akzent auf die Individuation, doch das heißt für ihn keinesfalls Individualismus oder gar Egoismus – ganz im Gegenteil. Umgekehrt lässt sich das, was Jung über den Einzelnen herausgefunden hat, bis zu einem gewissen Grad auch auf die Dynamik von Gruppen übertragen. Diese ganzen psychosozialen Fragestellungen und Ansätze sind aber sehr komplex. Auf sie näher einzugehen, würde hier wohl zu weit führen.

Bei Linksidentitären ist der „alte weiße Mann“ das erklärte Feindbild. Männlichkeit gilt als toxisch. Welche Wirkung hat das auf die Persönlichkeitsentwicklung?

Da kann man auch wieder von C. G. Jung oder auch von Verena Kast, einer seiner Nachfolgerinnen, lernen: Wir alle haben einen männlichen und einen weiblichen Persönlichkeitsanteil in uns. Jung nennt sie „Animus“ und „Anima“, Kast bezeichnet sie als „Geschwisterpaar“. Beide müssen in eine innere Balance kommen. Das kann in einer heterosexuellen Paarbeziehung geschehen, wo jeder Partner sich auf den anderen einlässt, von ihm lernt und dadurch seine Projektionen zurücknimmt. Das funktioniert aber auch bei Singles – wie wir Ordensmitglieder ja welche sind –, wenn man das eigene Innere sensibel wahrnimmt und erkennt und akzeptiert, dass man sowohl männliche als auch weibliche Persönlichkeitsanteile in sich trägt. In den alten Individuationsgeschichten wie der von Tobit im Alten Testament, der von Parzival im mittelalterlichen Roman oder der von Eisenhans im grimmschen Märchen geht es ja nicht nur um kraftvolle Männlichkeit, sondern auch um verwundete Männlichkeit, um das Verhältnis zum Weiblichen und um den komplexen Prozess der Selbstfindung. Ein junger Mann muss zuerst lernen, sich von der Mutter zu lösen, muss Abenteuer bestehen und findet dann durch die Begegnung mit dem Weiblichen, meist in Gestalt einer jungen Frau, zu sich selbst – und reift so zum Mann. Diese Entwicklung ist mehrstufig und braucht ihre Zeit. Und sie ist heute wohl nicht einfacher als früher, weil die klassischen Bilder, die stereotypen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, aufgeweicht und verschwommen sind. Die Persönlichkeitsentwicklung ist auch nicht mit einem bestimmten Alter abgeschlossen, sondern ein dynamischer Prozess, der das ganze Leben dauert. Ein identitäres Erreichen- und Erhaltenwollen der eigenen Identität führt daher eher nicht zur Selbst-Findung, sondern zur Selbst-Entfremdung. An die Stelle einer dynamischen Identitätssuche tritt ein Identitätswiderstand gegen Veränderungen.

Wenn ein Jugendlicher ständig gesagt bekommt, das Männliche sei toxisch, führt das nicht zu Neurosen?

Das kann schon sein. Doch weder das Männliche noch das Weibliche sind toxisch. Toxisch wird es, wenn nicht erkannt und anerkannt wird, dass jeder Mensch männliche und weibliche Persönlichkeitsanteile besitzt. Ein männlicher Mann hat immer auch einen guten Kontakt zu seiner weiblichen Seite. Was nicht heißt, dass er ein „Weichei“ ist, sondern dass er sich seiner selbst gewiss ist. Und weil er seiner selbst gewiss ist, hat er es nicht nötig, sich und seiner Umgebung seine Männlichkeit durch besonders „männliches“ Auftreten – bzw. was er dafür hält – ständig hervorzuheben, zu betonen. Ein liebevoller Vater zu sein, ist überhaupt nicht unmännlich. Toxisch wird Männlichkeit dann, wenn ein Mann seine weibliche Seite nicht annimmt, wenn er sie ständig mit großer Kraft durch eine Überbetonung seiner männlichen Seite zu verdrängen versucht. Denn das führt dann eben auch dazu, dass er generell alles Weibliche geringschätzt oder gar verachtet. Das ständige Bemühen, sich selbst und anderen die eigene Männlichkeit zu beweisen, führt oft zu völlig irrationalem Handeln – aber nicht zur Selbstfindung.

Was sagt Ignatius von Loyola über Identität?

Ignatius lebte im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und war natürlich stark von den klassischen Rollenbildern seiner Zeit geprägt. Für ihn ist Identität stark mit Freiheit verknüpft – und entsteht durch das Anvertrauen, das Übergeben der eigenen Person an einen Herrn, in seinem Fall eben an Jesus Christus. Das mag heute für viele Zeitgenossen eher seltsam klingen, ist aber ein Lebensprogramm, das ich nach wie vor attraktiv finde.

Können wir von Ignatius etwas zur Überwindung des identitären Denkens lernen?

„Je universaler, desto göttlicher“, so drückt es Ignatius aus. Wenn ich Grenzen nicht betone, sondern überwinde, dann ist das mehr im Sinne Gottes als umgekehrt. Das betrifft nicht nur das rechtsidentitäre Denken, sondern auch immer mehr die zunehmende Tendenz im europäischen Selbstverständnis, sich einzuigeln und Flüchtlinge als Grenzverletzer zu betrachten, als Eindringliche, als Bedrohung, die es abzuwehren gilt, statt als Menschen, als in Not geratene Nachbarn wahrzunehmen. „Je universaler, desto göttlicher“ ist ein Motto, das auch wir Heutigen uns zu Herzen nehmen sollten. Und dann hat Ignatius uns natürlich mit seinen spirituellen Übungen, seinen „Exerzitien“, ein Instrument gegeben, das Männer und Frauen sehr hilfreich unterstützen kann, nach innen zu schauen, das eigene Innere wahrzunehmen und einen eigenen persönlichen Lebensweg zu finden. Das führt zu größerer Freiheit und der Drang, das Fremde zu bekämpfen, verschwindet.

Herr Prof. Frick, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Eckhard Frick, Konrad Hilpert (Hrsg.)
Spiritual Care von A bis Z
De Gruyer, November 2020
417 Seiten, 29.95 Euro
978-3-11-065637-4

Brigitte Boothe, Eckhard Frick
Spiritual Care
Über das Leben und das Sterben
Orell Füssli, März 2017
192 Seiten, 19.95 Euro
978-3-280-05623-3

Eckhard Frick, Bruno Lautenschlager
Auf Unendliches bezogen
Spirituelle Entdeckungen bei C. G. Jung
Kösel, Februar 2008
208 Seiten, 16.00 Euro
978-3-466-36780-1