Narzissten wollen ihren Narzissmus ausleben. – Foto: thekaleidoscope/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Die innerseelische Situation ist das eigentliche Motiv“

Diesen Beitrag teilen

Wer die Welt primär als Bühne für Auftritte seines „grandiosen Selbst“ betrachtet, dem ist der Zustand der Welt ziemlich egal. Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugen narzisstische Persönlichkeiten – und diese gestalten unsere gesellschaftlichen Verhältnisse. So sind wir in eine fatale Abwärtsspirale geraten, diagnostiziert ein Psychiater.

Interview mit Dr. Hans-Joachim Maaz

 

ÖkologiePolitik: Herr Dr. Maaz, Sie haben viele Bücher zu unterschiedlichen Themen geschrieben. Gibt es in denen einen „roten Faden“?

Dr. Hans-Joachim Maaz: Ich habe in fünf Jahrzehnten psychiatrischer und psychotherapeutischer Praxis etwa 15.000 Menschen ambulant und stationär in Therapie gehabt. Dabei war ausnahmslos ihr seelisches, psychosomatisches und soziales Leiden auf lebensgeschichtlich frühe traumatisierende und defizitäre Beziehungserfahrungen zurückzuführen. Wir dürfen allerdings das Traumatisierende nicht nur als offensichtliche Gewalt oder ähnliche schwerwiegende Einzelereignisse verstehen, sondern als grundsätzliche Eltern-Kind-Beziehungsstörungen, die von den Eltern selbst meist nicht als belastend und entwicklungsstörend verstanden und schon gar nicht von der sozialen Umwelt als Problem erkannt werden. Es sind also auch die „normalen“, durchschnittlichen Familien, in denen die Kinder nach den Erziehungsvorstellungen der Eltern „betreut werden“, die zuallermeist den nicht mehr kritisch hinterfragten gesellschaftlichen Werten folgen. Die traumatisierende Manipulation der Kinder geschieht dadurch, dass Kinder nicht um ihrer selbst willen, je nach ihrer Einmaligkeit verstanden und bestätigt werden, sondern sich so zu verhalten und zu entwickeln haben, wie es die Eltern wollen, und wie es später in den Kitas und Schulen als gesellschaftliche Norm erwartet wird. Kinder erfahren auf diese Weise eine ihre Persönlichkeitsentwicklung prägende Selbst-Entfremdung. Einfach ausgedrückt: Kinder erfahren sich nicht wirklich verstanden und geliebt, sondern nur für Anpassung, Gehorsam und geforderte Leistungen anerkannt. Im Laufe des Lebens werden an dieser Selbst-Entfremdung viele Menschen krank. Psychotherapie ist die medizinische und psychologische Disziplin, die bemüht ist, Beschwerden, Symptome und Erkrankungen aus ihrer Lebensgeschichte zu verstehen. Die aufgezwungene und erlittene Entfremdung erinnern, verstehen, emotional verarbeiten und neues, weniger entfremdetes Handeln erlernen, sind die therapeutischen Mittel. Viele Betroffene weigern sich lange, einen Zusammenhang ihrer Erkrankung mit der frühen Kindheit, mit dem Einfluss der Eltern, der Erzieher und Lehrer anzuerkennen, weil die Erfahrungen der Vergangenheit verständlicherweise sehr schmerzlich, traurig, bedrohlich sein können und deshalb seelisch bis ins Unbewusste verdrängt worden sind. Leider werden auch viele Erkrankungen gar nicht als seelisch verstanden, weil sie mit körperlicher Symptomatik auftreten, dann in medizinische Fachgebiete getragen werden und dort gar nicht als psychogen und psychosomatisch erkannt werden – was vielen Kranken eine tragische Patienten-Odyssee mit vielen sinnlosen bis schädlichen Behandlungen beschert. Diese Erkenntnis ist die wesentliche Motivation für meine publizistische Tätigkeit: dieses Wissen „populärwissenschaftlich“ so aufzubereiten, dass es auch außerhalb der Fachwelt möglichst gut verstanden werden kann – mit der Hoffnung, Betroffenen, Eltern, Lehrern und Politikern gut verständliche Informationen zur Verfügung zu stellen, um die Psychotherapie besser zu verstehen, die psychosomatische Medizin zu stärken und die Betreuung von Kindern weniger traumatisierend zu gestalten.

Im Jahr 2012 erschien Ihr Buch „Die narzisstische Gesellschaft“. Wie sieht das Weltbild und Lebensgefühl von Narzissten aus?

Es muss zwischen einem gesunden und einem gestörten Narzissmus unterschieden werden. Gesund ist eine realitätsgerechte Selbstliebe, Selbsterkenntnis und Selbstgewissheit: Menschen, die gut wissen, wer sie sind und wer nicht, was sie können, verstehen und wissen und was nicht. Menschen, die ihre Möglichkeiten und Begrenzungen, Kompetenzen und Schwächen kennen und akzeptieren. Dies setzt Elternliebe, vor allem Mutterliebe voraus: von der Mutter schon in den ersten Lebensjahren gut verstanden und bestätigt worden zu sein. Eine narzisstische Störung entsteht vor allem durch „Muttermangel“, durch eine Beziehungsstörung von Müttern, die keine wirkliche Empathie, kein Verständnis für die Einmaligkeit ihres Kindes oder auch keine ausreichende Zeit für ihr Kind haben oder aus beruflichen Gründen nicht haben können oder wollen. Auch ein mangelndes Interesse des Vaters am Kind und ausbleibende väterliche Bestätigung verstärken das Difizit. Das Kind erlebt sich ungeliebt, unverstanden und beginnt, sich „Liebe“ verdienen zu wollen, indem es elterliche Erwartungen abspürt und zu erfüllen bemüht ist. Die dadurch initiierte Selbstentfremdung bekommt Suchtcharakter, weil Liebe eben nicht verdient werden kann, sondern geschenkt wird oder nicht. Da das illusionäre Bemühen keinen wirklichen Erfolg hat, wuchert die narzisstische Störung zu grenzenlosen Anstrengungen, die auch tatsächlich großartige Erfolge in der Bewertung durch Eltern, Schule, Gesellschaft bringen können. So können die durch Liebesmangel verursachte Unsicherheit und Minderwertigkeit im „Größenselbst“ einen Scheinerfolg feiern, der durch Anerkennung, Karriere, Macht, Reichtum sozial und äußerlich bestätigt wird. Der Narzisst erwartet und verlangt als Ersatz für die nie erfahrene Liebe soziale Anerkennung. Da die eigene Not in den Mittelpunkt gestellt wird, sind Narzissten egoistisch, selbstgefällig, überheblich, empathielos und sozial auffällig. Bei besonderen Leistungen werden sie gefeiert, verehrt und in höhere Funktionen gewählt oder setzen ihre Ansprüche mit allen Mitteln durch. Selbstüberschätzung, Größenwahn und Realitätsverlust gehen einher mit Abwertung, Verachtung und Diffamierung allen anderen Lebens. Anerkannt wird nur, wer den eigenen narzisstischen Bedürfnissen dient. Doch die äußeren Erfolge können das innerseelische Defizit nicht wirklich stillen. Narzissten können zu Macht und Ansehen gelangen, in Führungsfunktionen aufsteigen, wollen aber insgeheim nur das tiefe Minderwertigkeitsgefühl befriedigen. Sie brauchen und nutzen Partner, Untergebene, Abhängige, Fans, Mitläufer und Wähler für den äußeren Erfolg, ohne deren Belange zu beachten und zu berücksichtigen. Sie sind Verführer! Dabei werden die Bitterkeit der Anstrengungen und sozialen Beziehungsstörungen sowie die Heuchelei und der Betrug im Dienste der Selbstüberhöhung zumeist nicht erkannt. Erst eine soziale Krise, häufige Konflikte oder eine Erkrankung eröffnen Chancen für eine bittere und schmerzliche Selbsterkenntnis der eigenen Selbst-Entfremdung.

Welche gesellschaftlichen Einflüsse fördern Narzissmus?

Da ein Narzisst äußere Anerkennung braucht, um die innere Minderwertigkeit auszugleichen, ist eine Wachstums-, Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft der ideale Antreiber und die ideale Bühne für den eigenen Erfolg. Immer dann, wenn die eigene Position hervorgehoben wird und andere Positionen abgewertet werden, führt der Narzissmus Regie. Er pervertiert gesunde Leistungen zu süchtigen Bemühungen und einen kreativen Wettbewerb zu einer Konkurrenz mit unlauteren, betrügerischen bis kriminellen Mitteln. Es sind aber nicht allein die gesellschaftlichen Einflüsse, die den Narzissmus fördern, sondern eine Mehrheit von narzisstisch gestörten Menschen schafft sich gesellschaftliche Verhältnisse, in denen sich ihr Narzissmus austoben kann. So entsteht eine narzisstische Normopathie als gesellschaftliche Fehlentwicklung. Die gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen durch falsche Erziehungsnormen und mangelhafte elterliche Liebe narzisstische Störungen. Und narzisstisch gestörte Menschen gestalten dann wieder eine entsprechende Gesellschaftsfehlentwicklung.

Wie lässt sich diese Entwicklung bremsen, stoppen und umkehren?

Eine narzisstische Normopathie ist kaum zu stoppen. Am ehesten im Zusammenbruch der politisch-ökonomischen Verhältnisse. Eine Chance, die Voraussetzungen für narzisstische Fehlentwicklungen zu beenden, liegt in einer besseren Frühbetreuung von Kindern. Doch aktuell findet eher das Gegenteil statt: Die Bedeutung von Elternschaft, von Mütterlichkeit und Väterlichkeit wird abgewertet, missverstanden und ideologisch belastet. Es findet zunehmend eine viel zu frühe Fremdbetreuung von Kindern statt, deren zwangsläufiges Liebesdefizit narzisstische Störungen befördert. Wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse sind schon längst vorhanden, doch es fehlt der politische Wille. Warum wohl? Die Chance für eine Änderung ist gering, weil bei gesellschaftlichen Veränderungen in aller Regel nur andere Narzissten an die Macht kommen.

In Ihrem 2020 erschienenen Buch „Das gespaltene Land“ beklagen Sie eine zunehmende Fragmentierung unserer Gesellschaft. Hat das mit dem Narzissmus zu tun?

Narzisstische Minderwertigkeit und Unsicherheit brauchen Ersatzbefriedigung: Ansehen, Erfolg, Macht, Geld, Besitz – in süchtiger Grenzenlosigkeit. Gehen die Kompensationsmöglichkeiten durch persönliche Probleme, soziale Krisen oder gesellschaftliche Veränderungen verloren, verliert der narzisstisch belastete Mensch seine Sicherheit und ist zutiefst innerseelisch wieder mit seiner „Minderwertigkeit“ konfrontiert. Das ist in aller Regel schwer auszuhalten und der Grund, weshalb äußere Verursacher gesucht werden: Partner, Vorgesetzte, Politiker, ein Virus. Denen wird die Schuld zugeschoben. Es entstehen Feindbilder und damit soziale Spaltungen: die „Guten“ und die „Bösen“, die „Richtigen“ und die „Falschen“, die „Mitläufer“ und die „Kritiker“, die Geimpften und die Ungeimpften usw. Narzissmus ist in jeder persönlichen oder gesellschaftlichen Krise der Antreiber für Spaltungen, um das eigene falsche Leben nicht erkennen zu müssen, sondern andere dafür für schuldig zu erklären. Die gegenwärtige zunehmende Einschränkung der Meinungsliberalität mit einer starken Tendenz in „Richtig“ und „Falsch“ ist ein sicheres Symptom der Krise der narzisstischen Normopathie. Spaltung beendet Demokratie!

Welche anderen Ursachen gibt es für die Fragmentierung noch?

Die Psychodynamik gestörten menschlichen Verhaltens bei erlittener Selbst-Entfremdung ist die entscheidende Ursache. Alles, was politisch, sozial, ökonomisch, religiös, kulturell, medial eine wichtige Rolle spielen kann, ist sekundär – eben abhängig von den entfremdeten Menschen, die alle diese gesellschaftlichen Bereiche inhaltlich und formal ausgestalten. Jede politische Entscheidung wird sachlich begründet, oft sogar wissenschaftlich, aber immer ist die innerseelische Situation das eigentliche Motiv. Das bleibt meist unbewusst und verborgen. Ich habe in unzähligen Pro- und Kontra-Positionen sogenannte „Zwiegespräche“ führen lassen, in denen nicht mehr Sachargumente angeführt werden, sondern nach dem Einfluss von Gefühlen und verdrängten Bedürfnissen geforscht wird. Oft wurde deutlich, dass die unbewussten seelischen Motive der Konfliktpartner sehr ähnlich sind, nur auf unterschiedlichen Lebensbühnen äußerlich ausgetragen werden.

Ein Teil der politischen Linken fällt seit einigen Jahren durch eine aggressive Identitätspolitik auf. Fördert oder bremst das die Fragmentierung?

Jede aggressive Identitätspolitik – egal ob links oder rechts – ist ein Symptom von Fehlentwicklung und trägt entscheidend zur Spaltung und Fragmentierung gesellschaftlicher Verhältnisse bei. Je abgrenzender und diffamierender gegen Andersdenkende Politik betrieben wird, desto sicherer darf man annehmen, dass bei den Akteuren der Identitätspolitik eine psychosoziale Störung zugrunde liegt. Gesunde Politik ist niemals ein Kampf gegen, sondern immer ein Engagement für etwas. Die eigentliche Front ist nicht politisch. Politische Argumente werden benutzt, um Selbst-Entfremdung zu verleugnen und ihre Kompensationen durchzusetzen. Die Fronten liegen zwischen Verstehen und Abwehren, zwischen Integrieren und Ausgrenzen, zwischen Macht und Konsens, zwischen Narzissmus und Empathie. Da soziale Störung, Abnormität und Krankheit nie ausgeschlossen werden können, bleibt schützende Aggression unvermeidbar, doch die ist nicht politisch auszutragen, sondern strafrechtlich. Jede politische Meinung ist ernst zu nehmen und nach den zugrunde liegenden unbewussten Motiven zu erforschen, um individuelle Entfremdung oder gesellschaftliche Fehlentwicklung erkennen, verstehen und heilen zu können.

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie aus?

Die Maßnahmenpolitik gegen die Corona-Pandemie erzeugt eine kollektive Angststörung – und eine weitere Spaltung der Gesellschaft in Befürworter und Kritiker. Da ein demokratischer Diskurs verhindert wird, stehen sich die Befürworter und Kritiker zunehmend feindselig gegenüber. Da die Maßnahmen erhebliche psychische, wirtschaftliche und soziale Folgen haben, die nicht wirklich erfasst, diskutiert und geklärt werden, werden die Folgen wie Erkrankungen, soziale Konflikte, Arbeitslosigkeit, Existenzvernichtung als Gewalt, Hass und Hetze das gesellschaftliche Leben zunehmend belasten bis zerstören. Eine sehr große Gefahr besteht darin, dass die schon bestehende Krise unserer narzisstisch-finanzkapitalistischen Gesellschaft als Pandemie-Folge behauptet wird und die Fehler der Gesellschaftsentwicklung, die längst vor Corona und ohne Corona entstanden sind und weiterhin bestehen, gar nicht mehr gesehen werden.

Wie sollte künftig agiert werden?

Das ist ganz einfach zu beantworten: auf der Basis demokratischer Prozesse! Alle Entscheidungen und Maßnahmen müssten unbedingt in öffentlicher Diskussion im Pro und Kontra mit allen kritischen Stimmen erörtert werden. Ein Ergebnis sollte als momentaner Konsens eines „runden Tisches“ erreicht werden und nicht im politischen Machtkampf. Alle Maßnahmen müssen evidenzbasiert getroffen und überprüft werden. Alle Folgen der Maßnahmen müssen erfasst und berücksichtigt werden. Es kann kein „Richtig“ oder „Falsch“ geben, sondern immer nur eine aktuelle, situative Erkenntnis im Ringen um Konsens. Es darf keine Panik geschürt werden mit dem Ergebnis von Ängstigung, Einschüchterung, Gehorsam, Abhängigkeit, Rettungsfantasien und dem Verzicht demokratischer Regularien. Grundrechte sind Grundrechte! Die können nicht eingeschränkt oder aufgehoben werden. Und wenn doch, dann wird die Demokratie in ein autoritär-totalitäres System verwandelt mit einer schuldigen Elite und schuldigen Mitläufern.

Herr Dr. Maaz, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


Buchtipps

Hans-Joachim Maaz, Dietmar Czycholl, Aaron B. Czycholl
Corona-Angst
Was mit unserer Psyche geschieht
Frank & Timme, Dezember 2020
192 Seiten, 16.90 Euro
978-3-7329-0723-6

Hans-Joachim Maaz
Das gespaltene Land
Ein Psychogramm
C.H. Beck, März 2020
219 Seiten, 16.95 Euro
978-3-406-75087-8

Hans-Joachim Maaz, Ingeborg Szöllösi
Keine Mutter ist perfekt
Der Umgang mit dem Lilith-Komplex
Mitteldeutscher, November 2018
192 Seiten, 12.00 Euro
978-3-96311-143-3

Hans-Joachim Maaz
Der Gefühlsstau
Psychogramm einer Gesellschaft
C.H. Beck, Dezember 2017
272 Seiten, 14.95 Euro
978-3-406-67326-9

Hans-Joachim Maaz
Das falsche Leben
Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft
C.H. Beck, März 2017
256 Seiten, 16.95 Euro
978-3-406-70555-7

Hans-Joachim Maaz
Die narzisstische Gesellschaft
Ein Psychogramm
C.H. Beck, September 2012
236 Seiten, 17.95 Euro
978-3-406-64041-4