Die Angst vor der Klimaerwärmung eint die heutige Schülergeneration. „Wir können die Welt nicht retten, indem wir uns an die Spielregeln halten. Die Regeln müssen sich ändern“, sagt Greta Thunberg. Ist das Commoning eine Antwort? - Foto: Jörg Farys/Fridays for Future

Gesellschaft & Kultur

„Eine bessere Gesellschaft muss erlernt werden“

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Das Commoning legt seinen Fokus aufs Machen. Politisch Aktiven ist das oft suspekt. Sie kritisieren, Commoning verändere nicht die eigentlichen Ursachen unserer sozialen und ökologischen Probleme. Auf der anderen Seite gibt es inzwischen Linksintellektuelle, die im Commoning eine „revolutionäre Bewegung“ sehen und dazu eine Theorie entwickeln.

Interview mit Simon Sutterlütti

ÖkologiePolitik: Herr Sutterlütti, was fasziniert Sie an den Commons?

Simon Sutterlütti: Erlauben Sie es mir, dreifach zu antworten. Zum einen praktizieren Commons eine neue Form des Zusammenlebens und Re-/Produzierens – eine neue Form, die richtungsweisend ist. Reform und Revolution betonen Prozess und Bruch, doch ihnen fehlt der dritte entscheidende Moment: Aufbau des Neuen. Eine inkludierende Gesellschaft fällt nicht nach der Revolution vom Himmel und wenn sie tatsächlich die Bedürfnisse der Menschen zum Inhalt haben soll, kann sie nicht durch staatliche Restrukturierungen erreicht werden. Eine bessere Gesellschaft lässt sich nicht einfach „von oben“ verordnen, sondern muss „unten“ erlernt, entwickelt und aufgebaut werden. Commons sind die Keimformen der Utopie, unser Experimentierfeld und die Praxis des Aufbaus. Zweitens können wir in Commons heute Momente einer Utopie erleben. In emanzipatorischen Bewegungen gibt es häufig einen Fokus auf politisch-staatliches Engagement: Doch wer immer darauf drängt, dass sich „oben“ etwas Entscheidendes ändert, der wird auf Dauer enttäuscht und frustriert sein, wenn sich hier nur kleine Verschiebungen erreichen lassen. Ich erlebe dann immer wieder einen Rückzug vom gesellschaftlichen Engagement, der Fokus schwenkt auf das Private, auf das individuelle oder familiäre Glück. Ein – hoffentlich glückendes, aber notwendig eingeschränktes – Einrichten im Bestehenden. Commons bieten eine weitere Alternative jenseits eines privatisierten Möglichst-gut-Einrichtens und eines politisch-abstrakten Kämpfens. Sie versuchen heute schon Räume einer anderen gesellschaftlichen Logik, die wir Inklusionslogik nennen, aufzubauen. Damit die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft am Leben bleibt, dürfen wir uns nicht nur an Symptomen abarbeiten und Kämpfe gegen übermächtige Gegner führen, sondern müssen vor Ort ein positives Gegenmodell zur gegenwärtigen Praxis der Ausbeutung von Mensch und Umwelt entwickeln und leben – für uns selbst und andere. Commons sind für viele eine überzeugende und ansteckende Alltagspraxis. Drittens war und sind Commonsräume für meine eigene Politisierung und mein Leben entscheidend. Ich setze mich ein für eine solidarische, ökologische Gesellschaft, weil ich in Hausbesetzungen und Wohnraumkämpfen, Jugendzeltlagern und Theoriewochenenden erfahren habe, dass soziale Räume auf Basis von kollektiver Verfügung und Freiwilligkeit nachhaltig wirken, Menschen motivieren und ein neues Miteinander schaffen. In Vorträgen erlebe ich häufig, dass für Menschen mit Commons-Erfahrungen die Utopie kein unerreichbarer Wunsch, sondern deutlicher reale Möglichkeit ist. Diese reale Möglichkeit der Utopie ist Grundlage jedes Engagements und heute für viele verloren: Der Kapitalismus ist zwar keine gerechte oder ökologische Gesellschaft, aber scheint die am wenigsten schlechte.

Wo liegt der Unterschied zwischen der herrschenden neoliberalen und der von Commons gelebten Praxis?

Der Commonismus schafft gesellschaftliche Bedingungen, die Inklusion nahelegen; der Neoliberalismus – oder sagen wir besser: Kapitalismus – schafft Bedingungen der Exklusion. Im Kapitalismus ist es für mich strukturell nahegelegt, meine Bedürfnisse auf Kosten der Bedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen. Ich kaufe die billigeren Lebensmittel und unterstütze damit indirekt miese Arbeitsbedingungen, Tierquälerei und Ökodesaster, kann mir aber dafür einen besseren Urlaub leisten. Wir kooperieren mit fast 8 Mrd. Menschen, indem wir die Preise der Konkurrenz unterbieten, bei Lohn und Umwelt sparen, Kriege führen, mittels Kultur, Geschlecht und Nationalität Grenzen ziehen und uns selbst zu stetig steigenden Leistungen disziplinieren. Wir leben auf Kosten anderer, unserer Umwelt und uns selbst. In einer Inklusionsgesellschaft ist es umgekehrt. Hier ist es für mich naheliegend, meine Bedürfnisse auf eine Art und Weise zu befriedigen, die auch die Befriedigungsmöglichkeiten anderer Menschen einbezieht. Der Commonismus ist eine Gesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ ist – wie Marx und Engels die Logik wechselseitiger Inklusion fassten. Wichtig ist, dass Inklusion und Exklusion keine individuelle Entscheidung ist, sondern strukturelle Nahelegung. In Inklusionsbedingungen sind andere Menschen und ihre Bedürfnisse strukturell nicht mehr meine Konkurrentinnen und Konkurrenten, meine Feindinnen und Feinde, sondern strukturell positiv – oder wie wir sagen: inklusionslogisch – mit mir verbunden. Früher haben wir das auch „strukturelle Gemeinschaftlichkeit“ genannt. Die Freiheit der anderen ist nicht mehr die Grenze meiner Freiheit, sondern die Freiheit anderer befördert und stützt die meinige. Das Einbeziehen der Bedürfnisse anderer ist dann auch kein Akt von Altruismus, sondern Egoismus und Altruismus sind aufgehoben: Ich kann meine Bedürfnisse am besten befriedigen, wenn ich die Bedürfnisse anderer einbeziehe. Solche Inklusionsbedingungen entstehen auf Basis von Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung über unsere Lebensbedingungen. Diese Bedingungen – von Friederike Habermann „Beitragen statt Tauschen“ und „Besitz statt Eigentum“ genannt – kennzeichnen auch Commons. Auch sie schaffen Inklusionsbedingungen, noch auf nur kleiner Ebene und somit auch noch immer durchzogen von Exklusionsstrukturen wie Sexismus, Rassismus und eingeschränkter Marktabhängigkeit.

Die Gemeinwohl-Ökonomie strebt das auch an: Sie will bei allen wirtschaftlichen Aktivitäten deren Gemeinwohl-Nutzen zum Maßstab machen, um sie dann hoch oder niedrig zu besteuern. Ist dieser Ansatz sinnvoll?

Sinnvoll? Ja. Inklusionserzeugend? Nein. Die kapitalistische Marktwirtschaft koordiniert sich durch Tausch, Arbeit und Geld, welche Konkurrenz, Profit- und Wachstumszwang erzeugen. Die Gemeinwohl-Ökonomie will nun jedoch nicht eine Koordination über Tausch und Markt abschaffen, sondern sozial verträglich regulieren. Sie will den Marktakteurinnen und -akteuren Inklusion gesetzlich nahelegen: Nachhaltigkeit, gerechte Löhne, Solidarität mit Mitunternehmen. Der Markt verlangt gerade das Gegenteil: Kostensenkung, Lohneinsparung, Konkurrenz. Und kein Staat kann die Gemeinwohl-Ökonomie wirklich durchsetzen: Seine Unternehmen hätten höhere Kosten, somit höhere Preise und würden auf dem Weltmarkt auskonkurriert – und die Steuergrundlage des Staates würde verschmelzen. Darauf zu hoffen, dass dies eine Staatengemeinschaft oder ein Weltstaat irgendwann – mit bleibenden Widersprüchen – einführt, scheint mir wenig Erfolg versprechend. Die Gemeinwohl-Ökonomie hat die richtigen Ziele, aber sie behandelt Symptome eines „kranken Systems“. Das ist schön und gut, aber hilft uns leider nicht aus der Misere. Wollen wir tatsächlich auf den Klimawandel reagieren, dann reicht es nicht, den Markt „aufzuhübschen“, wir müssen ihn aufheben. Und eine Gesellschaft an seine Stelle setzen, in welcher wir gemeinsam entscheiden können, was wir wirklich brauchen und wie wir diese Produkte so herstellen können, dass unsere Zukunft nicht mehr das Antlitz einer Katastrophe, sondern ein Antlitz von Menschlichkeit trägt.

Menschen brauchen zur Orientierung klare Signale. Der Erfolg der Marktwirtschaft beruht darauf, dass das Signal „Preis“ Entscheidungen einfach macht. Wenn die Signale inflationär zunehmen, überfordert das die Menschen nicht völlig? Trifft dann nicht besser eine Künstliche Intelligenz die Entscheidungen?

Das ist eine komplexe, aber spannende Frage. Sie spielt auf eines meiner Lieblingsthemen an: Vermittlung. Menschen entscheiden nicht nur auf Basis offensichtlicher Signale. Uns Menschen unterscheidet von Tieren, dass wir unsere Lebensbedingungen gesellschaftlich herstellen und erhalten. Unsere Lebensbedingungen schweben nicht einfach abstrakt über uns, sondern sie wirken durch konkrete materielle, soziale und symbolische Mittel: Sprache, Häuser, Formen von Arbeitsorganisation etc. Gesellschaft ist zentral eine vermittelte Koordination. Diese Mittel schaffen nun Bedingungen und geben Informationen, ohne dass wir dies groß merken. Romantische Filme schaffen Ziele, Häuser warme Zimmer, Schulen Lerndisziplin, Fließbänder Kontrollmöglichkeiten, Smartphones Echtzeit-Kommunikationsbedürfnisse und Sexismus teilt die Menschheit in männlich und weiblich. In all diesen Mitteln steckt die Gesellschaft und legt uns In- oder Exklusion, Verantwortung oder Ignoranz, Miteinander oder Gegeneinander nahe. Die Mittel tragen die gesellschaftliche Logik in unsere intimsten körperlichen Regungen, sie machen uns zu Menschen unserer Gesellschaft. Der Kapitalismus kommuniziert mit uns also nicht nur durch Preissignale, sondern auch durch all die symbolischen, sozialen und materiellen Mittel, die uns umgeben, sogar durch die Menschen selbst. Es gibt also heute schon eine Myriade von Signalen, die uns umgeben und uns Möglichkeiten eröffnen oder verweigern. Nun zum Preis als ein wichtiges Hinweismittel: Preis macht Entscheidungen nicht nur einfach, sondern sogar zu einfach. Eine Gesellschaft ist heute eine Kooperation von Milliarden von Menschen, alle mit unterschiedlichen Bedürfnissen, und somit gibt es notwendig Konflikte. Markt ist die dominante Form, um diese Konflikte zu lösen. Doch die Preishinweise des Marktes lassen nur reduzierte Entscheidungen zu – Wie kann ich Kosten sparen? Wo mache ich mehr Profit? –, die uns erlauben, die Logik der Exklusion möglichst effizient zu vollziehen. Wollen wir menschliche Bedürfnisse in ihrer Komplexität koordinieren, brauchen wir komplexere Signale – diese müssen so aufbereitet und zur Verfügung gestellt sein, dass sie menschliche Entscheidungen zwar komplex machen, die Menschen aber nicht überfordern. Hierbei könnten Künstliche Intelligenzen sicher helfen. Sie können jedoch nicht Entscheidungen treffen oder Konflikte für uns lösen. Dies verlangt ein Eintauchen in unsere eigenen und die Bedürfnisse anderer, und diese Kommunikation, Aushandlung und das Verständnis werden wohl auf absehbare Zeit eine menschliche Qualität bleiben. Und nicht nur diese offensichtlichen Hinweise erlauben uns Inklusion. Die Mittel legen uns Inklusion nahe. Commonistische Häuser unterstützen gemeinsames Leben, commonistische Technik ökologische Produktion, commonistische Arbeitsorganisation gegenseitige Unterstützung, commonistische Kooperation gemeinsame Problemlösung und Entscheidungsfindung. Diese Mittel produzieren und nutzen wir tagtäglich, sie unterstützen Inklusion und mit ihnen produzieren wir Inklusion.

Eine bessere Gesellschaft ist nicht jedermanns Sache. Die Beharrung im Gewohnten und die Angst vor Neuem sind weit verbreitet. Wie lässt sich dies überwinden? Wie kommen die Dinge in Bewegung?

Auf der einen Seite garantiert die gegenwärtige Praxis der Ausbeutung von Mensch und Umwelt für immer weniger Menschen Sicherheit und Glück. Die große Kluft zwischen den Versprechungen und den tatsächlichen Entwicklungen tritt immer deutlicher zutage und zerstört das Vertrauen ins System. Aber es fehlt die Alternative. Was haben wir den Menschen „anzubieten“? Was für eine Gesellschaft wünschen wir uns selbst? Viele Menschen haben Angst vor der Utopie, weil sie nicht abhängig sein wollen von dem ethischen Verhalten, der moralischen Integrität oder der Nettigkeit anderer. Und das mit Recht. Wenn es anderen nahegelegt ist, sich auf Kosten meiner durchzusetzen, kann ich zwar hoffen, dass sie zu mir nett sind, aber spätestens wenn sie selbst unter Druck geraten, werden sie mich exkludieren. In der commonistischen Inklusionsgesellschaft ist es anders. Wir müssen nicht auf den „guten“ oder „neuen“ Menschen warten. Kollektive Verfügung und Freiwilligkeit schaffen Bedingungen, unter denen die anderen ihre Bedürfnisse besser befriedigen können, wenn sie die meinen einbeziehen. Die Commons basieren nicht auf einem positiven Menschenbild, sie schaffen Bedingungen, in denen Menschen gut sein können.

Herr Sutterlütti, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Buchtipp

Simon Sutterlütti, Stefan Meretz
Kapitalismus aufheben
Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken
VSA, Juni 2018
256 Seiten, 16.80 Euro
978-389965-831-6
PDF kostenfrei downloadbar: https://commonism.us


Onlinetipps

keimform.de
Auf der Suche nach dem Neuen im Alten
www.keimform.de

Commons-Institut
Commons entstehen durch Commoning
www.commons-institut.org