Die Eurozone symbolisiert das neoliberale Paradies eines autoritären Liberalismus. – Foto: Lupo/pixelio.de

Wirtschaft & Soziales

Neoliberalismus: Ist die EU Schutzwall oder Einfallstor?

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Die Gründung der EU im Jahr 1993 bildete für einige zeitgenössische Beobachter den vorläufigen Höhepunkt einer neoliberalen wirtschaftlichen Integration Europas. Die ursprüngliche Idee eines vereinten und friedlichen Europas hatte noch nicht viel mit den Idealen des Neoliberalismus gemein, doch seit den 1980er-Jahren änderte sich das.

Beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1952 und der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben riefen, wurde der Grundstein für eine engere Kooperation und ein friedliches Miteinander der kriegsgebeutelten Völker Europas gelegt.

Zwar folgte bereits die Gründung der EWG dem Prinzip der negativen Integration – also dem Beseitigen von Handelsbarrieren –, doch das qualitative Ausmaß der Regelungen war moderat. Bis 1968 wurden die internen Zölle und Exportquoten zwischen den Mitgliedsstaaten beseitigt und eine einheitliche Zollpolitik gegenüber Drittländern etabliert, die nicht tarifären Handelshemmnisse (direkte protektionistische Maßnahmen) hatten jedoch weiterhin Bestand. Zudem blieb die nationale Wirtschaftspolitik weitgehend in nationalstaatlicher Hand und eine weitere Harmonisierung europäischer Regularien traf bei den einzelnen Mitgliedsstaaten auf großen Widerstand.

Auch die Kapitalmärkte standen unter strenger staatlicher Aufsicht und durch die Einbettung der EWG-Mitglieder in das Bretton-Woods-System folgte man weiterhin einer expansiven Geldpolitik, die von der Federal Reserve aus den USA vorgegeben wurde. Die Mischung aus einer Liberalisierung des Handels und kontrollierten Finanzmärkten sorgte dafür, dass der Binnenmarkt als ein Mittel zur Steigerung des Wohlstands in Europa wurde und nicht, wie im Vertrag über die Europäische Union (TEU) festgelegt, zum Selbstzweck verkam.

Nach den Turbulenzen, die dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems folgten, und dem paradigmatischen Wandel in den Politik- und Wirtschaftswissenschaften in den 1970er- und 1980er-Jahren änderte sich auch die Grundausrichtung der europäischen Integration. Mitunter wird die „Wiedergeburt des EU-Projekts“ in den 1980er-Jahren gar als „fundamentale Abkehr von den Werten und Normen der vorangegangenen Jahrzehnte“ bezeichnet.

Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) aus dem Jahr 1986, welche die Grundlage für die Schaffung des europäischen Binnenmarktes und der EU bildete, schwächte die Möglichkeiten der nationalen Vermittlung zwischen Arbeit und Kapital und unterwarf die Steuerungsmechanismen zu weiten Teilen den „Marktkräften“, die nach herrschender Lehre automatisch die beste aller möglichen Welten herbeibringen würden.

Im Vertrag von Maastricht schließlich, der im Jahr 1992 den Höhepunkt der europäischen Integration bildete, stand im Rahmen der Umstrukturierung der EU in die „Drei Säulen der Europäischen Union“ (Europäische Gemeinschaften – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) vor allem die Schaffung einer gemeinsamen Währung im Mittelpunkt.

Nach den schwierigen Erfahrungen der gescheiterten geldpolitischen Kooperation in der Währungsschlange und dem Europäischen Währungssystem (EWS) war mit der Europäischen Währungsunion (EWU) die Hoffnung verbunden, dass den jeweiligen Mitgliedsstaaten mehr geldpolitische Mitsprache geboten werden könnte. Zwar war durch die Schaffung einer „politisch unabhängigen“ Zentralbank eine strikte Trennung der Fiskal- und Geldpolitik vorgesehen – entgegen der ursprünglichen Pläne für eine Währungsunion, die im Werner Report (1970) ausgelegt wurden und ein deutlich höheres Ausmaß an fiskalpolitischer Zentralisierung beinhalteten. Da jedoch viele Mitgliedsstaaten im System des Europäischen Wechselkursverbunds und später im EWS ohnehin an die Geldpolitik der Bundesbank gebunden waren, wurde eine gemeinsame Währung in dieser Hinsicht als Fortschritt angesehen.

Auch wenn es einige Beobachter gab, die bereits früh vorhersahen, was für ein neoliberales Gefängnis der Euro werden könnte, bleibt die Vorstellung dessen, wie sich die EWU entwickelt hätte, sofern sich alle Länder an das Inflationsziel von nahe 2 % gehalten hätten, leider ein kontrafaktisches Szenario. Die bittere Realität ist, dass insbesondere in der Eurozone der Neoliberalismus sich in extremster Form verbreitet und die letzten Überreste eines sozialen Europas vollständig beseitigt hat.

Der Neoliberalismus – ein verworrenes Konzept

Wie ist der „Neoliberalismus“ zu konzipieren? Trotz der teilweise inflationären Verwendung des Begriffs haben sich einige Merkmale herausgebildet, die den Neoliberalismus von anderen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Organisationsformen unterscheiden.

Am wichtigsten ist dabei die Rolle des Staates, der die notwendigen Institutionen bereitstellen muss, um die neoliberale Vision der idealen Gesellschaft zu konstruieren. Hierin unterscheiden sich die Neoliberalen von den klassischen Liberalen, welche die beste gesellschaftliche Organisationsform in einer vollkommen „natürlich entstehenden Ordnung“ sehen. Friedrich August von Hayek kritisierte deren Ansatz zum Liberalismus bereits im ersten Kapitel seines Buchs „Der Weg zur Knechtschaft“: „Es besteht im Besonderen ein himmelweiter Unterschied zwischen der bewussten Schaffung eines Systems, in dem die freie Konkurrenz sich mit dem denkbar größten Nutzen auswirken wird, und dem passiven Sichabfinden mit den nun einmal bestehenden Einrichtungen. Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner Anhänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laisser-faire.“

Wie hingegen eine neue (entsprechend neoliberale) Form des Kapitalismus aussehen kann, verdeutlicht Milton Friedman bereits 1951: „Eine neue Ideologie (…) muss die Möglichkeiten staatlicher Eingriffe in die Aktivitäten eines Individuums effizient und wirksam limitieren. Gleichzeitig ist es absolut richtig, dass der Staat positive Funktionen übernehmen kann. Die Doktrin, (…) die hin und wieder als Neoliberalismus bezeichnet wurde (…), ist genauso eine Doktrin (…). Im Gegensatz zum Verständnis des 19. Jahrhunderts, dass das Laissez-faire der beste Weg ist, dieses Ziel zu erreichen, besagt der Neoliberalismus, dass der Wettbewerb den Weg vorgeben soll.“

Der Neoliberalismus geht somit weit über den liberalen Wunsch nach einem Nachtwächterstaat hinaus und verwickelt sich durch die Forderung nach einem starken Staat in einen inhärenten Widerspruch zum eigentlich propagierten Konzept der Freiheit. In der für die Öffentlichkeit bestimmten Kommunikation des Neoliberalismus wird dieser Widerspruch dadurch aufgelöst, dass (fast) ausschließlich der Aspekt der Freiheit betont wird, während die Notwendigkeit eines autoritären Staates zur Umsetzung des politischen Programms außen vor bleibt. Auf diese Weise wird die falsche Ansicht verbreitet, dass der Neoliberalismus den Staat ablehnte.

Das zweite wichtige Merkmal ist, dass jedes Problem über „den Markt“ gelöst werden soll. Leider ist das allgemeine Verständnis dessen, was ein Markt eigentlich ist, äußerst begrenzt. Und der Neoliberalismus hat trotz der fundamentalen Bedeutung „des Marktes“ in seinem Programm ebenfalls keine Antwort darauf. Einzig die Rolle, die der Markt spielen soll, ist klar: Er fungiert als Informationsprozessor, dessen Fähigkeiten die eines jeden Menschen oder einer jeden Organisation übersteigen. Da der Markt per definitionem unfehlbar ist, sollte er ohne Einschränkungen operieren können.

Daraus ergibt sich drittens, dass den Neoliberalismus eine Skepsis gegenüber der Demokratie auszeichnet. Wie Hayek erläutert, sind „Liberalismus und Demokratie zwar kompatibel, jedoch nicht ein und dasselbe. Ersteres bezieht sich auf das Ausmaß staatlicher Macht, Letzteres darauf, in wessen Händen die Macht sich befindet. (…) Prinzipiell ist es somit zumindest möglich, dass ein demokratisches Regime totalitär sein kann und ein totalitäres Regime auf Basis liberaler Grundsätze handelt.“

Da „die Freiheit“ über allem steht, muss somit sichergestellt werden, dass demokratische Einflussnahme auf den Markt unmöglich gemacht wird. Dies kann auf institutionellem Wege geschehen, indem öffentliche Leistungen zum Beispiel durch Privatisierungen der Marktlogik unterworfen werden. Doch Reformen zur Garantie individueller Freiheit können auch deutlich weitreichender sein, wenn es die Umstände erfordern. Die Unterstützung für Pinochets Terrorregime in Chile in den 1970er- und 1980er-Jahren liefert die beste historische Evidenz, mit welcher Brutalität der Neoliberalismus eine bestimmte Form der Freiheit zu verteidigen bereit ist.

Viertens hat der Neoliberalismus eine zutiefst soziologische Dimension, da sich die propagierte Denkweise durch die gesamte Gesellschaft zieht. Selbstausbeutung wird im Überlebenskampf der neuen, sozialdarwinistischen Gesellschaft zu einer Norm, der es sich anzupassen gilt. Die Parameter für die Beurteilung der Löhne und Arbeitsbedingungen werden einer neoliberalen Vorstellung von Wettbewerb und Freiheit (der Unternehmen) untergeordnet – ohne dass diese Entwicklungen in der Gesellschaft auf Empörung stoßen.

Der neoliberale Ursprung der Europäischen Union

Die oben genannten Merkmale verdeutlichen bereits, dass es sich beim Neoliberalismus um ein politisches Programm handelt. Es bedarf somit Agency, also das bewusste Handeln wirtschaftspolitischer Spieler, welche die Struktur für ihr Programm erschaffen. Im weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus spielte die Mont Pèlerin Society (MPS) eine entscheidende Rolle. Doch wie sah es im Falle der EU aus, deren wettbewerbsrechtliche Grundlagen zweifellos neoliberale Züge tragen?

Es gibt zwei dominante theoretische Strömungen, welche die fortschreitende wirtschaftliche und politische Integration Europas erklären. Die erste Theorie beruht auf dem maßgeblich von Andrew Moravcsik beeinflussten liberalen Intergouvernementalismus, der die Integration als einen von den Nationalstaaten gewünschten und geförderten Prozess ansieht. Entsprechend schlugen sich die neoliberalen Präferenzen individueller Staaten letztendlich in den europäischen Verträgen nieder. In diesem Ansatz spielt Agency somit eine ganz zentrale Rolle.

Dementgegen stellt der Neofunktionalismus die These auf, dass die Integration in einem Bereich (zum Beispiel Handel) zu sogenannten Spillover-Effekten führte, was den Druck auf die Integration in anderen Bereichen (etwa Währungen) erhöhte. Die Gründung der EU und EWU sind dieser Ansicht zufolge ein Resultat der Integrationsprozesse, die in den frühen 1950er-Jahren begannen. Die vorherrschende Struktur wird somit auf fast schon deterministische Weise zur Antriebskraft der Integration.

Was beiden Ansätzen entgeht, sind politische Machtverhältnisse und die Rolle ideologischer Paradigmen in der institutionellen Ausgestaltung der EU. Dabei haben sich Erstere seit den 1980er-Jahren kontinuierlich zugunsten der Arbeitgeber verschoben, während Letzteres uns in Erinnerung rufen sollte, dass der Vertrag von Maastricht im „End of History“-Zeitgeist eingebettet war. Vor allem durch seine Forschungsarbeiten zum European Round Table of Industrialists (ERT), einem Zusammenschluss von derzeit 50 CEOs der größten Konzerne, adressiert Bastiaan van Apeldoorn diese Lücken in der Literatur und liefert wertvolle Einblicke in die Organisation des transnationalen Kapitals auf europäischer Ebene.

Der ERT agiert in diesem System viel einflussreicher als eine reine Lobbyorganisation oder Interessensverbände. Durch die Größe der Firmen und deren Gewicht in den jeweiligen Volkswirtschaften pflegen die Vertreter einen engen Draht zu den führenden nationalen Politikern. Dies ist vor allem von Bedeutung, da der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Länder zusammensetzt, der zentrale Agenda-Setter in der Europäischen Union ist. Zudem zeichnet sich der ERT durch sehr enge Verbindungen zur Europäischen Kommission aus, welche wiederum mit der Formulierung und Überwachung der Einhaltung des europäischen Regelwerks betraut ist. Diese Verbindungen machen den ERT zu einer einflussreichen politischen Plattform für eine „transnationale kapitalistische Klasse“ in Brüssel.

Obwohl es Pläne zur Vollendung des Binnenmarktes auf europäischer Ebene schon länger gab, war es der ERT, der während der „Eurosklerose“ der frühen 1980er-Jahre den Vertiefungsprozess wieder in Gang setzte, da die Industrie befürchtete, im Wettbewerb mit amerikanischen und japanischen Konzernen den Anschluss zu verlieren. Pehr Gyllenhammar, damals CEO von Volvo, und Étienne Davignon, ein ranghoher Kommissionsbeamter, waren dabei die zentralen Figuren. Ab 1983 begann der ERT systematisch Vorschläge zur „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Firmen“ zu gestalten und bediente sich vornehmlich der aufstrebenden neoliberalen und neo-merkantilen Rezeptur. Die Grundlage bildete das Mitte der 1980er-Jahre präsentierte Programm „Europa 1992“ zur Schaffung eines European Community Home Markets, was einen starken Einfluss auf die Kommission ausübte.

Laut Peter Sutherland, zur dieser Zeit Kommissar für Wettbewerb, ging dieser Einfluss sogar so weit, dass man sagen könne, die Vollendung des Binnenmarktes „wurde nicht von den Regierungen, sondern vom Round Table und seinen Mitgliedern initiiert“. Und in den „Schritten zur praktischen Implementierung der Liberalisierung“ spielte der ERT „eine ziemlich konsistente Rolle im Dialog mit der Kommission“. Auffällig ist ebenso, dass der ERT-Report Reshaping Europe vom September 1991 seine Blaupause für die Europäische Ordnung nach 1989 präsentierte und darin eine Vertiefung der europäischen Integration forderte, bei der die Schaffung einer gemeinsamen Währung als wichtigster nächster Schritt anzusehen sei – auch wenn sich bei dem letzten Punkt nicht alle Mitglieder einig waren.

Auch wenn der Einfluss des ERT auf die inhaltliche Neuausrichtung der EU unumstritten ist, sollte jedoch auf dessen Grenzen verwiesen werden. Pläne zur Schaffung einer Währungsunion existierten bereits seit 1970. Zudem waren die Turbulenzen auf den Devisenmärkten in den 1970er- und 1980er-Jahren und die Krise des EWS 1992/1993 für viele Beobachter starke Indikatoren dafür, dass geldpolitische Stabilität nur gewährleistet werden konnte, wenn Wechselkurse entweder gänzlich den Marktkräften überlassen oder irreversibel fixiert wurden. Die Präferenz des ERT in dieser Hinsicht war somit nur eine, wenn auch bedeutsame Stimme, die sich für eine Währungsunion aussprach. Vom Prozess der Verhandlungen des Vertrags von Maastricht wurde der ERT selbst dann weitgehend ausgeschlossen.

Als bedeutendstes Zeichen für die Grenzen des Einflusses des ERT ist wohl das Sozialkapitel im Vertrag von Maastricht zu sehen, welches die Kompetenzen für europäische Sozialpolitik bestimmte. Jacques Delors, Kommissionspräsident zu dieser Zeit, war einer der letzten Fürsprecher eines (moderaten) sozialdemokratischen Schutzwalls gegen den Neoliberalismus. Allerdings wurde seine Vision eines sozialen Europas von Anfang an verwässert, sowohl auf europäischer als auch nationalstaatlicher Ebene. Lobbyverbände, Arbeitgeber und Ökonomen forderten eine Erosion der sozialen Standards, da diese im neoliberalen Weltbild falsche Anreize setzten und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft schwächten.

Hier spielte der ERT wieder eine gewichtige Rolle, unter anderem durch die Einflussnahme bei der Erstellung wichtiger strategischer Papiere der Kommission, wie dem Whitepaper 1993 „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“, oder durch direkte Behinderungen bei der Umsetzung sozialer Direktiven. Delors selbst gab den starken Einfluss der Industrie unumwunden zu. Die neoliberale Vorstellung von Wettbewerbsfähigkeit wurde in der Folgezeit zur alles dominierenden Doktrin – doch nichts, was im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt in der EU auf den Weg gebracht wurde, trieb den Neoliberalismus so tief in das europäische Herz hinein wie die Schaffung der Eurozone.

Neoliberalismus in der EU und EWU

Insgesamt zeigt sich, dass (1) die Wurzeln der EU, die in die 1950er-Jahre zurückreichen, wenig mit dem Neoliberalismus gemein haben, (2) der Maastricht-Vertrag trotz seiner neoliberalen Handschrift auch anti-neoliberale Elemente enthielt und (3) zwischen der Eurozone und der EU unterschieden werden muss.

Auch wenn die soziale Komponente seit 1992 eine starke Erosion erlebte und der Privatisierungsdruck in der EU erheblich ist, so ist es nicht von der Hand zu weisen, dass (selbst geringe) Mindeststandards zum Arbeiternehmerschutz, Struktur- und Kohäsionsfonds, Regulierungen zum Umweltschutz, die Stärkung des europäischen Parlaments durch den Vertrag von Lissabon (2009) oder die Strafzahlungen gegen Konzerne in höchstem Maße der neoliberalen Doktrin widersprechen. Selbst die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird in der Literatur nicht als neoliberale Forderung gesehen, obwohl es den Unternehmen entgegenkommt, wenn eine größere Reservearmee bereitsteht.

Im neoliberalen Weltbild soll Freizügigkeit allerdings ausschließlich auf das Kapital beschränkt werden – und Arbeitnehmer können sich, wenn überhaupt, die Arbeitserlaubnis in einem fremden Land gegen Bezahlung sichern. Ferner zeigt sich, dass einige der Staaten, die zu den progressivsten der Welt gehören, nämlich die skandinavischen Länder, zum Großteil innerhalb der EU sind. Nein, die extremste Form der neoliberalen Disziplinierung findet durch die Institutionen der Eurozone statt. Bereits die Beitrittsbedingungen in Form der Konvergenzkriterien und des Stabilitäts- und Wachstumspakts üben höchsten Druck auf die Sozialausgaben aus und erinnern stark an die Spielregeln des Goldstandards, die eine wirtschaftliche Erholung nach einer Krise unmöglich machten.

Die Lehren aus dem Zusammenbruch des Goldstandards wurden in Europa übergangen. Der ohnehin starke deflationäre Druck wurde seit Beginn der Eurokrise 2010 durch autoritäre und undemokratische Maßnahmen weiter verschärft. Das europäische Semester, Six-Pack und Two-Pack gaben der Kommission weitgehende Befugnisse, in die Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten einzugreifen, während der Fiskalpakt sogar die Möglichkeit bietet, Länder, die keine Schuldenbremse in ihre nationale Gesetzgebung eingefügt haben, vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) für „zu hohe“ Schuldenstände bzw. unzureichende Maßnahmen zu deren Reduzierung zu verklagen.

In den Fällen, wo die Politik es trotzdem wagt, sich zu widersetzen, hat die Berlin-Frankfurt-Brüssel-Achse, die die Euro-Politik dominiert, mit der Europäischen Zentralbank (EZB) eine weitere wirksame Waffe, um demokratische Entscheidungen der Mitgliedsländer zunichtezumachen. Die Eurozone symbolisiert somit das neoliberale Paradies eines autoritären Liberalismus, wie es sich der Politikwissenschaftler Carl Schmitt 1932, also kurz vor Hitlers Machtergreifung, ausmalte. Der autoritäre Staat sollte Schmitt zufolge ein starker und schwacher Staat zugleich sein: stark in seiner institutionellen Kapazität, jeglichen demokratischen Einfluss auf den Markt zu unterdrücken, und schwach in seinen Möglichkeiten, die Marktergebnisse etwa durch Umverteilung oder Industriepolitik zu beeinflussen. Von diesem autoritären Staat grenzte Schmitt, der sich ab 1933 bei der NSDAP engagierte, den „totalen Staat“ ab, der durch demokratische Mitbestimmung direkt in den Markt eingreifen konnte und somit ein schwacher Staat war.

Das Euro-Regime verdeutlicht wie kaum ein anderes System, welche Widersprüche der Neoliberalismus in sich trägt. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sämtliche Institutionen und Regeln von Politikern geschaffen wurden – und somit auch jederzeit geändert werden können. In diesem Sinne ist EUropa weder ein Schutzwall noch ein Einfallstor für die neoliberale Globalisierung, sondern ein bedeutsamer Akteur in dessen Gestaltung.

Dieser Artikel erschien erstmals am 18.10.2018 in der Ausgabe „Ach, Europa!“ des neuen Printmagazins „Makroskop“. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber darf er in der ÖkologiePolitik zweitveröffentlicht werden. Er wurde hierfür geringfügig überarbeitet und gekürzt.


Lesetipp

Heiner Flassbeck, Paul Steinhardt (Hrsg.)
Makroskop
Magazin für Wirtschaftspolitik
Ach, Europa!
Warum die Friedensnobelpreisträgerin in der Krise steckt
Makroskop Mediengesellschaft, Oktober 2018
112 Seiten, 12.00 Euro
978-3-947056-06-4
https://makroskop.eu/2018/10/makroskop-jetzt-am-kiosk/